Lenin‎ > ‎1918‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19180220 Die revolutionäre Phrase

Wladimir I. Lenin: Die revolutionäre Phrase1

[„Prawda" Nr. 31, 21. Februar 1918 Gezeichnet: Karpow. Nach Sämtliche Werke, Band 22, Zürich 1934, S. 277-288]

Als ich in einer Parteiversammlung sagte, die revolutionäre Phrase vom revolutionären Krieg könne unsere Revolution zugrunde richten, machte man mir wegen der Schärfe meiner Polemik Vorwürfe. Aber es gibt Momente, die dazu verpflichten, eine Frage in aller Schärfe zu stellen und die Dinge beim richtigen Namen zu nennen, weil sonst sowohl der Partei als auch der Revolution nicht wiedergutzumachender Schaden zugefügt werden kann.

Die revolutionäre Phrase tritt als Krankheitserscheinung der revolutionären Parteien meistens dann auf, wenn diese Parteien direkt oder indirekt den Kontakt, die Vereinigung, Verknüpfung der proletarischen und kleinbürgerlichen Elemente herstellen und wenn der Gang der revolutionären Ereignisse große und rasche Wendungen aufweist. Die revolutionäre Phrase besteht in der Wiederholung revolutionärer Parolen ohne Berücksichtigung der objektiven Umstände in dem gegebenen Wendepunkt der Ereignisse und in der gegebenen Lage. Wunderbare, hinreißende, berauschende Parolen, die keinen realen Boden haben, – das ist das Wesen der revolutionären Phrase.

Betrachten wir nur die wichtigsten Gruppen von Argumenten für den revolutionären Krieg jetzt, im Januar-Februar 1918 in Russland. Die Gegenüberstellung der objektiven Wirklichkeit und dieser Parole wird die Antwort auf die Frage erteilen, ob die von mir gegebene Charakteristik richtig ist.

I

Von der Notwendigkeit, einen revolutionären Krieg vorzubereiten, wenn der Sozialismus in einem Lande siegt und der Kapitalismus in den Nachbarländern bestehen bleibt, ist in unserer Presse immer die Rede gewesen. Das lässt sich nicht bestreiten.

Es fragt sich: wie ist in Wirklichkeit diese Vorbereitung nach unserer Oktoberrevolution vor sich gegangen?

Diese Vorbereitung ging so vor sich, dass wir die Armee demobilisieren mussten. Wir waren gezwungen, das zu tun, durch so einleuchtende, gewichtige, unüberwindliche Umstände gezwungen, dass in der Partei nicht nur keine „Strömung" oder Stimmung gegen die Demobilisierung entstand, sondern sich überhaupt keine einzige Stimme gegen die Demobilisierung erhob. Wer über die Klassenursachen dieser originellen Erscheinung der Demobilisierung der Armee der Sozialistischen Sowjetrepublik, die den Krieg mit den benachbarten imperialistischen Staaten noch nicht beendet hat, nachdenken will, wird ohne besondere Schwierigkeiten diese Ursachen in der sozialen Struktur des kleinbäuerlichen rückständigen Landes finden, das nach drei Jahren Krieg bis zur äußersten Zerrüttung gebracht worden ist. Die Demobilisierung des Millionenheeres und der Beginn der Schaffung einer Roten Freiwilligenarmee – das sind die Tatsachen.

Stellt man diesen Tatsachen die Worte vom revolutionären Krieg im Januar-Februar 1918 gegenüber, dann wird das Wesen der revolutionären Phrase klar.

Wenn die „Verteidigung" des revolutionären Krieges durch die Petrograder oder Moskauer Organisation keine Phrase wäre, so hätten wir in der Zeit vom Oktober bis Januar andere Tatsachen gesehen: wir hätten gesehen, wie sie einen entschiedenen Kampf gegen die Demobilisierung aufnehmen. Aber von alledem keine Spur.

Wir hätten gesehen, wie die Petrograder und Moskauer Zehntausende Agitatoren und Soldaten an die Front schicken, und hätten jeden Tag von dort Nachrichten über ihren Kampf gegen die Demobilisierung, über die Erfolge dieses Kampfes, über die Einstellung der Demobilisierung erhalten.

Aber keine Spur davon.

Wir hätten Hunderte von Berichten erhalten über Regimenter, die sich zur Roten Armee formieren, gewaltsam die Demobilisierung verhindern, die Verteidigung wiederaufnehmen und ihre Stellungen gegen eine mögliche Offensive des deutschen Imperialismus befestigen.

Aber keine Spur davon. Die Demobilisierung ist in vollem Gange. Die alte Armee existiert nicht. Die neue ist erst im Entstehen.

Wer sich nicht durch Worte, Deklamationen und pathetische Ausrufe einschläfern lassen will, muss erkennen, dass die „Losung" des revolutionären Krieges im Februar 1918 eine leere Phrase ist, hinter der nichts Reales, nichts Objektives steckt. Gefühle, Wünsche, Entrüstung, Empörung – das ist der einzige Inhalt dieser Losung im gegenwärtigen Moment. Und eine Losung, die nur einen solchen Inhalt hat, ist eben eine revolutionäre Phrase.

Die Erfahrungen unserer eigenen Partei und der ganzen Sowjetmacht, die Erfahrungen der Petrograder und Moskauer Bolschewiki haben gezeigt, dass es zunächst nicht gelungen ist, über die ersten Schritte zur Schaffung einer Roten Armee aus Freiwilligen hinauszukommen. Wenn man vor dieser unangenehmen Tatsache, die aber eine Tatsache bleibt, unter die Fittiche der Deklamation flüchtet und gleichzeitig die Demobilisierung keineswegs verhindert, ja nicht einmal gegen sie protestiert, so heißt das, sich an Worten berauschen.

Eine charakteristische Bestätigung des Gesagten ist die Tatsache, dass zum Beispiel im Zentralkomitee unserer Partei die Mehrheit der hervorragendsten Gegner des Separatfriedens wohl im Januar als auch im Februar gegen den revolutionären Krieg stimmte2. Was bedeutet diese Tatsache? Sie bedeutet, dass die Unmöglichkeit eines revolutionären Krieges von allen, die keine Angst haben, der Wahrheit ins Antlitz zu sehen, anerkannt wird.

Man geht in solchen Fällen der Wahrheit aus dem Wege oder versucht es wenigstens. Sehen wir uns nun die Einwände an.

II

Der erste Einwand. Frankreich hat im Jahre 1792 an einer nicht geringeren Zerrüttung gelitten, aber der revolutionäre Krieg hat alles geheilt, alle begeistert, Enthusiasmus geweckt, alles besiegt. Nur, wer nicht an die Revolution glaubt, nur Opportunisten können sich in unserer noch tiefer greifenden Revolution gegen den revolutionären Krieg aussprechen.

Vergleichen wir nun diesen Einwand oder dieses Argument mit den Tatsachen. Es ist eine Tatsache, dass in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts zuerst die ökonomische Basis einer neuen, höheren Produktionsweise entstand und dann als ihr Ergebnis, als ihr Überbau eine mächtige revolutionäre Armee. Frankreich stürzte früher als andere Länder den Feudalismus, fegte ihn nach mehreren Jahren siegreicher Revolution hinweg und führte das Volk, das durch keinen Krieg ermüdet war, das sich Freiheit und Land erobert hatte, das durch den Sturz des Feudalismus erstarkt war, in den Krieg gegen eine Reihe ökonomisch und politisch rückständiger Völker.

Vergleichen wir damit das heutige Russland. Welche unglaubliche Kriegsmüdigkeit! Eine neue Wirtschaftsordnung, die dem organisierten Staatskapitalismus des technisch glänzend ausgerüsteten Deutschland überlegen wäre, ist noch nicht da. Sie wird erst geschaffen. Unser Bauer hat nur das Gesetz über die Sozialisierung von Grund und Boden, aber noch kein einziges Jahr freier (vom Gutsbesitzer und den Kriegsnöten freier) Arbeit hinter sich. Unser Arbeiter hat mit der Beseitigung der Kapitalisten begonnen, hat es aber noch nicht fertiggebracht, die Produktion, den Warenaustausch zu organisieren, die Versorgung mit Getreide in Gang zu bringen und die Produktivität der Arbeit zu steigern.

Wir haben diese Richtung eingeschlagen, haben diesen Weg beschritten, aber es ist klar, dass eine höhere Wirtschaftsordnung noch nicht da ist.

Der besiegte Feudalismus, die gesicherte bürgerliche Freiheit, der satte Bauer im Kampf gegen die Feudalstaaten – das war die ökonomische Basis der militärischen „Wunder" von 1792–1793.

Ein kleinbäuerliches, hungriges und durch den Krieg erschöpftes Land, das kaum erst angefangen hat, seine Wunden zu heilen, steht einer technisch und organisatorisch überlegenen Produktivität der Arbeit gegenüber – das ist die objektive Lage Anfang 1918.

Deshalb sind alle Erinnerungen an 1792 usw. nichts als revolutionäre Phrase. Man wiederholt Parolen, Worte, Kampfrufe, fürchtet sich aber vor der Analyse der objektiven Wirklichkeit.

Der zweite Einwand. Deutschland „wird nicht imstande sein, die Offensive aufzunehmen", die heranbrechende Revolution wird es ihm nicht erlauben.

Das Argument, dass die Deutschen „nicht imstande sein werden, die Offensive aufzunehmen" wurde im Januar und Anfang Februar 1918 von den Gegnern des Separatfriedens unzählige Mal wiederholt. Die Vorsichtigsten unter ihnen schätzten – natürlich annähernd – die Wahrscheinlichkeit, dass die Deutschen die Offensive nicht aufnehmen können, auf 25-33 Prozent.

Die Tatsachen haben diese Berechnungen umgestoßen. Die Gegner des Separatfriedens setzen sich auch hier sehr oft über die Tatsachen hinweg, denn sie fürchten deren eiserne Logik.

Worin bestand die Ursache des Fehlers, den wirkliche Revolutionäre (keine Gefühlsrevolutionäre) anerkennen und durchdenken müssen?

Etwa darin, dass wir überhaupt im Zusammenhang mit den Friedensverhandlungen manövrierten und agitierten?

Nein! Nicht darin. Man musste manövrieren und agitieren, aber man musste auch den „geeigneten Zeitpunkt" bestimmen: sowohl für das Manövrieren und Agitieren – solange das möglich war – als auch für die Einstellung aller Manöver in dem Moment, wo die Frage in aller Schärfe gestellt wurde.

Die Ursache des Fehlers bestand darin, dass unsere revolutionäre Zusammenarbeit mit den revolutionären deutschen Arbeitern in eine Phrase verwandelt wurde. Wir halfen den revolutionären deutschen Arbeitern und helfen ihnen, auch weiter, mit allem, wozu wir imstande sind: mit der Verbrüderung, der Agitation, der Veröffentlichung der Geheimverträge usw. Das war eine wirkliche, tatkräftige Hilfe.

Die Erklärung einiger unserer Genossen: „Die Deutschen werden nicht imstande sein, die Offensive aufzunehmen", war eine Phrase. Wir haben die Revolution eben erst bei uns erlebt. Wir wissen sehr gut, warum es in Russland leichter war, die Revolution zu beginnen als in Europa. Wir haben gesehen, dass wir die Offensive des russischen Imperialismus im Juni 1917 nicht verhindern konnten, obwohl wir bereits eine Revolution hatten, die nicht nur begonnen hatte, nicht nur die Monarchie gestürzt, sondern auch überall Sowjets geschaffen hatte. Wir sahen, wir wussten es und erklärten den Arbeitern: Kriege werden von den Regierungen geführt. Um den Krieg der Bourgeoisie zu beenden, muss man die Regierung der Bourgeoisie stürzen.

Die Erklärung: „Die Deutschen werden nicht imstande sein, die Offensive aufzunehmen", war also gleichbedeutend mit der Erklärung: „Wir wissen, dass die deutsche Regierung in den nächsten Wochen gestürzt werden wird". In Wirklichkeit aber wussten wir das nicht und konnten es auch nicht wissen, deshalb war diese Erklärung eine Phrase.

Man kann vom Heranreifen der deutschen Revolution überzeugt sein und dieses Heranreifen ernsthaft fördern, durch Arbeit, Agitation, Verbrüderung nach Kräften diesem Heranreifen dienen – mit allem, aber stets mit Arbeit. Darin besteht der revolutionäre proletarische Internationalismus.

Etwas ganz anderes aber ist es, direkt oder indirekt, offen oder versteckt zu erklären, dass die deutsche Revolution bereits herangereift sei (obwohl das keineswegs der Fall ist), und seine Taktik darauf aufzubauen. Darin ist keine Spur von revolutionärem Geist zu finden, das ist nur Phrasengeklingel.

Das ist die Quelle des Fehlers, der in der „stolzen, blendenden, effektvollen, lauten" Versicherung liegt: „Die Deutschen werden nicht imstande sein, die Offensive aufzunehmen".

IV

Nichts anderes als eine Variante desselben phrasenhaften Unsinns ist die Behauptung: „Wir helfen der deutschen Revolution, indem wir uns gegen den deutschen Imperialismus zur Wehr setzen, wir beschleunigen damit den Sieg Liebknechts über Wilhelm".

Gewiss, der Sieg Liebknechts, der möglich und unvermeidlich sein wird, sobald die deutsche Revolution heranreift, wird uns von allen internationalen Schwierigkeiten und auch von einem revolutionären Kriege befreien. Der Sieg Liebknechts wird uns von den Folgen jeder unserer Dummheiten befreien. Ist das aber eine Rechtfertigung der Dummheit?

Hilft jeder „Widerstand" gegen den deutschen Imperialismus der deutschen Revolution? Wer ein wenig nachdenkt oder sich auch nur die Geschichte der revolutionären Bewegung in Russland ein wenig ins Gedächtnis ruft, wird ohne jede Schwierigkeit erkennen, dass nur ein zweckmäßiger Widerstand gegen die Reaktion für die Revolution von Nutzen ist. Wir haben in einem halben Jahrhundert revolutionärer Bewegung in Russland eine Menge Beispiele unzweckmäßigen Widerstandes gegen die Reaktion gesehen. Wir Marxisten waren immer stolz darauf, dass wir durch eine genaue Einschätzung der Massenkräfte und der Wechselbeziehungen der Klassen die Zweckmäßigkeit dieser oder jener Kampfform bestimmten. Wir sagten: nicht immer ist ein Aufstand zweckmäßig, ohne gewisse Voraussetzungen in den Massen ist er ein Abenteuer. Wir verurteilten sehr oft als unzweckmäßig und schädlich – vom Standpunkt der Revolution – die heroischsten Formen des individuellen Widerstandes. Im Jahre 1907 haben wir auf Grund bitterer Erfahrungen den Widerstand gegen die Beteiligung an der III. Duma als unzweckmäßig abgelehnt usw. usw.

Um der deutschen Revolution zu helfen, muss man sich entweder auf Propaganda, Agitation, Verbrüderung beschränken, solange man keine Kräfte hat für einen festen, ernsten, entschiedenen Schlag in einem offenen militärischen Kampf oder Aufstand, oder man muss einen solchen Kampf aufnehmen, wenn man weiß, dass man damit dem Feinde nicht helfen wird.

Es ist für alle (mit Ausnahme derjenigen, die ganz von Phrasen berauscht sind) klar, dass es ein Abenteuer ist, einen ernsten Aufstand oder militärischen Kampf aufzunehmen, wenn man im Voraus weiß, dass man über keine Kräfte und keine Armee verfügt, ein Abenteuer, das den deutschen Arbeitern nicht hilft, sondern ihren Kampf erschwert und die Sache ihrer Feinde und unseres Feindes fördert.

V

Dazu kommt noch ein Einwand, der so kindisch, lächerlich ist, dass ich niemals an die Möglichkeit eines solchen Arguments glauben würde, wenn ich es nicht mit eigenen Ohren gehört hätte.

Auch im Oktober haben ja die Opportunisten behauptet, dass wir keine Kräfte, keine Armee, keine Maschinengewehre, keine Technik haben; das alles haben wir jedoch im Kampfe bekommen, als der Kampf von Klasse gegen Klasse begann. Das alles werden wir auch im Kampfe des russischen Proletariats gegen die Kapitalistenklasse Deutschlands bekommen, und das deutsche Proletariat wird uns zu Hilfe eilen".

Im Oktober war die Sache so, dass wir gerade die Massenkräfte genau einschätzten. Wir vermuteten nicht nur, sondern wussten bestimmt, auf Grund der Erfahrung der Massenwahlen zu den Sowjets, dass die Arbeiter und Soldaten im September und Anfang Oktober in ihrer gewaltigen Mehrheit bereits auf unsere Seite übergegangen waren. Wir wussten z. B. auf Grund der Abstimmung auf der Demokratischen Konferenz, dass die Koalition auch bei den Bauern erledigt war, das heißt, dass wir bereits gewonnenes Spiel hatten.

Die objektiven Voraussetzungen des Oktoberaufstandes waren:

1. Den Soldaten drohte nicht mehr der Stock: der Februar 1917 hatte ihn beseitigt. (Deutschland ist noch nicht einmal für „seinen" Februar reif.)

2. Die Soldaten hatten bereits ebenso wie die Arbeiter den klaren, durchdachten und gefühlsmäßigen Bruch mit der Koalition vollzogen.

Daraus, nur daraus ergab sich die Richtigkeit der Parole „Für den Aufstand!" im Oktober. (Diese Parole wäre im Juli falsch gewesen, und wir haben sie damals auch nicht aufgestellt.)

Nicht darin bestand der Fehler der Opportunisten vom Oktober, dass sie um die objektiven Voraussetzungen „besorgt" waren (nur Kinder können so denken), sondern darin, dass sie die Tatsachen falsch einschätzten, Kleinigkeiten hervorzogen und die Hauptsache nicht sahen: die Schwenkung der Sowjets von der Kompromisspolitik zu uns.

Den militärischen Kampf mit Deutschland (das weder „seinen Februar", noch seinen „Juli" erlebt hat, vom Oktober schon ganz zu schweigen), dem Deutschland der monarchistischen, bürgerlich-imperialistischen Regierung, und den Oktoberaufstand gegen die Feinde der Sowjets miteinander zu vergleichen die Sowjets entwickelten sich seit Februar 1917 immer mehr und erlangten ihre volle Reife im September und Oktober ist eine solche Kinderei, dass man nur mit Fingern darauf zeigen kann. Bis zu solchen Unsinnigkeiten treibt die Phrase die Menschen!

VI

Ein Einwand anderer Art: „Aber Deutschland wird uns durch einen Wirtschaftsvertrag beim Separatfrieden erdrosseln, wird uns die Kohle, das Getreide nehmen und uns versklaven".

Was für ein kluges Argument: man soll ohne Armee einen militärischen Kampf aufnehmen, obwohl dieser Kampf uns nicht nur ganz bestimmt die Knechtschaft, sondern auch den Untergang, den Verlust des Getreides, ohne jedes Äquivalent bringen wird, uns in die Lage Serbiens und Belgiens versetzen wird. Man soll diesen Kampf aufnehmen, sonst werden wir einen ungünstigen Vertrag schließen müssen, Deutschland wird von uns einen Tribut von 6–12 Milliarden in Raten nehmen, Getreide für Maschinen verlangen usw.

Diese Helden der revolutionären Phrase! Sie lehnen die „Versklavung" durch den Imperialismus ab und verschweigen bescheiden, dass man den Imperialismus stürzen muss, um sich von der Versklavung ganz zu befreien.

Wir sind zu einem ungünstigen Vertrag und zu einem Separatfrieden entschlossen, weil wir wissen, dass wir jetzt noch nicht auf einen revolutionären Krieg vorbereitet sind, dass man verstehen muss abzuwarten (wie wir, als wir das Joch Kerenskis, das Joch unserer Bourgeoisie von Juli bis Oktober ertrugen), bis wir erstarken werden. Wenn man einen äußerst ungünstigen Separatfrieden bekommen kann, so muss man ihn unbedingt annehmen im Interesse der sozialistischen Revolution … die noch schwach ist (denn die in Deutschland heranreifende Revolution ist uns Russen noch nicht zur Hilfe gekommen). Nur wenn es ganz unmöglich sein sollte, einen Separatfrieden zu bekommen, wird man sofort den Kampf aufnehmen müssen – nicht weil das taktisch richtig ist, sondern weil wir keine andere Wahl haben werden. In einem solchen Falle wird auch kein Streit über diese oder jene Taktik möglich sein. Es bleibt dann nur der erbittertste Widerstand. Aber solange man die Wahl hat, muss man den Separatfrieden wählen, auch einen überaus schweren Friedensvertrag, denn das ist noch hundertmal besser als die Lage Belgiens.

Wir werden mit jedem Monat stärker, obwohl wir jetzt noch schwach sind. Die internationale sozialistische Revolution in Europa reift mit jedem Monat immer mehr heran, obwohl sie jetzt noch nicht ausgereift ist. Deshalb … deshalb, argumentieren die „Revolutionäre" (dass Gott erbarm!), muss man den Kampf dann aufnehmen, wenn es offenkundig ist, dass der deutsche Imperialismus stärker ist als wir, obwohl er (infolge des langsamen, aber unaufhörlichen Heranreifens der Revolution in Deutschland) mit jedem Monat immer schwächer wird.

Wie trefflich argumentieren doch diese Gefühlsrevolutionäre, wie ausgezeichnet!

VII

Der letzte und „schärfste", gangbarste Einwand lautet: „Ein Schandfriede ist eine Schmach, ein Verrat an Lettland, Polen, Kurland und Litauen".

Braucht man sich da zu wundern, dass gerade die russischen Bourgeois (und ihr Anhang – die Herren von „Nowyi Lutsch", „Djelo Naroda", „Nowaja Schisn") dieses angeblich internationalistische Argument am eifrigsten ins Feld führen?

Nein, darüber braucht man sich nicht zu wundern, denn dieses Argument ist eine Falle, in die die Bourgeoisie die russischen Bolschewiki absichtlich hineinzieht, während ein Teil der Bolschewiki unbewusst, aus Liebe zur Phrase, in diese Falle geraten.

Prüfen wir dieses Argument vom theoretischen Standpunkt Was steht höher, das Selbstbestimmungsrecht der Nationen oder der Sozialismus?

Der Sozialismus steht höher.

Ist es erlaubt, wegen der Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen, die sozialistische Sowjetrepublik verschlingen zu lassen, sie den Schlägen des Imperialismus in einem Moment auszusetzen, wo der Imperialismus bestimmt stärker, die Sowjetrepublik bestimmt schwächer ist?

Nein. Das ist nicht erlaubt. Das ist keine sozialistische, das ist eine bürgerliche Politik.

Weiter. Wäre ein Friede unter der Bedingung der Rückgabe Polens, Litauens, Kurlands an „uns" weniger schändlich, weniger annexionistisch?

Vom Standpunkt des russischen Bourgeois – ja.

Vom Standpunkt des Sozialisten-Internationalisten – nein.

Denn der deutsche Imperialismus würde, nach der Befreiung Polens (die gerade eine Zeitlang einige Bourgeois in Deutschland wünschten), Serbien, Belgien usw. noch stärker unterjochen.

Dass die russische Bourgeoisie gegen den „Schandfrieden" zetert, ist der richtige Ausdruck ihres Klasseninteresses.

Man sehe sich die Tatsachen über die Stellung der englisch-französischen Bourgeoisie an. Sie will uns jetzt mit allen Mitteln in einen Krieg gegen Deutschland hineintreiben, verspricht uns das Blaue vom Himmel, Stiefel, Kartoffeln, Munition, Lokomotiven (auf Kredit… das ist beileibe keine „Versklavung"! Das ist „nur" Kredit!). Sie will, dass wir jetzt den Krieg gegen Deutschland aufnehmen.

Es ist verständlich, warum sie das wollen muss: weil wir erstens einen Teil der deutschen Streitkräfte ablenken würden, und zweitens, weil die Sowjetmacht durch einen verfrühten militärischen Kampf mit dem deutschen Imperialismus am ehesten zusammenbrechen könnte.

Die englisch-französische Bourgeoisie stellt uns eine Falle: meine Lieben, geht doch jetzt Krieg führen, wir werden dabei großartig profitieren. Die Deutschen werden euch ausrauben, werden im Osten „gut verdienen", eher im Westen Zugeständnisse machen, und nebenbei wird die Sowjetmacht fliegen … Führt doch Krieg, ihr lieben bolschewistischen „Bundesgenossen". Wir werden euch helfen!

Und die „linken" (dass Gott erbarm!) Bolschewiki gehen in die Falle und deklamieren die revolutionärsten Phrasen …

Ja, ja, eine der Äußerungen der Kleinbürgerlichkeit ist der Hang zur revolutionären Phrase! Das ist eine alte Wahrheit, eine alte Geschichte, die allzu oft neu bleibt …

VIII

Im Sommer 1907 machte unsere Partei ebenfalls eine in mancher Hinsicht analoge Krankheit der revolutionären Phrase durch.

Petersburg und Moskau, fast alle Bolschewiki, waren für den Boykott der III. Duma, ersetzten die objektive Analyse durch das „Gefühl", gingen in die Falle.

Die Krankheit hat sich wiederholt.

Die Zeit ist schwerer. Die Fragen sind tausendmal bedeutsamer. In einer solchen Zeit erkranken – heißt die Revolution aufs Spiel setzen.

Man muss gegen die revolutionäre Phrase kämpfen, muss unbedingt gegen sie kämpfen, damit nicht einst von uns die bittere Wahrheit erzählt werde: „Die revolutionäre Phrase vom revolutionären Krieg hat die Revolution zugrunde gerichtet".

1 Mit dem Artikel „Die revolutionäre Phase" beginnt Lenin in der Presse eine offene Agitation für den Abschluss des Friedens, die er bisher nur innerhalb der Partei getrieben hatte. Lenin analysierte in diesem Artikel die Argumente der Gegner des Friedensschlusses, der Anhänger des revolutionären Krieges im Januar/Februar 1918. Die Hauptargumente der Anhänger des revolutionären Krieges, die Lenin hier in Zitaten anführt, sind offenbar dem Material der Parteiberatung von 21. (18.) Januar 1918 entnommen, in der Lenin sich Aufzeichnungen der Äußerung der Gegner des Friedens machte.

2 Gemeint sind folgende Tatsachen. In der Sitzung des ZK der Partei vom 24. (11.) Januar stimmten bei der Einbringung des Antrags: „Sollen wir zum revolutionären Krieg aufrufen?" nur 2 Mitglieder des ZK für diesen Antrag und 11 dagegen. In der Sitzung des ZK vom 17. Februar stimmte niemand für den revolutionären Krieg. Bucharin, Joffe und Lomow enthielten sich der Stimme.

Kommentare