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Wladimir I. Lenin 19190120 Referat auf dem II. Allrussischen Gewerkschaftskongress

Wladimir I. Lenin: Referat auf dem

II. Allrussischen Gewerkschaftskongress

20. Januar 1919

[Veröffentlicht 1921 in dem Buch: „II. Allrussischer Gewerkschaftskongress. Stenographischer Bericht." Moskau. Staatsverlag. Nach Sämtliche Werke, Band 23, Moskau 1940, S. 620-638]

Genossen, zunächst muss ich mich entschuldigen, dass ich mich infolge einer kleinen Unpässlichkeit heute auf eine nur kurze Stellungnahme zu der Frage beschränken muss, die augenblicklich vor euch aufgeworfen worden ist. Es ist das die Frage nach den Aufgaben der Gewerkschaften.

Die euch vorgelegte Resolution wird dem Gewerkschaftskongress vorgeschlagen im Namen der kommunistischen Fraktion, wo sie einer allseitigen Erörterung unterzogen worden ist. Da die Resolution jetzt gedruckt vorliegt, nehme ich an, dass alle Anwesenden mit ihr bekannt sind, und ich gestatte mir daher, nur bei den beiden Hauptpunkten zu verweilen, die meiner Ansicht nach die wesentlichsten Punkte sind, die, allgemein gesprochen, in dieser Resolution berührt werden.

Mir scheint, den ersten dieser Punkte, dessen Charakter sozusagen negativ ist, bildet die Erklärung, in der über die Flagge der Einheit oder Unabhängigkeit der Gewerkschaftsbewegung gesprochen wird, über jene Flagge, von der Punkt 3 der Resolution sagt, dass sie die Gruppen, die sich an diese Losung hielten, praktisch zum offenen Kampf gegen die Sowjetmacht geführt hat, und dass dieser Versuch sie, d. h. diese Gruppen, außerhalb der Reihen der Arbeiterklasse gestellt hat.

Mir scheint, Genossen, dass diese berühmte Losung der Unabhängigkeit nicht allein vom gewerkschaftlichen Standpunkt Aufmerksamkeit verdient. Ich denke, dass der ganze Kampf, der jetzt die Welt erfüllt, und der sich klar erkennbar mit unerhörter Schnelligkeit auf die Frage zuspitzt, Diktatur des Proletariats oder Diktatur der Bourgeoisie, ich denke, dass dieser ganze Kampf nur dann richtig verstanden und eingeschätzt werden kann, dass er nur dann der Arbeiterklasse, ihren klassenbewussten Vertretern, die Möglichkeit geben kann, sich an ihm in richtiger Weise zu beteiligen, wenn man begreift, welchen Selbstbetrug der einen und welchen Betrug der anderen die Losung der Unabhängigkeit darstellt. Vor allem möchte ich, wenn auch nur kurz, aufzeigen, wie unrichtig diese Losung theoretisch ist, wie wenig sie in theoretischer Hinsicht auch nur der geringsten Kritik standhält.

Genossen, das letzte Ereignis in Deutschland, die viehische verräterische Ermordung Liebknechts und Luxemburgs ist nicht nur das allerdramatischste und allertragischste Ereignis in der beginnenden deutschen Revolution – es wirft außerdem ein außergewöhnlich grelles Licht darauf, wie die Fragen des gegenwärtigen Kampfes innerhalb der heutigen den verschiedenen politischen Ansichten entsprechenden Strömungen und innerhalb der theoretischen Konzeptionen gestellt sind. Gerade aus Deutschland hörten wir die meisten Reden, sei es beispielsweise über die vielgepriesene Demokratie, über die Losungen der Demokratie schlechthin, sowie auch über die Losung der Unabhängigkeit der Arbeiterklasse von der Staatsmacht. Diese Losungen, die vielleicht auf den ersten Blick als nicht miteinander verbunden erscheinen, sind in Wirklichkeit eng miteinander verbunden. Sie sind eng miteinander verbunden, weil sie zeigen, wie stark noch bis auf den heutigen Tag trotz der gewaltigen Erfahrung des proletarischen Klassenkampfes die kleinbürgerlichen Vorurteile sind, wie bis auf den heutigen Tag der Klassenkampf sehr oft, nach einem deutschen Ausdruck, nur ein „Lippenbekenntnis" ist, ohne dass er wirklich in Kopf und Herz derjenigen eindringt, die von ihm sprechen. Wie kann man in der Tat – wenn wir uns auch nur des ABC der politischen Ökonomie erinnern, wie wir es uns aus dem „Kapital" von Marx angeeignet haben, jener Lehre vom Klassenkampf, auf deren Boden wir alle mit beiden Füßen stehen –, wie kann man bei der Zuspitzung des Kampfes im jetzigen Umfang und im jetzigen Ausmaß, wo klargeworden ist, dass die sozialistische Revolution in der ganzen Welt auf die Tagesordnung gesetzt worden ist, wo das praktisch aus den Vorgängen in den allerdemokratischsten Ländern klar hervorgeht, – wie kann man da von Demokratie schlechthin sprechen oder wie kann man da von Unabhängigkeit sprechen? Wer so denkt, der zeigt – vom Standpunkt der Theorie der politischen Ökonomie –, dass er keine einzige Seite aus dem „Kapital" von Marx begriffen hat, auf das jetzt die Sozialisten aller Länder ohne Ausnahme schwören.

Als sie jedoch fast an jenen Hauptkampf, zu dem das „Kapital" von Marx führte, herangekommen sind, da weichen sie, obgleich sie auf dieses Werk schwören, in Wirklichkeit jedoch vor diesem Klassenkampf zurück und bilden sich ein, es könne eine außerhalb oder über den Klassen stehende Demokratie geben, es könne die Demokratie in der modernen Gesellschaft, solange den Kapitalisten das Eigentum verbleibt, eine andere, keine bürgerliche Demokratie sein, d. h. keine durch falsche verlogene, demokratische Aushängeschilder getarnte bürgerliche Diktatur. Eben aus diesem selben Deutschland drangen vor kurzem Stimmen zu uns, dass eben dort vielleicht, ja sogar sicher die Diktatur des Proletariats den Rahmen der Demokratie nicht überschreiten werde, dass die Demokratie erhalten bleiben wird. Gerade dort traten die Leute, die darauf Anspruch erhoben, Lehrer des Marxismus zu sein, die seit 1889 bis 1914 die Ideologen der gesamten II. Internationale waren, Leute vom Schlage Kautskys, mit dem Banner der Demokratie auf, ohne zu begreifen, dass die Demokratie, solange den Kapitalisten ihr Eigentum verbleibt, lediglich eine durch und durch heuchlerische Maske für die Diktatur der Bourgeoisie ist, und dass von keiner ernsthaften Lösung des Problems der Befreiung der Arbeit vom Joche des Kapitals auch nur die Rede sein kann, wenn diese heuchlerische Maske nicht heruntergerissen wird, wenn wir die Frage nicht so stellen werden, wie sie zu stellen Marx stets lehrte, wie sie der tagtägliche Kampf des Proletariats, wie sie jeder Streik, jede Verschärfung des Gewerkschaftskampfes zu stellen gelehrt hat. Die Frage ist so zu stellen, dass jede Demokratie nur eine heuchlerische, verkappte, bürgerliche Diktatur sein wird, solange den Kapitalisten das Eigentum verbleibt. Jedes Gerede von allgemeiner Abstimmung, vom allgemeinen Volkswillen, von der Gleichheit der Abstimmenden, wird ein einziger Betrug sein, denn es kann keine Gleichheit geben zwischen dem Ausbeuter und dem Ausgebeuteten, zwischen dem Besitzer von Kapital und Eigentum und dem modernen Lohnsklaven.

Gewiss ist die bürgerliche Demokratie historisch ein gewaltiger Fortschritt im Vergleich zu dem Zarismus, der Selbstherrschaft, der Monarchie und all den Überresten des Feudalismus, Gewiss, wir werden sie ausnutzen müssen, und dann stellen wir die Frage so: wir sind verpflichtet, die Formen der bürgerlichen Demokratie auszunutzen, solange der Kampf der Arbeiterklasse um die ganze Macht nicht auf der Tagesordnung steht. Die Sache ist aber die, dass wir gerade zu diesem entscheidenden Moment des Kampfes im internationalen Maßstabe gekommen sind. Gerade jetzt ist die Frage so gestellt: werden die Kapitalisten die Macht über die Produktionsmittel und, vor allem, das Privateigentum an den Produktionsinstrumenten behaupten? Und das bedeutet, dass sie neue Kriege vorbereiten. Der imperialistische Krieg hat uns mit aller Offensichtlichkeit gezeigt, wie das kapitalistische Privateigentum mit diesem Völkergemetzel in Zusammenhang steht und unaufhaltsam und unausweichlich dazu geführt hat. Dann aber erweist sich anschaulich für alle, dass das ganze Gerede von der Demokratie als Ausdruck des allgemeinen Volkswillens ein Betrug ist, es stellt sich lediglich als ein Privileg der Kapitalisten und der Reichen heraus, sowohl durch ihre im Privatbesitz verbleibende Presse, als auch durch alle anderen Mittel der politischen Einwirkung, die rückständigsten Schichten der Werktätigen zu verdummen.

Die Frage steht so und nur so. Entweder Diktatur der Bourgeoisie, getarnt durch Konstituanten, durch jegliche Art von Abstimmungen, durch Demokratie und ähnlichen bürgerlichen Betrug, mit dem man Dummköpfe blendet und mit dem jetzt nur Leute auftrumpfen und paradieren können, die auf der ganzen Linie durchweg zu Renegaten des Marxismus und zu Renegaten des Sozialismus geworden sind – oder Diktatur des Proletariats, um mit eiserner Faust die Bourgeoisie niederzuhalten, die die am wenigsten klassenbewussten Elemente gegen die besten Führer des Weltproletariats hetzt; also Sieg des Proletariats zur Niederhaltung der Bourgeoisie, die jetzt um so wütender den verzweifeltsten Widerstand gegen das Proletariat organisiert, je klarer sie sieht, dass diese Frage von den Massen aufgeworfen wurde. Denn sie hat bis jetzt in den allermeisten Fällen die Unzufriedenheit und die Empörung der Arbeiter für einen vorübergehenden Ausdruck ihrer Missstimmung gehalten. Die englischen Kapitalisten zum Beispiel, diese in Sachen des politischen Betrugs der Arbeiter vielleicht erfahrensten und politisch geschultesten und organisiertesten Kapitalisten betrachten bis auf den heutigen Tag die Dinge durchweg eben so, dass der Krieg selbstverständlich zur Unzufriedenheit geführt habe, was unvermeidlich Arbeiterunruhen hervorrufe und hervorrufen müsse; dass aber das Problem jetzt darin bestände, wer denn an der Spitze des Staates stehen solle, in wessen Händen sich die Staatsmacht befinden solle und ob die Herren Kapitalisten ihr Privateigentum behalten sollen – darüber haben sie sich noch nicht ausgelassen. Aber die Ereignisse haben indessen gezeigt, dass eben dieses Problem zweifellos auf die Tagesordnung gestellt worden ist nicht nur in Russland, sondern in einer ganzen Reihe westeuropäischer Länder, und sogar nicht nur in den am Kriege beteiligt gewesenen, sondern auch in neutralen Ländern, die verhältnismäßig weniger gelitten haben, wie z. B. die Schweiz und Holland.

Die Bourgeoisie wurde vor allem im Geiste des bürgerlichen Parlamentarismus erzogen und hat auch die Massen in diesem Geiste erzogen; aber unter den Massen wuchs, das wurde offensichtlich, die Sowjetbewegung, die Bewegung für die Sowjetmacht. Die Sowjetbewegung hat aufgehört, die russische Form der proletarischen Macht zu sein, sie wurde zur Position des internationalen Proletariats in seinem Kampfe um die Macht, sie wurde der zweite Schritt in der Weltentwicklung der sozialistischen Revolution. Der erste Schritt war die Pariser Kommune, die gezeigt hat, dass die Arbeiterklasse nicht anders zum Sozialismus kommen wird als durch die Diktatur, durch die gewaltsame Unterdrückung der Ausbeuter. Das war das erste, was die Pariser Kommune zeigte, dass die Arbeiterklasse nicht zum Sozialismus kommen kann über den alten bürgerlich-demokratischen parlamentarischen Staat, sondern nur über einen Staat von neuem Typus, der sowohl den Parlamentarismus als auch das Beamtentum von oben bis unten zerschlagen wird.

Der zweite Schritt, vom Standpunkte der Weltentwicklung der sozialistischen Revolution, war die Sowjetmacht; und wenn man sie anfangs auch als eine ausschließlich russische Erscheinung betrachtete – und als solche konnte und musste man sie sogar betrachten, wenn man den Boden der Tatsachen nicht verlassen wollte , so haben jetzt die Ereignisse gezeigt, dass das nicht eine nur russische Erscheinung ist, dass das die internationale Kampfform des Proletariats ist. Die Kriege, die auf neue Art die proletarischen und halbproletarischen Massen durcheinander mischten, gaben ihnen eine neue Organisation, die augenscheinlich dem räuberischen Imperialismus diametral entgegengestellt ist, die entgegengestellt ist der Klasse der Kapitalisten mit ihren unerhörten, bis zum Kriege nie dagewesenen Profiten; die Kriege schufen überall diese neuen Kampforganisationen der Massen, Organisationen des Proletariats, um die Macht der Bourgeoisie zu stürzen.

Nicht alle haben, als die Sowjets entstanden, diese Bedeutung der Sowjets erkannt. Auch heute erkennen nicht alle diese Bedeutung. Für uns jedoch, die wir die Anfänge der Entstehung dieser Sowjets 1905 erlebt haben, die wir nach der Februarrevolution 1917 die lange Zeit des Wankens und Schwankens zwischen der Sowjetorganisation der Massen und der kleinbürgerlichen verräterischen Kompromissler-Ideologie erlebt haben, uns ist jetzt dieses Bild sonnenklar. Es liegt vor uns wie auf der flachen Hand, und vom Gesichtspunkt dieses Bildes, von dem Gesichtspunkt, wie der Kampf des Proletariats um die Macht im Staate, gegen das kapitalistische Privateigentum, sich entwickelt hat und sich mit jedem Tag immer breiter und tiefer entwickelt, gehen wir an die Lösung dieser Frage heran. Was sind von diesem Gesichtspunkte alle Hinweise auf die Demokratie und alle Phrasen über „Unabhängigkeit" und dergleichen Redereien wert, die stets auf den Abweg irgendeines klassenlosen Standpunkts geraten, der ignoriert, dass in der kapitalistischen Gesellschaft die Bourgeoisie herrscht, dass die kapitalistische Gesellschaft eben aus der Macht der Bourgeoisie in der politischen wie in der ökonomischen Sphäre erzeugt wird. Eben nur die Macht des Proletariats, aber nichts Mittleres kann in allen einigermaßen ernsten Fragen, für eine einigermaßen lange Zeit existieren.

Wer jedoch von Unabhängigkeit spricht, wer von Demokratie schlechthin spricht, der setzt, bewusst oder unbewusst, irgend etwas Mittleres, irgend etwas zwischen oder über den Klassen Stehendes voraus. Und in allen Fällen ist das Selbstbetrug, ist das Betrug, ist das Verschleierung dessen, dass, solange die Macht der Kapitalisten weiterbesteht, solange den Kapitalisten das Privateigentum an den Produktionsmitteln verbleibt, die Demokratie zwar mehr oder weniger breit, zivilisiert usw. sein mag, tatsächlich aber eine bürgerliche Diktatur bleibt, und desto klarer, desto offensichtlicher entspringt aus jedem großen Widerspruch der Bürgerkrieg.

Je näher die politischen Formen Frankreichs der Demokratie, desto schneller ergab sich dort aus einer solchen Affäre wie der Dreyfus-Affäre der Bürgerkrieg. Je breiter die Demokratie in Amerika mit seinem Proletariat, seinen Internationalisten und selbst mit seinen reinen Pazifisten, desto schneller kommt es zu Fällen von Lynchjustiz und Bürgerkriegsexplosionen: Die Bedeutung dessen ist uns jetzt um so klarer, als schon die erste Woche der bürgerlichen Freiheit, der Demokratie, in Deutschland zu den rasendsten Bürgerkriegskämpfen führte, die bei weitem heftiger, bei weitem verzweifelter sind als bei uns. Und wer über diese Ausbrüche unter dem Gesichtswinkel urteilt, ob über diese oder jene Parteien Gericht gehalten worden ist, wer von dem Standpunkt eines einfachen Mordes an Liebknecht und Luxemburg urteilt, der ist mit Blindheit geschlagen, von Feigheit des Denkens geleitet, der will nicht begreifen, dass es sich hier um Ausbrüche eines unaufhaltsamen Bürgerkrieges handelt, der unabwendbar aus all den Widersprüchen des Kapitalismus hervorbricht. Es gibt keinen Mittelweg und kann keinen geben. Alles Gerede über Unabhängigkeit, oder über Demokratie schlechthin, in welcher Sauce es auch serviert wird, ist größter Betrug, größter Verrat am Sozialismus. Und wenn die theoretische Propaganda der Bolschewiki, die jetzt die faktischen Gründer der Internationale sind, wenn die theoretische Bürgerkriegspropaganda der Bolschewiki nicht weit reichte, wenn sie durchweg vor den Schranken der Zensur, vor den militärischen Sperrmaßnahmen der imperialistischen Staaten haltmachen musste, so werden jetzt schon nicht die Propaganda, nicht die Theorie, sondern die Tatsachen des Bürgerkrieges desto wilder, je älter und von um so längerer Dauer die Demokratie der westeuropäischen Staaten ist. Diese Tatsachen werden selbst in die rückständigsten, stumpfsinnigsten Schädel eindringen. Heute kann man von den besten Leuten, die über Demokratie schlechthin, über Unabhängigkeit reden, als von Fossilien sprechen.

Nichtsdestoweniger muss in Anbetracht der schweren Kampfbedingungen, unter denen die Gewerkschaftsbewegung Russlands erst unlängst geboren wurde, wuchs und jetzt schon fast endgültig herangewachsen ist, im Vorbeigehen ein Blick zurückgeworfen werden, muss man sich des gestrigen Tages erinnern. Meiner Ansicht nach ist ein solches Rückwärtsschauen, ein solches Erinnern um so notwendiger, als die Gewerkschaftsbewegung eben als Gewerkschaftsbewegung in der Epoche der begonnenen sozialistischen Weltrevolution eine besonders jähe Wendung durchzumachen hat.

In der Gewerkschaftsbewegung haben die Ideologen der Bourgeoisie besonders eifrig versucht, im Trüben zu fischen. Sie waren bemüht, den ökonomischen Kampf, der die Grundlage der Gewerkschaftsbewegung ist, unabhängig vom politischen Kampf zu machen. Dabei haben in Wirklichkeit gerade jetzt die Gewerkschaften, als die im Klassenmaßstab breitesten Organisationen des Proletariats, zumal nach der politischen Umwälzung, durch die dem Proletariat die Macht übertragen wurde, gerade in diesem Augenblick, eine besonders große Rolle zu spielen, sie haben die zentralste Stellung in der Politik einzunehmen, sie müssen in gewissem Sinn des Wortes zum politischen Hauptorgan werden; denn alle alten Begriffe, die alten Kategorien der Politik, sind durch die politische Umwälzung, die die Macht in die Hände des Proletariats gab, über den Haufen geworfen und auf den Kopf gestellt worden. Der alte Staat, wie er aufgebaut war, und sei es die beste und demokratischste der bürgerlichen Republiken, ist nie etwas anderes gewesen, und kann nie etwas anderes sein – ich wiederhole es – als die Diktatur der Bourgeoisie, d. h. die Diktatur derjenigen, in deren Händen die Fabriken, die Produktionsinstrumente, der Grund und Boden, die Eisenbahnen, mit einem Wort, alle materiellen Mittel, alle Arbeitsinstrumente sind, ohne deren Besitz die Arbeit versklavt bleibt.

Als die politische Macht in die Hände des Proletariats übergegangen war, mussten eben darum die Gewerkschaften immer mehr als die Baumeister der Politik der Arbeiterklasse auftreten, mussten ihre Mitglieder als die Menschen auftreten, deren organisierte Klasse die frühere Ausbeuterklasse ersetzen soll, die alle alten Traditionen über den Haufen werfen muss, alle Vorurteile der alten Wissenschaft, welche durch den Mund eines ihrer Gelehrten dem Proletariat erklärte: „Treibt eure Ökonomik, aber Politik wird die Partei der bürgerlichen Elemente treiben". Diese ganze Propaganda erwies sich in den Händen der Ausbeuterklasse und ihrer Henker als ein direktes Werkzeug, um das überall zu Aufständen und Kampf übergehende Proletariat niederzuhalten.

Und hier, Genossen, haben die Gewerkschaften bei ihrer Arbeit am Staatsaufbau eine völlig neue Frage aufzurollen, – die Frage der Verstaatlichung der Gewerkschaften, wie es in der von der Fraktion der Kommunisten vorgelegten Resolution heißt. Hier sollten die Gewerkschaften vor allem über einen der tiefsten und berühmtesten Aussprüche der Begründer des modernen Kommunismus nachdenken: „Wo es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisationen handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für was sie (mit Leib und Leben) eintreten."1 Nehmt die alte auf Leibeigenschaft beruhende Gesellschaft des Feudaladels. Dort waren die Umwälzungen lächerlich leicht, solange es sich darum handelte, die Macht einem Häuflein Adliger oder Feudalherren wegzunehmen und sie einem anderen Häuflein zu übergeben. Nehmt die bürgerliche Gesellschaft, die sich mit ihrem allgemeinen Stimmrecht brüstet. Aber, wie wir wissen, wird das allgemeine Stimmrecht, wird dieser ganze Apparat in Wirklichkeit zum Betrug, denn die gewaltige Mehrheit der Werktätigen ist geduckt und unterdrückt, selbst in den fortgeschrittensten kultiviertesten und demokratischsten Ländern, – unterdrückt durch das kapitalistische Zuchthausregime, so dass sie in der Politik faktisch nicht mitwirkt und nicht mitwirken kann. Und jetzt vollzieht sich zum ersten Male in der Geschichte der Menschheit eine Umwälzung, die zum vollen Sieg des Sozialismus führen kann – allerdings nur unter der Bedingung, dass neue gewaltige Massen selbständig die Sache des Regierens in Angriff nehmen werden. Die sozialistische Umwälzung bedeutet nicht eine Änderung der Staatsform, nicht Ersetzung der Monarchie durch die Republik, nicht eine Art Abstimmung der Menschen, eine Abstimmung, die von der Voraussetzung völliger „Gleichheit" der Menschen ausgeht, und die in Wirklichkeit die kunstvolle Abrundung und Bemäntelung der Tatsache ist, dass der eine Eigentümer ist, der andere aber besitzlos. Wenn „Demokratie" existiert, und wenn Kapitalist und Proletarier an dieser Abstimmung teilnehmen – dann ist das vom Standpunkt der Menschen, der bürgerlichen Gesellschaft der „Wille des Volkes", ist das die „Gleichheit", ist das der Ausdruck seines Wünschens. Wir wissen, welch niederträchtigen Betrug diese Reden darstellen, die nur ein Deckmantel sind für die Henker und Mörder vom Schlage Eberts und Scheidemanns. In der bürgerlichen Gesellschaft regierte die Bourgeoisie die Masse der Werktätigen mit Hilfe dieser oder jener, mehr oder weniger demokratischen Formen; es regierte die Minderheit, die Besitzenden, die über kapitalistisches Eigentum verfügen, die Bildung und Wissenschaft – die festeste Stütze und die höchste Blüte der kapitalistischen Zivilisation – in ein Werkzeug der Ausbeutung, in ein Monopol verwandelt haben, um die gewaltige Mehrheit der Menschen in Sklaverei zu halten. Die Umwälzung, die wir begonnen haben, die wir schon seit zwei Jahren durchführen und die bis zu Ende zu führen wir fest entschlossen sind, ist nur dann möglich und durchführbar, wenn wir erreichen, dass die Macht an die neue Klasse übergeht, dass an Stelle der Bourgeoisie, der kapitalistischen Sklavenhalter, der bürgerlichen Intellektuellen, der Vertreter aller Besitzenden, aller Eigentümer, – dass an ihre Stelle auf allen Gebieten der Verwaltung, beim ganzen Aufbau des Staates, in der ganzen Leitung des neuen Lebens, von oben bis unten, die neue Klasse tritt.

Das eben ist die Aufgabe, die jetzt vor uns steht. Erst dann, wenn diese neue Klasse nicht durch Bücher, nicht durch Versammlungen, nicht durch Reden, sondern durch die Praxis des eigenen Regierens erzogen sein wird, erst wenn sie die breitesten Massen der Werktätigen dazu heranziehen, erst wenn sie solche Formen ausarbeiten wird, die allen Werktätigen die Möglichkeit geben, ohne weiteres an der Regierung des Staates und der Schaffung der Staatsordnung mitzuwirken, erst dann kann die sozialistische Umwälzung von Dauer sein, und erst unter dieser Voraussetzung muss sie unbedingt von Dauer sein. Beim Vorliegen dieser Voraussetzung wird sie eine solche Kraft darstellen, die den Kapitalismus und alle seine Überbleibsel wie Spreu im Winde wegfegen wird.

Das ist die Aufgabe, die vom Klassenstandpunkt aus, allgemein gesprochen, vor uns steht als Voraussetzung für die siegreiche sozialistische Umwälzung, diese Aufgabe, die sich so eng und unmittelbar anschließt an die Aufgabe jener Organisationen, die sogar im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft den breitesten Massenkampf zwecks Vernichtung der kapitalistischen Gesellschaft anstrebten. Unter den damaligen Organisationen waren jedoch die Gewerkschaften die breitesten Organisationen. Sie, die formell selbständige Organisationen bleiben, können und müssen jetzt, wie das eine These der euch vorgeschlagenen Resolution ausdrückt, „energischen Anteil nehmen an der Arbeit der Sowjetmacht durch unmittelbare Arbeit in allen Staatsorganen, durch Organisierung der Kontrolle der Massen über die Tätigkeit dieser Organe usw., durch Schaffung neuer Organe für die Rechnungslegung, Kontrolle und Regulierung der gesamten Produktion und Verteilung, welche auf der organisierten Selbsttätigkeit der interessierten breiten werktätigen Massen selbst beruhen".

In der kapitalistischen Gesellschaft, in den fortgeschrittensten Ländern, nach einer jahrzehnte- und manchmal sogar jahrhundertelangen Entwicklung von Zivilisation und Kultur kam es unter der bürgerlichen Demokratie selbst im besten Falle niemals vor, dass die Gewerkschaften mehr als ein Fünftel aller Lohnarbeiter erfassten. Eine kleine Oberschicht nahm an ihnen teil, und nur ein winziger Teil dieser Oberschicht wurde von den Kapitalisten verführt und bestochen, um als Arbeiterführer Posten innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft einzunehmen. Die amerikanischen Sozialisten nannten diese Leute „Arbeiterleutnants" der kapitalistischen Klasse. Die Sozialisten im Lande der freiesten bürgerlichen Kultur, der demokratischsten bürgerlichen Republik durchschauten am besten diese Rolle einer verschwindend kleinen Oberschicht des Proletariats, die faktisch in den Dienst der Bourgeoisie trat, für sie einsprang, von ihr bestochen und gekauft wurde und jene Kader von Sozialpatrioten und Vaterlandsverteidigern bildete, deren Helden für alle Zeiten Ebert und Scheidemann bleiben werden.

Genossen, wir haben jetzt eine andere Lage. Die Gewerkschaften können, gestützt auf alles, was die kapitalistische Kultur geschaffen, was die kapitalistische Produktion erzeugt hat, den staatlichen ökonomischen Aufbau auf neue Art beginnen, indem sie den Sozialismus eben auf der materiellen Basis, auf jener Großproduktion aufbauen, deren Joch auf uns gelastet hat, die gegen uns geschaffen worden ist, die zur endlosen Unterjochung der Arbeitermassen dienen sollte, die aber diese Massen vereinigte, zusammenschloss und eben dadurch die Avantgarde der neuen Gesellschaft schuf. Und diese Avantgarde begann nach der Oktoberrevolution, nach dem Übergang der Macht an das Proletariat ihr eigentliches Werk in Angriff zu nehmen – die Schulung der werktätigen, ausgebeuteten Masse, die Heranziehung dieser Masse zur Leitung des Staates, zur Leitung der Produktion ohne Beamte, ohne Bourgeoisie, ohne Kapitalisten. Darum eben lehnt die euch vorgeschlagene Resolution alle bürgerlichen Pläne und alle diese verräterischen Reden ab. Darum erklärt sie, dass die Verstaatlichung der Gewerkschaften unvermeidlich ist. Zugleich geht sie einen Schritt weiter. Wir stellen heute die Frage der Verstaatlichung der Gewerkschaften schon nicht nur theoretisch. Wir sind Gott sei Dank aus dem Stadium heraus, wo wir uns damit beschäftigten, diese Fragen zum Gegenstand theoretischer Diskussionen zu machen und damit basta. Vielleicht haben wir mitunter sogar die Zeiten vergessen, wo wir uns mit solchen freien Diskussionen über rein theoretische Themen beschäftigten. Diese Zeiten sind längst dahin und wir stellen diese Fragen jetzt auf Grund der einjährigen Erfahrung der Gewerkschaften, die in ihrer Rolle als Organisatoren der Produktion solche Organisationen geschaffen haben wie den Obersten Volkswirtschaftsrat, die bei diesem unglaublich schwierigen Werk viele Fehler begangen haben und selbstverständlich noch ständig begehen, ohne auf das hämische Gekicher der Bourgeoisie zu achten, die da sagt: Nun, seht ihr, die Proletarier haben es unternommen zu bauen, und seht, sie machen Fehler über Fehler.

Die Bourgeoisie bildet sich ein, sie habe keine Fehler gemacht, als sie die Geschäfte aus den Händen des Zaren und der Adligen übernahm. Sie bildet sich ein, die Reform von 1861, die das Gebäude der Leibeigenschaft ausflickte, die die Masse der Einkünfte und die Macht in den Händen der Feudalherren beließ, hätte sich glatt abgewickelt, unter ihnen hätte es nicht für Jahrzehnte in Russland ein Chaos gegeben. Es gibt kein einziges Land, wo die Herren Adligen nicht über die Emporkömmlinge aus der Bourgeoisie und über den Mittelstand, die an die Aufgabe der Staatsverwaltung herangingen, gespottet hätten.

Es ist selbstverständlich, dass jetzt die ganze Blüte, oder richtiger gesagt, die taube Blüte der bürgerlichen Intelligenz ebenfalls über jeden Fehler spottet, den die neue Macht begeht, besonders, da die neue Klasse, das Bündnis aller Werktätigen – infolge des wütenden Widerstandes der Ausbeuter, infolge des Feldzuges des Bundes der Ausbeuter der ganzen Welt gegen eins der schwächsten und unvorbereitetsten Länder, gegen Russland –, die Umwälzung mit rasender Geschwindigkeit vollziehen musste, unter Bedingungen, welche dazu zwangen, nicht so sehr an einen glatten Verlauf der Umwälzung zu denken, als vielmehr daran, dass es gelinge, sich so lange zu halten, bis das westeuropäische Proletariat zu erwachen beginnt. Diese Aufgabe haben wir gelöst. In dieser Hinsicht, Genossen, können wir schon jetzt sagen, dass wir um vieles glücklicher sind als die Führer der Französischen Revolution, die von der Allianz der monarchistischen und rückständigen Länder geschlagen wurde, die sich als Herrschaft der unteren Schichten der damaligen Bourgeoisie ein Jahr lang zu halten vermochte, die keine sofortige gleichgeartete Bewegung auch in anderen Ländern hervorrief, die aber nichtsdestoweniger für die Bourgeoisie, für die bürgerliche Bürokratie so viel getan hat, dass die ganze Entwicklung der gesamten zivilisierten Menschheit im ganzen XIX. Jahrhundert, dass das alles aus dieser Großen Französischen Revolution hervorgeht, ihr alles verdankt.

Wir sind weitaus glücklicher. Was die damaligen Führer in einem Jahr für die Entwicklung der bürgerlichen Bürokratie getan haben, das haben wir in derselben Frist, im verflossenen Jahr in viel größerem Ausmaße für das neue proletarische Regime getan, haben es so getan, dass schon jetzt die Bewegung in Russland die begonnen wurde nicht durch unsere Verdienste, sondern durch das Zusammentreffen von besonderen Umständen und besonderen Bedingungen, die Russland zwischen zwei imperialistische Riesen der modernen Kulturwelt stellten –, dass diese Bewegung und der Sieg der Sowjetmacht in diesem Jahre dazu führte, dass die Bewegung selbst international geworden, dass die Kommunistische Internationale gegründet worden ist, dass die Losungen und Ideale der alten bürgerlichen Demokratie zerschlagen sind und dass es in der ganzen Welt jetzt keinen einzigen denkenden Politiker gibt, welcher Partei er auch angehören mag, der es übersehen könnte, dass die sozialistische Weltrevolution begonnen hat, dass sie im Gange ist.

Genossen, ich bin ein wenig abgeschweift, als ich an das Thema herantrat, wie wir die praktische Lösung der Frage in Angriff genommen haben, deren theoretische Erörterung schon weit hinter uns liegt. Wir besitzen die Erfahrung eines Jahres, das uns jetzt schon unermesslich mehr Erfolge für den Sieg des Proletariats und seiner Revolution gebracht hat, als gegen Ende des vorvorigen Jahrhunderts ein Jahr Diktatur der bürgerlichen Demokratie für den Sieg dieser bürgerlichen Demokratie in der ganzen Welt gegeben hat. Aber außerdem haben wir in diesem Jahre eine gewaltige praktische Erfahrung erworben, die es uns erlaubt, wenn auch nicht jeden unserer Schritte auf das Genaueste zu berechnen, so doch jedenfalls das Tempo der Entwicklung, ihre Geschwindigkeit zu bestimmen, die realen Schwierigkeiten, die praktischen Maßnahmen zu sehen, die von einem Teilsieg bei der Niederwerfung der Bourgeoisie zum anderen führen.

Zurückblickend sehen wir, welche Fehler wir zu korrigieren haben; klar sehen wir, was wir aufbauen und wie wir weiter bauen müssen. Eben darum beschränkt sich unsere Resolution nicht auf die Verkündigung der Verstaatlichung der Gewerkschaften, auf die prinzipielle Proklamierung der Diktatur des Proletariats, auf die Feststellung, dass wir, wie eine Stelle der Resolution sagt, „unvermeidlich zur Verschmelzung der gewerkschaftlichen Organisationen mit den Organen der Staatsmacht" kommen; das wissen wir auch theoretisch, das haben wir auch vor dem Oktober vorgesehen, das musste man auch früher schon vorsehen. Doch das allein genügt nicht. Für eine Partei, die ganz und gar an den praktischen Aufbau des Sozialismus herangegangen ist, für die Gewerkschaften, die schon Organe zur Leitung der Industrie im allrussischen, im Maßstab des ganzen Staates aus sich heraus geschaffen haben, die schon einen Obersten Volkswirtschaftsrat geschaffen, die sich durch tausend Fehler tausendfache eigene organisatorische Erfahrung erworben haben, ist der Kern der Frage ein anderer als früher.

Jetzt genügt es uns schon nicht mehr, sich auf die Proklamierung der Diktatur des Proletariats zu beschränken. Unvermeidlich ist die Verstaatlichung der Gewerkschaften, unvermeidlich ihre Verschmelzung mit den Organen der Staatsmacht, unvermeidlich, dass der Aufbau der Großproduktion vollständig in ihre Hände übergeht. Aber das alles genügt nicht.

Wir müssen auch unsere praktische Erfahrung in Rechnung stellen, um den nächsten, den richtigen Moment berechnen zu können. Das ist jetzt für uns der Kern der Aufgabe. An eben diesen Moment tritt die Resolution heran, wenn sie sagt, dass, falls die Gewerkschaften jetzt versuchten, eigenmächtig die Funktionen der Staatsmacht zu übernehmen, so würde daraus nur ein Durcheinander entstehen. Wir haben unter diesem Durcheinander genügend gelitten. Wir haben viel gegen die Überreste der verfluchten bürgerlichen Ordnung gekämpft, gegen die teils anarchistischen, teils egoistischen Bestrebungen des Kleineigentümers, die auch in den Arbeitern tief eingewurzelt sind.

Der Arbeiter war von der alten Gesellschaft niemals durch eine chinesische Mauer getrennt. Auch er hat viel von der traditionellen Psychologie der kapitalistischen Gesellschaft behalten. Die Arbeiter bauen die neue Gesellschaft, ohne sich selbst in neue Menschen verwandelt zu haben, die frei wären von dem Schmutz der alten Welt, sie stehen noch bis zu den Knien in diesem Schmutz. Man kann nur davon träumen, sich von diesem Schmutz zu reinigen. Es wäre die größte Utopie zu glauben, man könnte das ohne Verzug vollbringen. Das wäre eine Utopie, die in Wirklichkeit lediglich das Reich des Sozialismus in den Himmel verlegen würde.

Nein, wir nehmen die Errichtung des Sozialismus nicht auf diese Art in Angriff. Wir nehmen sie in Angriff auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft, wobei wir gegen alle die Schwächen und Mängel kämpfen, die auch den Werktätigen anhaften, die das Proletariat nach unten ziehen. In diesem Kampfe gibt es noch viele separatistische, alte Kleineigentümergewohnheiten und Gebräuche; noch lebt die alte Losung: „Jeder für sich, Gott für uns alle". Davon hat es übergenug in jeder Gewerkschaft, in jeder Fabrik gegeben, die durchweg lediglich an sich dachte, und für die übrigen – da mag der Herrgott und die Obrigkeit sorgen. Das haben wir durchgemacht, haben es am eigenen Leibe erfahren, das hat uns so viel Fehler gekostet, so viele schwere Fehler, dass wir jetzt diese Erfahrung in Betracht ziehen und den Genossen sagen: wir warnen euch auf das eEntschiedenste vor allen eigenmächtigen Handlungen auf diesem Gebiet. Und wir sagen: das wird kein Aufbau des Sozialismus sein, das wird nur dazu führen, dass wir alle den Schwächen des Kapitalismus erliegen.

Wir haben jetzt gelernt, die ganze Schwierigkeit der vor uns stehenden Aufgabe in Betracht zu ziehen. Wir stehen mitten in der Arbeit am Aufbau des Sozialismus, und vom Standpunkte dieser Hauptaufgabe sprechen wir uns gegen alle eigenmächtigen Handlungen auf diesem Gebiet aus. Vor solchen eigenmächtigen Handlungen müssen die klassenbewussten Arbeiter gewarnt werden. Man muss ihnen sagen: wir können jetzt nicht mit einer Handbewegung die Gewerkschaften mit den Organen der Staatsmacht verschmelzen. Das wäre ein Fehler. Die Aufgabe steht nicht so.

Wir wissen jetzt, dass das Proletariat tausende, vielleicht zehntausend Proletarier für die Sache der Staatsverwaltung gestellt hat. Wir wissen, dass die neue Klasse – das Proletariat – jetzt auf jedem Gebiet der Staatsverwaltung, in jedem Winkel der schon sozialisierten Betriebe oder derjenigen, die jetzt sozialisiert werden, in jedem Wirtschaftszweig seine eigenen Vertreter hat. Das weiß das Proletariat. Es hat die Sache praktisch in Angriff genommen und sieht jetzt, dass man eben auf diesem Wege weitergehen, dass man noch viele Schritte machen muss, bevor man wird sagen können: die gewerkschaftlichen Vereinigungen der Werktätigen sind mit dem gesamten Staatsapparat endgültig verschmolzen. Das wird dann eingetreten sein, wenn die Arbeiter die Organe der Gewaltausübung der einen Klasse gegen die andere endgültig in ihre Hände genommen haben werden. Und das wird geschehen, das wissen wir.

Wir wollen jetzt eure ganze Aufmerksamkeit auf die nächste praktische Arbeit konzentrieren. Man muss die Teilnahme der Werktätigen selbst an der Leitung der Wirtschaft und an dem Aufbau der neuen Produktion immer mehr und mehr erweitern. Wenn wir diese Aufgabe nicht lösen, wenn wir die Gewerkschaften nicht in Organe verwandeln werden, die eine zehnfach breitere Masse als bisher für die unmittelbare Teilnahme an der Staatsverwaltung schulen, dann werden wir das Werk des kommunistischen Aufbaus nicht zu Ende bringen können. Das sehen wir klar. Das ist in unserer Resolution gesagt und auf dieses Letzte möchte ich vor allem eure Aufmerksamkeit lenken.

Mit der größten Umwälzung, die in der Geschichte begonnen hat, als das Proletariat die Staatsmacht in seine Hand nahm, machen die Gewerkschaften eine gewaltige Wendung in ihrer ganzen Tätigkeit durch. Sie werden die Hauptschöpfer der neuen Gesellschaft, denn Schöpfer dieser Gesellschaft können nur die Millionenmassen sein. Wie in der Epoche der Leibeigenschaft Hunderte diese Schöpfer waren, wie Tausende und Zehntausende den Staat in der Epoche des Kapitalismus bauten, so kann jetzt die sozialistische Umwälzung nur bei aktiver, unmittelbarer, praktischer Teilnahme Dutzender von Millionen an der Staatsverwaltung vollbracht werden. Wir sind auf dem Wege dahin, haben aber das Ziel noch nicht erreicht.

Die Gewerkschaften müssen wissen, dass neben jenen Aufgaben, die teils gestellt werden, teils jedoch wegfallen, die auf jeden Fall, .selbst wenn sie noch bestehen sollten, für uns kleine Aufgaben bleiben müssen –- die Aufgaben der Rechnungslegung, der Normierung, der Vereinigung der Organisationen , dass neben diesen Aufgaben eine größere und wichtigere Aufgabe gestellt wird: die Massen das Regieren lehren, nicht durch Bücher, nicht durch Lektionen, nicht durch Meetings, sondern durch die Erfahrung lehren: so muss gehandelt werden, damit an den Platz der fortgeschrittenen Schicht, die das Proletariat aus seiner Mitte gab, die es mit der Leitung, mit der Organisierung betraute, immer mehr und mehr, immer neue und neue Arbeiterschichten in die verschiedenen Ressorts eintreten, damit an die Stelle dieser einen neuen Schicht zehn ebensolche nachrücken. Diese Aufgabe scheint unergründlich und schwierig zu sein. Wenn wir jedoch bedenken, wie schnell die Erfahrung der Revolution uns die Möglichkeit gab, die schier unergründlichen Aufgaben zu lösen, die seit dem Oktober gestellt worden sind, wie sich jene Schichten der Werktätigen zum Wissen drängten, denen dieses Wissen früher unzugänglich und unnötig war, wenn wir das bedenken, dann hört diese Aufgabe auf, uns unergründlich zu scheinen.

Wir werden sehen, dass wir diese Aufgabe lösen können, dass wir unermesslich große Massen Werktätiger lehren können, den Staat zu regieren und die Industrie zu leiten, dass wir die praktische Arbeit entfalten und jenes in Jahrzehnten und Jahrhunderten in den Arbeitermassen eingewurzelte schädliche Vorurteil vernichten können, wonach das Regieren des Staates Sache der Privilegierten sei, dass das eine besondere Kunst sei. Das ist nicht wahr. Wir werden unvermeidlich Fehler machen, aber aus jedem Fehler werden jetzt nicht Gruppen von Studenten lernen, die irgendeinen theoretischen Kursus für Staatsverwaltung absolvieren, sondern Millionen Werktätiger, die die Folgen eines jeden Fehlers am eigenen Leib verspüren. Sie werden selbst sehen, dass vor ihnen die unaufschiebbaren Aufgaben der Rechnungsführung und Verteilung der Produkte, der Hebung der Arbeitsproduktivität stehen; sie werden aus der Erfahrung erkennen, dass die Macht in ihren Händen liegt und dass keiner ihnen helfen wird, wenn sie sich nicht selber helfen, – das eben ist jene neue Psychologie, die in der Arbeiterklasse entsteht; das ist die neue, historisch ungemein wichtige Aufgabe, die vor dem Proletariat steht, die vor allem in das Bewusstsein der Gewerkschaften und der Funktionäre der Gewerkschaftsbewegung eindringen muss. Die Verbände sind nicht nur Gewerkschaften. Heute sind sie insofern Gewerkschaften, als sie in dem einzig möglichen, mit dem alten Kapitalismus verbundenen Rahmen vereinigt sind und die größte Zahl der Werktätigen umfassen. Aber ihre Aufgabe ist, diese Millionen und aber Millionen Werktätiger von einer einfacheren Tätigkeit zu einer höheren zu fuhren; ohne je zu ermüden, neue Schichten aus der Reserve der Werktätigen zu schöpfen und sie bis zu den schwierigsten Aufgaben zu führen, und auf diese Weise immer breitere Massen für das Regieren des Staates zu schulen; aufzugehen in jenem Kampf des Proletariats, das die Diktatur ergriffen hat und sie heute vor der gesamten Welt behauptet, indem es in allen Ländern täglich eine Abteilung nach der anderen von Industriearbeitern und Sozialisten heranzieht, die gestern noch die Weisungen der Sozialverräter und Sozialpatrioten duldeten, die aber heute mehr und mehr sich dem Banner des Kommunismus und der Kommunistischen Internationale nähern.

Dieses Banner hochzuhalten und gleichzeitig die Reihen der Erbauer des Sozialismus unentwegt zu erweitern, daran zu denken, dass es die Aufgabe der Gewerkschaften ist, Baumeister eines neuen Lebens zu sein, Erzieher neuer Millionen und aber Millionen, die durch eigene Erfahrung lernen sollen, Fehler zu vermeiden, alte Vorurteile abzustreifen, die aus eigener Erfahrung lernen, den Staat zu regieren und die Produktion zu leiten – nur darin liegt die absolute Garantie, dass die Sache des Sozialismus völlig siegen und dadurch jede Möglichkeit einer Rückkehr zum Alten ausschließen wird.

1Spätere Ausgaben bringen folgende Version des Zitats: „Mit der Gründlichkeit der geschichtlichen Aktion wird also der Umfang der Masse zunehmen, deren Aktion sie ist.

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