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Wladimir I. Lenin 19180223 Krieg oder Frieden?

Wladimir I. Lenin: Krieg oder Frieden?

[Abgefasst am Morgen des 23. Februar 1918 Abendausgabe der „Prawda" Nr. 34 23. Februar 1918 Gezeichnet: Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 22, Zürich 1934, S. 295 f.]

Die Antwort der Deutschen1 stellt uns, wie die Leser sehen, noch schwerere Friedensbedingungen als in Brest-Litowsk. Und nichtsdestoweniger bin ich absolut überzeugt davon, dass nur die völlige Berauschung an revolutionären Phrasen imstande ist, irgend jemand zur Ablehnung dieser Bedingungen zu treiben. Gerade deshalb habe ich in der „Prawda" (unter dem Namen Karpow) mit den Artikeln „Über die revolutionäre Phrase" und „Über die Krätze" einen rücksichtslosen Kampf gegen die revolutionäre Phrase aufgenommen, denn ich sehe in ihr jetzt die größte Gefahr für unsere Partei (also auch für die Revolution). Revolutionäre Parteien, die revolutionäre Losungen streng durchführen, sind in der Geschichte schon sehr oft an der revolutionären Phrase erkrankt und deswegen untergegangen.

Bisher habe ich die Partei zu bewegen versucht, den Kampf gegen die revolutionäre Phrase aufzunehmen. Jetzt muss ich das vor aller Öffentlichkeit tun, denn die schlimmsten meiner Erwartungen haben sich bestätigt.

Am 21. (8.) Januar 1918 habe ich in einer Sitzung von ungefähr 60 der angesehensten Parteifunktionäre Petrograds meine Thesen über die Frage des sofortigen Abschlusses eines annexionistischen Separatfriedens" (17 Thesen, die morgen veröffentlicht werden) verlesen. In diesen Thesen (§ 13) habe ich der revolutionären Phrase bereits den Krieg erklärt, und zwar in einer sehr milden, kameradschaftlichen Form (ich verurteile jetzt aufs Tiefste diese Milde). Ich sagte, dass die Politik der Ablehnung des angebotenen Friedens „vielleicht dem Drang eines Menschen nach dem Schönen, Effektvollen, Blendenden entspricht, aber absolut nicht das objektive Kräfteverhältnis der Klassen und der materiellen Faktoren im gegenwärtigen Augenblick der begonnenen sozialistischen Revolution berücksichtigt."

In der These 17 schrieb ich: wenn wir es ablehnen, den angebotenen Frieden zu unterzeichnen, so werden „schwerste Niederlagen Russland zwingen, einen noch ungünstigeren Separatfrieden zu schließen".

Es ist noch schlimmer gekommen, denn unsere Armee, die sich zurückzieht und demobilisiert, weigert sich überhaupt zu kämpfen.

Nur die schrankenlose Phrase kann Russland unter solchen Verhältnissen im gegenwärtigen Augenblick zum Krieg treiben, und ich persönlich würde selbstverständlich keinen Augenblick weder in der Regierung noch im ZK unserer Partei bleiben, wenn die Politik der Phrase die Oberhand erlangte.

Jetzt hat sich die bittere Wahrheit mit so entsetzlicher Klarheit offenbart, dass man nicht umhin kann, sie zu sehen. Die gesamte Bourgeoisie in Russland frohlockt und triumphiert über den Vormarsch der Deutschen. Nur Blinde oder von Phrasen Berauschte können die Augen davor schließen, dass die Politik des revolutionären Krieges (ohne Armee …) Wasser auf die Mühle unserer Bourgeoisie ist. In Dünaburg laufen die russischen Offiziere bereits mit Achselklappen herum.

In Reschiza hat die Bourgeoisie die Deutschen mit Begeisterung begrüßt. In Petrograd auf dem Newski Prospekt und in den bürgerlichen Zeitungen („Rjetsch", „Djelo Naroda", „Nowyj Lutsch"2 usw.) ist man entzückt über den bevorstehenden Sturz der Sowjetmacht durch die Deutschen.

Jeder muss wissen: wer gegen einen sofortigen, wenn auch noch so schweren Frieden ist, richtet die Sowjetmacht zugrunde.

Wir sind gezwungen, diesen schweren Frieden durchzumachen. Er wird die Revolution in Deutschland, in Europa nicht aufhalten. Wir werden daran gehen, eine revolutionäre Armee aufzubauen, nicht mit Phrasen und lautem Geschrei (wk diejenigen, die seit dem 20. [7.] Januar nichts getan haben, um wenigstens unsere fliehenden Truppen zurückzuhalten), sondern durch organisatorische Arbeit, durch die Tat, durch die Schaffung einer ernsten, mächtigen Volksarmee.

1 Die Antwort auf den Funkspruch der Sowjetregierung mit der Darlegung der deutschen Friedensbedingungen traf in Petrograd am 23. Februar um 10.30 Uhr morgens ein. Die Friedensbedingungen waren im Vergleich mit denen vom 10. Februar bedeutend verschlechtert. Livland und Estland sollten sofort von den Truppen der Roten Armee geräumt und von deutscher Polizei besetzt werden. Russland verpflichtete sich, mit den bürgerlichen Regierungen der Ukraine und Finnlands Frieden zu schließen usw.

2 Gemeint ist der Leitartikel „Wer ist die Ablösung?'", der am 22. Februar 1918 in der Nr. 28 des „Nowyj Lutsch" erschien.

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