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Wladimir I. Lenin 19190711 Über den Staat

Wladimir I. Lenin: Über den Staat

Vorlesung, gehalten in der Swerdlow-Universität (11. Juli 1919)

[Nach Ausgewählte Werke, Band 11. Die theoretischen Grundlagen des Marxismus. Moskau 1938, S. 376-394]

Genossen, Gegenstand unserer heutigen Unterhaltung ist nach dem Plan, wie man ihn bei euch angenommen und mir mitgeteilt hat, die Frage des Staates. Ich weiß nicht, wie weit ihr mit dieser Frage schon vertraut seid. Wenn ich nicht irre, sind eure Kurse eben erst eröffnet worden; und ihr sollt euch zum ersten Mal mit dieser Frage systematisch befassen. Wenn dem so ist, so ist es leicht möglich, dass es mir in der ersten Vorlesung über diese schwierige Frage nicht gelingen wird, für viele Hörer die genügende Klarheit der Darlegung und des Verständnisses zu erreichen. Sollte dies der Fall sein, so bitte ich, euch darüber nicht zu beunruhigen, da die Frage des Staates eine der kompliziertesten, der schwierigsten ist und von den bürgerlichen Gelehrten, Schriftstellern und Philosophen wohl am meisten verwirrt wurde. Man soll daher niemals erwarten, dass man in einer kurzen Unterhaltung, mit einem Male eine völlige Klärung dieser Frage erreichen könne. Nach der ersten Unterhaltung darüber soll man sich die unverständlichen oder unklaren Stellen notieren, um zu ihnen ein zweites, drittes und viertes Mal zurückzukehren, um das, was unverständlich geblieben ist, später sowohl durch Lektüre als auch durch besondere Vorlesungen und Unterhaltungen zu ergänzen und weiter zu klären. Ich hoffe, dass es uns gelingen wird, noch einmal zusammenzukommen, und dann wird man über alle zusätzlichen Fragen, die Meinungen austauschen und prüfen können, was am meisten unklar geblieben ist. Ich hoffe auch, dass ihr in Ergänzung zu den Unterhaltungen und Vorlesungen eine gewisse Zeit der Lektüre wenigstens einiger der wichtigsten Werke von Marx und Engels widmen werdet. Zweifellos werdet ihr im Literaturverzeichnis und in den Lehrbehelfen, die den Studierenden der Sowjet- und Parteischule in der Bibliothek, die ihr habt, zur Verfügung stehen, diese Hauptwerke finden. Und wenn auch wiederum die Schwierigkeit der Darlegung vielleicht den einen oder anderen fürs erste abschreckt, so sei nochmals gewarnt, dass man sich dadurch nicht beunruhigen lassen soll, dass das, was beim Lesen das erste Mal unverständlich ist, bei nochmaligem Lesen oder wenn ihr später an die Frage von einer etwas anderen Seite herantretet, verständlich sein wird, denn, ich wiederhole nochmals, die Frage ist so kompliziert und von den bürgerlichen Gelehrten und Schriftstellern so verwirrt worden, dass jeder Mensch, der sie ernsthaft durchdenken und selbständig sich aneignen will, an diese Frage mehrmals herangehen muss, dass er immer wieder zu ihr zurückkehren und sie von verschiedenen Seiten überlegen muss, um zu einer klaren und festen Auffassung zu gelangen. Zu dieser Frage zurückzukehren, wird euch aber um so leichter sein, als dies eine so fundamentale, eine so grundlegende Frage der gesamten Politik ist, dass ihr nicht nur in einer so stürmischen, revolutionären Zeit, wie der, die wir jetzt durchmachen, sondern auch in der friedlichsten Zeit in jeder beliebigen Zeitung bei jeder beliebigen ökonomischen oder politischen Frage stets auf die Frage stoßen werdet: was ist der .Staat, worin besteht sein Wesen, worin liegt seine Bedeutung und welche Stellung nimmt unsere Partei, die Partei, die für den Sturz des Kapitalismus kämpft, die Partei der Kommunisten, zum Staat ein, – jeden Tag werdet ihr auf diese Frage aus dem einen oder anderen Anlass zurückkommen. Und das Wichtigste ist, dass ihr aus eurer Lektüre, aus den Unterhaltungen und den Vorlesungen, die ihr über den Staat hören werdet, die Fähigkeit gewinnt, selbständig an diese Frage heranzugehen, weil euch diese Frage bei den verschiedensten Anlässen, bei jeder, selbst kleinen Frage, in den unerwartetsten Verbindungen, in Unterhaltungen und Disputen mit den Gegnern entgegen treten wird. Erst dann, wenn, ihr gelernt habt, euch selbständig in dieser Frage zurechtzufinden, -– erst dann könnt ihr euch in eurer Überzeugung für fest genug halten und sie genügend erfolgreich verfechten, vor wem und wann immer es auch sei.

Nach diesen kurzen Bemerkungen will ich zur Frage selbst übergehen, was der Staat ist, wie er entstanden ist und wie im wesentlichen die Stellung der Partei der Arbeiterklasse, die für den völligen Sturz des Kapitalismus kämpft, die Stellung der Partei der Kommunisten, zum Staat sein muss.

Ich habe bereits davon gesprochen, dass es wohl kaum eine andere Frage gilbt, die von den Vertretern der bürgerlichen Wissenschaft, Philosophie, Jurisprudenz, politischen Ökonomie und Publizistik absichtlich und unabsichtlich so verwirrt worden ist, wie die Frage des Staates Sehr oft \wird diese Frage bis auf den heutigen Tag mit religiösen Fragen vermengt, sehr oft vermengen nicht nur Vertreter religiöser Lehren (von diesen ist das durchaus natürlich zu erwarten), sondern auch Leute, die sich für frei von religiösen Vorurteilen halten, die spezielle Frage des Staates mit Fragen. der Religion und versuchen eine – sehr oft komplizierte, auf ideeller philosophischer Betrachtungsweise und Begründung aufgebaute – Lehre zu konstruieren, dass der Staat etwas Göttliches, etwas Übernatürliches sei, dass das eine gewisse Kraft sei, durch die die Menschheit lebe, die den Menschen etwas gebe oder zu geben habe, etwas mit sich bringe, was nicht vom Menschen sei, sondern ihm von außen gegeben sei, dass es eine Kraft göttlichen Ursprungs sei. Und man muss sagen, diese Lehre ist so eng mit den Interessen der Ausbeuterklassen – der Gutsherren und Kapitalisten – verbunden, sie dient so sehr ihren Interessen, hat so tief alle Gewohnheiten, alle Ansichten, die gesamte Wissenschaft der Herren Vertreter der Bourgeoisie durchdrungen, dass Reste dieser Lehre euch auf Schritt und Tritt entgegentreten, bis zur Auffassung des Staates bei den Menschewiki und Sozialrevolutionären, die mit Entrüstung den Gedanken von sich weisen, dass sie in religiösen Vorurteilen befangen seien, und überzeugt sind, dass sie den Staat nüchtern betrachten können. Diese Frage ist deshalb so verworren und kompliziert, weil sie (in dieser Beziehung nur den Grundlagen der ökonomischen Wissenschaft nachstehend) die Interessen der herrschenden Klassen mehr berührt als irgendeine andere Frage. Die Lehre vom Staat dient zur Rechtfertigung der gesellschaftlichen Vorrechte, zur Rechtfertigung für das Bestehen der Ausbeutung, zur Rechtfertigung für das Bestehen des Kapitalismus, – es ist deshalb der größte Fehler, in dieser Frage Unparteilichkeit zu erwarten und so an diese Frage heranzutreten, als ob die Leute, die auf Wissenschaftlichkeit Anspruch erheben, euch hier den Standpunkt der reinen Wissenschaft bieten könnten. In der Frage des Staates, in der Lehre vom Staat, in der Theorie des Staates werdet ihr, wenn ihr euch mit der Frage vertraut macht und genügend in sie eindringt, stets den Kampf der verschiedenen Klassen untereinander sehen, einen Kampf, der sich im Kampf der Ansichten über den Staat, in der Einschätzung der Rolle und der Bedeutung des Staates widerspiegelt oder darin seinen Ausdruck findet.

Um diese Frage so wissenschaftlich als möglich anzupacken, muss man wenigstens einen flüchtigen Blick in die Geschichte, auf die Entstehung und Entwicklung des Staates werfen. Das Allersicherste in der Frage der Gesellschaftswissenschaft, das Allernotwendigste, um wirklich die Fähigkeit zu erwerben, richtig an diese Frage heranzutreten und sich nicht in einer Masse von Kleinigkeiten oder in der ungeheuren Mannigfaltigkeit der kämpfenden Meinungen zu verlieren, – das Allerwichtigste, um an diese Frage vom wissenschaftlichen Standpunkt heranzutreten, das ist – den grundlegenden historischen Zusammenhang nicht zu vergessen, jede Frage von dem Standpunkt aus zu betrachten, wie eine gewisse Erscheinung in der Geschichte entstanden ist, welche Hauptetappen diese Erscheinung in ihrer Entwicklung durchgemacht hat, und vom Standpunkt dieser ihrer Entwicklung zu betrachten, was aus der betreffenden Sache jetzt geworden ist.

Ich hoffe, dass ihr euch in der Frage des Staates mit der Schrift von Engels „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ bekannt machen werdet. Sie ist eines der grundlegenden Werke des modernen Sozialismus, in dem man zu jedem Satz Vertrauen haben, in dem man sich darauf verlassen kann, dass jeder Satz nicht aufs Geratewohl ausgesprochen, sondern auf Grund eines ungeheuren historischen und politischen Materials niedergeschrieben ist. Kein Zweifel, nicht alle Teile in diesem Werk sind gleich zugänglich, verständlich dargelegt: manche setzen einen Leser voraus, der schon über gewisse historische und ökonomische Kenntnisse verfügt. Ich muss jedoch wieder sagen: man soll sich nicht beunruhigen lassen, wenn man dieses Werk nach dem Lesen nicht gleich versteht. Das gibt es fast niemals, bei keinem Menschen. Wenn ihr jedoch später, sobald euer Interesse erwacht ist, auf dieses Werk zurückgreift, so werdet ihr erreichen, dass ihr es zum überwiegenden Teil, wenn nicht vollständig verstehen werdet. Ich erinnere an dieses Buch deshalb, weil es ein richtiges Herangehen an die Frage im angeführten Sinne vermittelt. Es beginnt mit einem geschichtlichen Abriss über die Entstehung des Staates.

Wenn man richtig an diese oder an jede andere Frage herangehen will, so z. B. an die Frage der Entstehung des Kapitalismus, der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, an den Sozialismus, seine Entstehung, die Bedingungen, die ihn erzeugt haben, so kann man das nur dann solide und mit Sicherheit tun, wenn man vorher einen Blick auf die gesamte geschichtliche Entwicklung der Frage als ein Ganzes geworfen hat. Bei dieser Frage muss vor allem darauf die Aufmerksamkeit gelenkt werden, dass der Staat nicht immer bestanden hat. Es hat eine Zeit gegeben, wo es keinen Staat gab. Er erscheint dort und dann, wo und wann die Teilung der Gesellschaft in Klassen erscheint, wenn Ausbeuter und Ausgebeutete erscheinen.

Bis zu der Zeit, wo die erste Form der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die erste Form der Teilung in Klassen – Sklavenhalter und Sklaven – entstand, bis zu jener Zeit existierte noch die patriarchalische Familie, oder, wie man sie mitunter nennt, die Clanfamilie (Clan – Geschlecht, Sippe in der Zeit, wo die Menschen in Sippen, Geschlechtern lebten), und die Spuren dieser Urzeiten in der Lebensweise vieler Urvölker sind deutlich genug erhalten. Wenn ihr ein beliebiges Werk über die Kultur der Urmenschen zur Hand nehmt, stets werdet ihr auf mehr oder minder bestimmte Beschreibungen, Hinweise und Erinnerungen daran stoßen, dass es eine Zeit gegeben hat, die dem Urkommunismus, als es keine Teilung der Gesellschaft in Sklavenhalter und Sklaven gab, mehr oder minder ähnlich war. Und damals gab es keinen Staat, gab es keinen besonderen Apparat zur systematischen Gewaltanwendung und Unterordnung der Menschen unter die Gewalt. Ein solcher Apparat heißt denn auch Staat.

In der Urgesellschaft, als die Menschen noch in kleinen Geschlechtsverbänden lebten und sich auf der niedrigsten Stufe ihrer Entwicklung befanden, in einem Zustand, der der Wildheit nahe war, in der Epoche, von der die heutige zivilisierte Menschheit durch einige. Jahrtausende getrennt ist – in jener Zeit sind noch keine Anzeichen für das Bestehen des Staates zu sehen. Wir sehen die Herrschaft der Sitten, die Autorität, die Achtung, die Macht, die die Ältesten der Geschlechtsverbände besaßen, wir sehen, dass diese Macht mitunter Frauen zuerkannt wurde – die damalige Lage der Frau war nicht ihrer heutigen rechtlosen, unterdrückten Lage ähnlich –, doch nirgends sehen wir eine besondere Kategorie von Leuten, die ausgesondert werden, um andere zu regieren und um im Interesse und zum Zweck des Regierens systematisch, ständig über einen gewissen Apparat des Zwanges, einen Apparat der Gewalt zu verfügen, wie ihn heute, das versteht ihr alle, die bewaffneten militärischen Formationen, die Gefängnisse und andere Mittel zur Unterwerfung fremden Willens unter die Gewalt darstellen – das, was das Wesen des Staates ausmacht.

Wenn wir von jenen sogenannten religiösen Lehren, Spitzfindigkeiten, philosophischen Konstruktionen, von jenen mannigfaltigen Meinungen, die die bürgerlichen Gelehrten konstruieren, absehen und der Sache auf den Grund gehen, so werden wir sehen, dass der Staat nichts anderes ist als eben solch ein aus der menschlichen Gesellschaft ausgesonderter Apparat zum Regieren. Wenn eine solche besondere Gruppe von Menschen erscheint, die nur damit beschäftigt ist, zu regieren und die zum Regieren einen besonderen Apparat des Zwanges, der Unterwerfung fremden Willens unter die Gewalt benötigt – Gefängnisse, besondere Formationen von Menschen, Heer u. a. – dann erscheint der Staat.

Es hat jedoch eine Zeit gegeben, wo es keinen Staat gab, wo der allgemeine Zusammenhalt, die Gesellschaft selbst, die Disziplin, die Arbeitsordnung aufrechterhalten wurden durch die Macht der Gewohnheit, der Traditionen, durch die Autorität oder die Achtung, die die Ältesten der Geschlechtsverbände oder die Frauen genossen, die zu jener Zeit oft nicht nur eine den Männern gleich berechtigte, sondern nicht selten sogar eine höhere Stellung einnahmen, und wo es keine besondere Kategorie von Leuten, von Spezialisten im Regieren gab. Die Geschichte zeigt, dass der Staat als besonderer Apparat des Zwanges gegenüber Menschen erst dort und dann entstand, als die Teilung der Gesellschaft in Klassen in Erscheinung trat – also eine Teilung in solche Gruppen von Menschen, von denen die einen sich ständig die Arbeit der anderen aneignen können, wo der eine den anderen ausbeutet.

Diese geschichtliche Teilung der Gesellschaft in Klassen müssen wir als die grundlegende Tatsache stets klar vor Augen halten. Die Entwicklung aller menschlichen Gesellschaften, wie sie sich im Laufe von Jahrtausenden in allen Ländern ohne Ausnahme vollzogen hat, zeigt uns eine allgemeine Gesetzmäßigkeit, Regelmäßigkeit, Folgerichtigkeit folgender Art: zuerst haben wir eine Gesellschaft ohne Klassen – die ursprüngliche, patriarchalische Urgesellschaft, in der es keine Aristokraten gab; dann eine Gesellschaft, die auf Sklaverei beruht, die Sklavenhaltergesellschaft. Dieses Stadium hat das ganze moderne zivilisierte Europa durchgemacht – die Sklaverei war vor zweitausend Jahren durchaus herrschend. Auch die übergroße Mehrzahl der Völker der übrigen Weltteile hat dies durchgemacht. Bei den am wenigsten entwickelten Völkern sind Spuren der Sklaverei auch jetzt noch vorhanden, und Institutionen der Sklaverei findet man z. B. in Afrika noch heute. Sklavenhalter und Sklaven – das ist die erste große Klassenteilung. Die erste Gruppe besaß nicht nur alle Produktionsmittel – den Grund und Boden, die Werkzeuge, mögen diese damals noch so primitiv gewesen sein –, sie besaß auch Menschen. Diese Gruppe hieß Sklavenhalter, jene aber, die arbeiteten und Arbeit für die anderen verrichteten, hießen Sklaven.

Auf diese Form folgte in der Geschichte eine andere Form – die Leibeigenschaft. Die Sklaverei verwandelte sich in der übergroßen Mehrzahl der Länder in ihrer Entwicklung in Leibeigenschaft. Die grundlegende Teilung der Gesellschaft ist – Fronherren und leibeigene Bauern. Die Form der Beziehungen zwischen den Menschen hat sich geändert. Die Sklavenhalter hatten die Sklaven als ihr Eigentum betrachtet, das Gesetz hatte diese Auffassung bekräftigt und die Sklaven als eine Sache betrachtet, die sich vollkommen im Besitz des Sklavenhalters befand. Gegenüber dem leibeigenen Bauern blieb die Klassenunterdrückung, die Abhängigkeit bestehen, aber der feudale Grundherr galt nicht als Besitzer des Bauern als einer Sache, er hatte lediglich Anrecht auf dessen Arbeit und kannte ihn zur Leistung einer bestimmten Dienstpflicht zwingen. In der Praxis unterschied sich, wie ihr alle wisst, die Leibeigenschaft, besonders in Russland, wo sie sich am längsten hielt und die rohesten Formen annahm, in nichts von der Sklaverei.

Weiterhin entstand in der Gesellschaft der Leibeigenschaft in dem Maße, wie sich der Handel entwickelte, wie ein Weltmarkt entstand, in dem Maße, wie die Geldzirkulation sich entwickelte, eine neue Klasse, die Klasse der Kapitalisten. Aus der Ware, aus den Warenaustausch, aus der entstehenden Macht des Geldes entstand die Macht des Kapitals. Im Laufe des XVIII. Jahrhunderts, genauer vom Ende des XVIII. Jahrhunderts an, und im Laufe des XIX. Jahrhunderts fanden Revolutionen in der ganzen Welt statt. Die Leibeigenschaft wurde aus allen Ländern Westeuropas verdrängt. Am spätesten geschah dies in Russland. In Russland vollzog sich 1861 ebenfalls eine Umwälzung, die die Ablösung einer Gesellschaftsform durch eine andere zur Folge hatte – die Ersetzung der Leibeigenschaft durch den Kapitalismus, unter dem die Teilung in Klassen sowie verschiedene Spuren und Überreste der Leibeigenschaft bestehen blieben, am wesentlichen erhielt aber die Klassenteilung eine andere Form.

Die Kapitalbesitzer, die Grundbesitzer, die Fabrikbesitzer stellten und stellen in allen kapitalistischen Staaten eine verschwindende Minderheit der Bevölkerung dar. Diese Minderheit verfügt vollständig über die gesamte Arbeit des Volkes und hält somit die ganze Masse der Werktätigen, von denen die Mehrzahl Proletarier, Lohnarbeiter sind, die im Produktionsprozess den Lebensunterhalt nur durch den Verkauf ihrer Arbeitshände, ihrer Arbeitskraft erwerben, in ihrer Verfügungsgewalt, unterdrückt sie und beutet sie aus. Die Bauern, die schon zur Zeit der Leibeigenschaft zersplittert und zu Boden gedrückt waren, verwandelten sich mit dem Übergang zum Kapitalismus teils (in ihrer Mehrzahl) in Proletarier, teils (in ihrer Minderheit) in wohlhabende Bauern, die selbst Arbeiter dingten und die Dorfbourgeoisie darstellten.

Diese grundlegende Tatsache – den Übergang der Gesellschaft von den Urformen der Sklaverei zur Leibeigenschaft und schließlich zum Kapitalismus – müsst ihr stets im Auge behalten, denn nur wenn ihr dieser grundlegenden Tatsache eingedenk seid, nur wenn ihr alle politischen Lehren in diesen grundlegenden Rahmen hineinstellt, werdet ihr imstande sein, diese Lehren, richtig einzuschätzen und zu verstehen, worauf sie sich beziehen, denn jede dieser großen Perioden der menschlichen Geschichte – die Sklaverei, die Leibeigenschaft und der Kapitalismus – umfasst Hunderte und Tausende von Jahren und bietet eine solche Masse von politischen Formen, verschiedenartigen politischen Lehren, Meinungen, Revolutionen, dass man sich in all dieser außerordentlichen Buntheit und ungeheuren Mannigfaltigkeit – die besonders mit den politischen, philosophischen und sonstigen Lehren der bürgerlichen Gelehrten und Politiker zusammenhängt – nur in dem Falle zurechtfinden kann, wenn man als leitende Richtschnur unerschütterlich festhält die Teilung der Gesellschaft in Klassen, die Formveränderungen der Klassenherrschaft, und von diesem Standpunkt aus alle gesellschaftlichen Fragen, die ökonomischen, politischen, geistigen, religiösen usw., untersucht.

Wenn ihr vom Standpunkt dieser grundlegenden Teilung den Staat betrachtet, so werdet ihr sehen, dass es vor der Teilung der Gesellschaft in Klassen, wie ich schon sagte, auch keinen Staat gab. In dem Maße jedoch, wie die gesellschaftliche Teilung in Klassen entsteht und sich festigt, in dem Maße, wie die Klassengesellschaft entsteht, im selben Maße entsteht und festigt sich der Staat. Wir kennen in der Geschichte der Menschheit Dutzende und Hunderte von Ländern, die Sklaverei, Leibeigenschaft und Kapitalismus durchgemacht haben oder jetzt durchmachen In jedem von ihnen werdet ihr trotz der gewaltigen geschichtlichen Veränderungen, die sich vollzogen haben, trotz aller politischen Wandlungen und aller Revolutionen, die mit dieser Entwicklung der Menschheit, mit dem Übergang von der Sklaverei über die Leibeigenschaft zum Kapitalismus und zum jetzigen Wettkampf gegen den Kapitalismus verbunden waren, – stets die Entstehung des Staates sehen. Der Staat war immer ein bestimmter Apparat, der aus der Gesellschaft ausgesondert wurde und aus einer Gruppe von Menschen bestand, die sich nur oder fast nur oder hauptsächlich damit beschäftigten, zu regieren. Die Menschen teilen sich in Regierte und in Spezialisten im Regieren, die sich über die Gesellschaft erheben und die man Regierende, Vertreter des Staates nennt. Dieser Apparat, diese Gruppe von Menschen, die andere regieren, bemächtigt sich stets eines gewissen Apparates des Zwanges, der physischen Gewalt – gleichviel, ob sich diese Gewalt über die Menschen im Knüttel des Urmenschen oder, in der Epoche der Sklaverei, in einer mehr vervollkommneten Art der Bewaffnung oder in der Feuerwaffe äußert, die im Mittelalter aufkam, oder schließlich in den modernen Waffen, die im XX. Jahrhundert zu technischen Wundern wurden und ganz auf den letzten Errungenschaften der modernen Technik beruhen. Die Methoden der Gewalt änderten sich, aber immer, wenn es einen Staat gab, existierte in jeder Gesellschaft eine Gruppe von Personen, die regierten, die kommandierten, die herrschten und zur Aufrechterhaltung der Macht einen Apparat des physischen Zwanges, einen Apparat der Gewalt, jene Waffen in Händen hatten, die dem technischen Niveau jeder Epoche entsprachen. Und erst wenn wir diese allgemeinen Erscheinungen näher betrachten, wenn wir uns die Frage vorlegen, warum es keinen Staat gegeben hat, als es keine Klassen gab, als es keine Ausbeuter und Ausgebeutete gab, und warum er entstand, als die Klassen entstanden –, erst dann finden wir eine bestimmte Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Staates und seiner Bedeutung.

Der Staat ist eine Maschine zur Aufrechterhaltung der Herrschaft einer Klasse über eine andere. Als es in der Gesellschaft keine Klassen gab, als die Menschen vor der Epoche des Bestehens der Sklaverei unter den urzeitlichen Bedingungen einer größeren Gleichheit, einer noch ganz niedrigen Arbeitsproduktivität arbeiteten, als der Urmensch sich mühselig die zur allerprimitivsten Existenz notwendigen Mittel verschaffte, entstand auch keine und konnte auch keine besondere Gruppe von Menschen entstehen, die speziell zum Regieren ausgesondert worden wären und über die ganze übrige Gesellschaft geherrscht hätten. Erst als die erste Form der Teilung der Gesellschaft in Klassen, als die Sklaverei aufkam, als es einer gewissen Klasse von Menschen, die sich auf die gröbsten Formen der landwirtschaftlichen Arbeit konzentrierte, möglich wurde, einen gewissen Überschuss zu produzieren, als dieser Überschuss nicht mehr für die armseligste Existenz des Sklaven absolut notwendig war und in die Hände des Sklavenhalters gelangte, als sich so das Bestehen dieser Klasse von Sklavenhaltern festigte, und um es zu festigen, wurde das Entstehen des Staates zu einer Notwendigkeit,

Und er entstand – der Staat der Sklavenhalter, ein Apparat, der den Sklavenhaltern die Macht und die Möglichkeit in die Hand gab, alle Sklaven zu regieren. Sowohl die Gesellschaft als auch der Staat waren damals bedeutend kleiner als jetzt, verfügten über einen unvergleichlich schwächeren Verbindungsapparat, denn damals gab es nicht die heutigen Verkehrsmittel. Berge, Flüsse und Meere waren ungleich größere Hindernisse als jetzt, und die Bildung des Staates vollzog sich in viel engeren geographischen Grenzen. Ein technisch schwacher Staatsapparat bediente einen Staat, der sich auf verhältnismäßig enge Grenzen und auf einen engen Wirkungskreis erstreckte, immerhin war ein Apparat da, der die Sklaven zwang, in der Sklaverei zu bleiben, der einen Teil der Gesellschaft im Zwange, in der Unterdrückung durch den anderen hielt. Ohne einen ständigen Apparat des Zwanges kann der eine, der überwiegende Teil der Gesellschaft nicht zur systematischen Arbeit für den anderen Teil gezwungen werden. Solange es keine Klassen gab, gab es auch keinen solchen Apparat. Als die Klassen erschienen, erschien mit dem Wachstum und der Festigung dieser Teilung stets und überall auch eine besondere Institution – der Staat. Die Formen des Staates waren außerordentlich verschiedenartig. Zur Zeit der Sklaverei haben wir in den nach damaligen Begriffen fortgeschrittensten, kultivierten und zivilisiertesten Ländern, z. B. im alten Griechenland und in Rom, die ganz auf der Sklaverei beruhten, schon verschiedene Staatsformen. Schon damals entsteht der Unterschied zwischen Monarchie und Republik, zwischen Aristokratie und Demokratie. Die Monarchie als Macht eines Einzelnen, die Republik als Staatsform ohne jede nicht gewählte Macht; die Aristokratie als Macht einer verhältnismäßig kleinen Minderheit, die Demokratie als Macht des Volkes (die wörtliche Übersetzung des griechischen Wortes „Demokratie" lautet eben: Volksherrschaft). Alle diese Unterschiede entstanden in der Epoche der Sklaverei. Trotz dieser Unterschiede war der Staat in der Epoche der Sklaverei ein Sklavenhalterstaat, ganz gleich, ob er eine Monarchie oder eine aristokratische oder demokratische Republik war.

In jedem Kursus über die Geschichte des Altertums werdet ihr bei einer jeden Vorlesung über diesen Gegenstand von dem Kampf hören, der zwischen den monarchischen und den republikanischen Staaten geführt wurde, das Grundlegende war aber, dass Sklaven nicht als Menschen betrachtet wurden: sie galten nicht nur nicht als Bürger, sondern auch nicht als Menschen. Das römische Gesetz betrachtete sie als Sache. Das Gesetz über Mord, von anderen Gesetzen zum Schutz der Person gar nicht zu sprechen, galt nicht für die Sklaven. Es schützte nur die Sklavenhalter, die allein als voll berechtigte Bürger galten. Wurde eine Monarchie gegründet, so war es eine Monarchie der Sklavenhalter; wurde eine Republik gegründet, so war es eine Republik der Sklavenhalter. In beiden genossen die Sklavenhalter alle Rechte, während die Sklaven laut Gesetz Sachen waren; nicht nur, dass jede beliebige Gewalttätigkeit an Sklaven möglich war, auch die Ermordung des Sklaven galt nicht als Verbrechen. Die Republiken der Sklavenhalter unterschieden sich ihrer inneren Organisation nach: es gab aristokratische und demokratische Republiken. In der aristokratischen Republik nahm eine kleine Zahl von Privilegierten an den Wahlen teil, in der demokratischen nahmen alle daran teil, aber wiederum alle Sklavenhalter, alle, außer den Sklaven. Diesen grundlegenden Umstand muss man vor Augen haben, da er vor allem auf die Frage des Staates Licht wirft und das Wesen des Staates deutlich zeigt.

Der Staat ist eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere, eine Maschine, dazu bestimmt, in der Botmäßigkeit einer Klasse alle übrigen, unterworfenen Klassen zu halten. Die Form dieser Maschine ist verschieden. Im Sklavenhalterstaat haben wir die Monarchie, die aristokratische Republik oder sogar die demokratische Republik. In der Wirklichkeit waren die Regierungsformen außerordentlich mannigfaltig, doch das Wesen der Sache blieb das gleiche: die Sklaven hatten keinerlei Rechte und blieben eine unterdrückte Klasse, sie galten nicht als Menschen. Das gleiche sehen wir im Leibeigenschaftsstaat.

Der Wechsel in der Form der Ausbeutung verwandelte den Sklavenhalterstaat in den Leibeigenschaftsstaat. Das war von ungeheurer Bedeutung. In der auf Sklaverei beruhenden Gesellschaft haben wir die völlige Rechtlosigkeit des Sklaven, er galt nicht als Mensch; in der auf Leibeigenschaft beruhenden Gesellschaft haben wir die Fesselung des Bauern an die Scholle. Das Hauptmerkmal der Leibeigenschaft besteht darin, dass die Bauernschaft (und damals bildeten die Bauern die Mehrheit, die Stadtbevölkerung war äußerst schwach entwickelt) als an den Boden gefesselt galt, woraus auch der Begriff selbst – krepostnoje prawo – hervorging1. Der Bauer durfte eine bestimmte Anzahl von Tagen für sich selbst auf jenem Acker arbeiten, den ihm der Gutsherr überließ; die übrige Zeit arbeitete der leibeigene Bauer für den Gutsherrn. Das Wesen der Klassengesellschaft blieb bestehen; die Gesellschaft beruhte auf Klassenausbeutung. Voll berechtigt konnten nur die Gutsherren sein, die Bauern galten als rechtlos. Ihre Lage unterschied sich in der Praxis nur sehr wenig von der der Sklaven im Sklavenhalterstaat, Immerhin öffnete sich ihrer Befreiung, der Befreiung der Bauern, ein breiterer Weg, da der hörige Bauer nicht als direktes Eigentum des Gutsherrn galt. Er konnte einen Teil seiner Zeit auf seinem Acker zubringen, er konnte sozusagen bis zu einem gewissen Grade sich selbst gehören, und bei der größeren Entwicklungsmöglichkeit für den Austausch, für Handelsbeziehungen zersetzte sich die Leibeigenschaft immer mehr und mehr und erweiterte sich immer mehr der Kreis der Befreiung der Bauernschaft. Die Gesellschaft der Leibeigenschaft war stets komplizierter als die auf Sklaverei beruhende. Es gab in ihr ein starkes Element der Entwicklung von Handel und Industrie, was schon damals zum Kapitalismus führte. Im Mittelalter herrschte die Leibeigenschaft vor. Auch hier waren die Staatsformen verschiedenartig, auch hier haben wir sowohl Monarchie wie Republik, wenn auch viel schwächer ausgeprägt, aber immer galten einzig und allein die feudalen Grundherren, Fronherren als Herrschende. Die leibeigenen Bauern waren von allen politischen Rechten absolut ausgeschlossen.

Sowohl unter der Sklaverei wie unter der Leibeigenschaft kann die Herrschaft einer kleinen Minderheit der Menschen über die ungeheure Mehrheit nicht ohne Zwang auskommen. Die ganze Geschichte ist voll von ununterbrochenen Versuchen der unterdrückten Klassen, die Knechtschaft abzuschütteln. Die Geschichte der Sklaverei kennt Kriege um die Befreiung von der Sklaverei, die viele Jahrzehnte dauerten. Nebenbei gesagt: der Name „Spartakus“, den die deutschen Kommunisten – diese einzige Partei in Deutschland, die wirklich gegen das Joch des Kapitalismus kämpft – jetzt tragen, wurde von ihnen gewählt, weil Spartakus einer der hervorragendsten Helden eines der größten Sklavenaufstände war, der ungefähr 2000 Jahre zurückliegt. Eine Reihe von Jahren hindurch war das scheinbar allmächtige Römische Reich, das ganz auf Sklaverei beruhte, Erschütterungen und Schlägen ausgesetzt durch einen gewaltigen Aufstand von Sklaven, die sich bewaffnet und unter der Führung von Spartakus zu einer riesigen Armee zusammengeschlossen hatten. Schließlich wurden sie aber geschlagen, gefangengenommen und von den Sklavenhaltern gefoltert. Diese Bürgerkriege ziehen sich durch die ganze Geschichte des Bestehens der Klassengesellschaft. Ich habe soeben das Beispiel des größten solcher Bürgerkriege in der Epoche der Sklaverei angeführt. Desgleichen ist die ganze Epoche der Leibeigenschaft von ständigen Bauernaufständen erfüllt. In Deutschland z. B. nahm der Kampf zwischen den beiden Klassen, den Gutsherren und den Leibeigenen, im Mittelalter große Ausmaße an und verwandelte sich in den Bürgerkrieg der Bauern gegen die Gutsherren. Ihr alle kennt Beispiele ähnlicher wiederholter Aufstände der Bauern gegen die Fronherren auch in Russland.

Zur Erhaltung seiner Herrschaft, zur Behauptung seiner Macht musste der Gutsherr einen Apparat besitzen, der eine ungeheure Zahl von Menschen in Botmäßigkeit zusammenfasste, sie bestimmten Gesetzen, Regeln unterwarf, und alle diese Gesetze liefen im Grunde auf das eine hinaus – die Macht des Gutsherrn über die leibeigenen Bauern aufrechtzuerhalten. Das war eben der Leibeigenschaftsstaat, der z. B. in Russland oder in völlig rückständigen asiatischen Ländern, wo die Leibeigenschaft heute noch herrscht – in der Form verschieden –, entweder republikanisch oder monarchisch war. War der Staat monarchisch, so wurde die Macht eines Einzelnen anerkannt; war er republikanisch, wurde mehr oder minder die Mitwirkung von Gewählten der Gutsherrengesellschaft zugestanden – das in der Gesellschaft der Leibeigenschaft. Die Leiteigenschaftsgesellschaft stellte eine solche Teilung in Klassen dar, wo die ungeheure Mehrheit, die leibeigene Bauernschaft, sich in völliger Abhängigkeit von einer verschwindenden Minderheit, den Gutsherren, befand, die den Grund und Boden besaßen.

Die Entwicklung des Handels, die Entwicklung des Warenaustausches führte zur Aussonderung einer neuen Klasse, der Kapitalisten. Das Kapital entstand gegen Ende des Mittelalters, als der Welthandel nach der Entdeckung Amerikas eine riesige Entwicklung erreichte, als die Menge der Edelmetalle zunahm, als Silber und Gold Tauschmittel wurden, als der Geldumlauf die Möglichkeit gab, ungeheure Reichtümer in einer Hand anzuhäufen. Silber und Gold wurden in der ganzen Welt als Reichtum anerkannt. Die wirtschaftlichen Kräfte der Gutsherrenklasse schwanden, und es entwickelte sich die Kraft einer neuen Klasse, der Vertreter des Kapitals. Die Umgestaltung der Gesellschaft vollzog sich so, dass alle Bürger scheinbar gleich wurden, die frühere Teilung in Sklavenhalter und Sklaven fortfiel, alle vor dem Gesetz als gleich gelten sollten, unabhängig davon, über welches Kapital der einzelne verfügt, ob er Grund und Boden als Privateigentum besitzt, oder ob er ein Habenichts ist, der nichts als seine Arbeitshände hat, – alle sind vor dem Gesetz gleich. Das Gesetz schützt alle in gleicher Weise, schützt das Eigentum, wenn einer solches besitzt, vor den Anschlägen jener Masse, die, ohne Eigentum zu besitzen, ohne etwas anderes zu haben als ihre Arbeitshände, allmählich verarmt, ruiniert wird und sich in Proletarier verwandelt. Das ist die kapitalistische Gesellschaft.

Ich kann auf sie nicht ausführlich eingehen. Ihr werdet auf diese Frage noch zurückkommen, wenn ihr das Parteiprogramm besprechen werdet – dort werdet ihr die Charakteristik der kapitalistischen Gesellschaft hören. Diese Gesellschaft wandte sich gegen die Leibeigenschaft, gegen das alte Leibeigenschaftsrecht unter der Losung der Freiheit. Das war aber eine Freiheit für jene, die Eigentum haben. Und als die Leibeigenschaft zerschlagen wurde, was Ende des XVIII. und Anfang des XIX. Jahrhunderts geschah – in Russland erfolgte dies später als in anderen Ländern, im Jahre 1861 –, da trat an die Stelle des Leibeigenschaftsstaates der kapitalistische Staat, der die Freiheit des ganzen Volkes als seine Losung verkündet, der sagt, dass er den Willen des ganzen Volkes ausdrücke, der leugnet, dass er ein Klassenstaat ist, und hier entwickelt sich zwischen den Sozialisten, die für die Freiheit des ganzen Volkes kämpfen, und dem kapitalistischen Staat ein Kampf, der jetzt zur Schaffung der sozialistischen Sowjetrepublik geführt hat und der die ganze Welt erfasst.

Um den Kampf, der gegen das Weltkapital begonnen hat, zu begreifen, um das Wesen des kapitalistischen Staates zu begreifen, muss man im Auge behalten, dass der kapitalistische Staat den Kampf gegen den Leibeigenschaftsstaat unter der Losung der Freiheit aufnahm. Die Abschaffung der Leibeigenschaft bedeutete für die Vertreter des kapitalistischen Staates die Freiheit und leistete ihnen insoweit einen Dienst, als die Leibeigenschaft zerstört wurde und die Bauern die Möglichkeit erhielten, über jenen Boden als unbeschränktes Eigentum zu verfügen, den sie durch Loskauf oder zu einem kleinen Teil durch den Obrok erworben hatten –, den Staat kümmerte das nicht: er schützte das Eigentum, in welcher Weise immer es auch entstanden sein mochte, denn er beruhte auf dem Privateigentum. Die Bauern verwandelten sich in allen modernen zivilisierten Staaten in Privateigentümer. Der Staat schützte das Privateigentum und entschädigte den Gutsherrn, wo er einen Teil des Landes dem Bauern abgab, durch Entschädigungszahlungen, durch Verkauf für Geld. Der Staat erklärte gleichsam: wir werden das volle Privateigentum beibehalten, und ließ ihm jede Unterstützung und jeden Beistand angedeihen. Der Staat gestand jedem Kaufmann, jedem Industriellen und Fabrikanten dieses Eigentum zu. Und diese Gesellschaft, die auf dem Privateigentum, auf der Macht des Kapitals, auf der völligen Unterwerfung aller besitzlosen Arbeiter und der werktätigen Bauernmassen beruht, diese Gesellschaft verkündete ihre Herrschaft auf Grund der Freiheit. Im Kampf gegen die Leibeigenschaft erklärte sie das Eigentum für frei und war besonders stolz darauf, dass der Staat aufgehört habe, ein Klassenstaat zu sein.

Indessen blieb der Staat nach wie vor eine Maschine, die den Kapitalisten hilft, die arme Bauernschaft und die Arbeiterklasse in Botmäßigkeit zu halten, äußerlich aber war er frei. Er verkündet das allgemeine Wahlrecht, erklärt durch den Mund seiner Vorkämpfer, Prediger, Gelehrten und Philosophen, er sei kein Klassenstaat. Sogar jetzt, wo der Kampf der sozialistischen Sowjetrepubliken gegen ihn begonnen hat, beschuldigen sie uns, wir verletzten die Freiheit, wir errichteten einen Staat, der auf Zwang, Unterdrückung der einen durch die anderen aufgebaut sei, während sie den Staat des ganzen Volkes, den demokratischen Staat darstellten. Diese Frage, die Frage des Staates, hat jetzt, zu Beginn der sozialistischen Revolution in der ganzen Welt und gerade während des Sieges der Revolution in einigen Ländern, wo der Kampf gegen das Weltkapital sich besonders verschärft hat, diese Frage hat jetzt die allergrößte Bedeutung gewonnen und ist, man kann sagen, zur wundesten Frage, zum Brennpunkt aller politischen Fragen und aller politischen Diskussionen der Gegenwart geworden.

Welche Partei wir auch nehmen, sei es in Russland oder in einem beliebigen zivilisierteren Land, fast alle politischen Diskussionen, Differenzen und Meinungen drehen sich jetzt um den Begriff des Staates. Ist der Staat in einem kapitalistischen Land, in einer demokratischen Republik – besonders in solchen wie die Schweiz oder Amerika, in den allerfreiesten demokratischen Republiken, ist der Staat der Ausdruck des Volkswillens, die Zusammenfassung der Meinung des ganzen Volkes, der Ausdruck des nationalen Willens usw., – oder ist der Staat eine Maschine, mit deren Hilfe die dortigen Kapitalisten ihre Macht über die Arbeiterklasse und die Bauernschaft aufrechterhalten können? Das ist die Grundfrage, um die sich jetzt in der ganzen Welt die politischen Debatten drehen. Was wird über den Bolschewismus gesagt? Die bürgerliche Presse schimpft auf die Bolschewiki. Ihr werdet keine Zeitung finden, die nicht die landläufige Beschuldigung gegen die Bolschewiki wiederholte, sie verletzten die Volksherrschaft. Wenn unsere Menschewiki und Sozialrevolutionäre in ihrer Seeleneinfalt (vielleicht ist das aber gar keine Einfalt oder vielleicht ist es eine Einfalt, von der es heißt, dass sie schlimmer ist als Betrügerei) glauben, dass sie die Entdecker und Erfinder der Beschuldigung seien, die Bolschewiki hätten die Freiheit und Volksherrschaft verletzt, so sind sie in ganz lächerlicher Weise in einem Irrtum befangen. Gegenwärtig gibt es unter den reichsten Zeitungen der reichsten Länder, die Dutzende von Millionen zu ihrer Verbreitung aufwenden. um die bürgerliche Lüge und die imperialistische Politik in Dutzenden von Millionen Exemplaren zu verbreiten, nicht eine einzige, die diese grundlegenden Argumente und Anschuldigungen gegen den Bolschewismus nicht wiederholte: dass Amerika, England und die Schweiz fortschrittliche Staaten seien, die auf Volksherrschaft beruhten, die bolschewistische Republik dagegen ein Räuberstaat sei, der keine Freiheit kenne, und dass die Bolschewiki! die Idee der Volksherrschaft verletzten und sogar so weit gegangen seien, die Konstituante auseinanderzujagen. Diese schrecklichen Anschuldigungen gegen die Bolschewiki werden in der ganzen Welt wiederholt. Diese Beschuldigungen führen uns direkt zu der Frage, was der Staat ist. Um diese Beschuldigungen zu verstehen, um sich in ihnen zurechtzufinden, ganz bewusst zu ihnen Stellung zu nehmen, und zwar nicht nur auf Grund von Gerüchten, sondern auf Grund einer festen Meinung, muss man klar verstehen, was der Staat ist. Wir haben es hier mit allen möglichen kapitalistischen Staaten und allen jenen Lehren zu ihrer Verteidigung zu tun, die vor dem Kriege entstanden sind. Um an die Lösung der Frage richtig heranzugehen, muss man sich allen diesen Lehren und Anschauungen gegenüber kritisch verhalten.

Ich nannte euch schon als Behelf die Engelssche Schrift „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“. In ihr wird gesagt, dass jeder Staat, in dem das Privateigentum an Grund und Boden und an den Produktionsmitteln besteht, in dem das Kapital herrscht, mag er auch noch so demokratisch sein, ein kapitalistischer Staat ist, eine Maschine in den Händen der Kapitalisten ist, dazu bestimmt, die Arbeiterklasse und die arme Bauernschaft in Botmäßigkeit zu halten. Das allgemeine Wahlrecht aber, die Konstituierende Versammlung, das Parlament – das ist nur die Form, eine Art Wechsel, der am Wesen der Sache nicht das mindeste ändert.

Die Form der Herrschaft des Staates kann verschieden sein: das Kapital äußert seine Kraft in einer Weise dort, wo die eine Form, und in anderer Weise, wo eine andere Form besteht, doch dem Wesen nach bleibt die Macht in den Händen des Kapitals, gleichviel ob es ein Zensus- oder ein anderes Wahlrecht oder eine demokratische Republik gibt, ja, je demokratischer sie ist, um so brutaler, zynischer ist die Herrschaft des Kapitals. Eine der demokratischsten Republiken der Welt sind die Vereinigten Staaten von Nordamerika – und nirgends äußert sich so wie in diesem Lande (wer dort nach 1905 gewesen ist, hat sicherlich eine Vorstellung davon) die Macht des Kapitals, die Macht eines Häufleins von Milliardären über die ganze Gesellschaft so brutal, mit so unverhüllter Korruption wie in Amerika. Das Kapital, wenn es einmal existiert, herrscht über die ganze Gesellschaft, und keine demokratische Republik, kein Wahlrecht ändert etwas am Wesen der Sache.

Die demokratische Republik und das allgemeine Wahlrecht waren im Vergleich mit dem Leiheigenschaftssystem ein gewaltiger Fortschritt: sie gaben dem Proletariat die Möglichkeit, den jetzigen Grad von Vereinigung, von Geschlossenheit zu erreichen, jene wohlorganisierten, disziplinierten Reihen zu bilden, die den systematischen Kampf gegen das Kapital führen. Nichts auch nur annähernd gleiches gab es bei den leibeigenen Bauern, von den Sklaven gar nicht zu sprechen. Die Sklaven, wie wir wissen, erhoben sich, meuterten, leiteten Bürgerkriege ein, aber niemals konnten sie eine klassenbewusste Mehrheit, den Kampf leitende Parteien schaffen, konnten nicht klar verstehen, welchem Ziel sie zustrebten, und erwiesen sich selbst in den revolutionärsten Momenten der Geschichte stets als Schachfiguren in den Händen der herrschenden Klassen. Die bürgerliche Republik, das Parlament, das allgemeine Wahlrecht – alles dies stellt vom Standpunkt der Weltentwicklung der Gesellschaft einen riesigen Fortschritt dar. Die Menschheit schritt dem Kapitalismus entgegen und erst der Kapitalismus gab, dank der städtischen Kultur, der unterdrückten Klasse der Proletarier die Möglichkeit, sich ihrer selbst bewusst zu werden und jene internationale Arbeiterbewegung zu schaffen, jene Millionen der in der ganzen Welt in Parteien organisierten Arbeiter –, jene sozialistischen Parteien, die bewusst den Kampf der Massen leiten. Ohne Parlamentarismus, ohne Wahlrecht wäre diese Entwicklung der Arbeiterklasse unmöglich gewesen. Das ist auch der Grund, warum das alles in den Augen der breitesten Massen eine so große Bedeutung erlangt hat. Deshalb erscheint der Umschwung so schwierig.

Nicht nur die bewussten Heuchler, die Gelehrten und Pfaffen unterstützen und verteidigen diesen bürgerlichen Schwindel, dass der Staat frei und berufen sei, die Interessen aller zu vertreten, sondern auch Massen von Menschen, die aufrichtig die alten Vorurteile wiederholen und den Übergang von der alten kapitalistischen Gesellschaft zum Sozialismus nicht begreifen können. Nicht nur Leute, die sich in direkter Abhängigkeit von der Bourgeoisie befinden, nicht nur jene, die sich unter dem Druck des Kapitals befinden oder von diesem Kapital bestochen sind (im Dienst des Kapitals steht eine Menge von allen möglichen Gelehrten, Künstlern, Pfaffen usw.), sondern auch Leute, die sich einfach unter dem Einfluss der Vorurteile von der bürgerlichen Freiheit befinden –, sie alle sind in der ganzen Welt gegen den Bolschewismus losgezogen, weil die Sowjetrepublik bei ihrer Gründung diesen bürgerlichen Schwindel beiseite geworfen und offen erklärt hat: ihr nennt euren Staat frei, in Wirklichkeit aber ist, solange das Privateigentum besteht, euer Staat, mag er auch eine demokratische Republik sein, nichts anderes als eine Maschine in den Händen der Kapitalisten zur Unterdrückung der Arbeiter, und je freier der Staat ist, um so deutlicher kommt das zum Ausdruck. Beispiele dafür sind in Europa die Schweiz, in Amerika die Vereinigten Staaten. Nirgends herrscht das Kapital so zynisch und rücksichtslos, und nirgends kann man dies mit solcher Klarheit sehen wie gerade in diesen Ländern, obwohl es demokratische Republiken sind – wie schön auch immer ihre Fassade aussehen mag –, trotz allem Gerede über werktätige Demokratie, über die Gleichheit aller Bürger. In Wirklichkeit herrscht in der Schweiz und in Amerika das Kapital, und alle Versuche der Arbeiter, irgendeine einigermaßen ernsthafte Verbesserung ihrer Lage zu erreichen, werden sofort mit dem Bürgerkrieg beantwortet. In diesen Ländern gibt es weniger Soldaten, ein geringeres stehendes Heer. In der Schweiz gibt es eine Miliz, und jeder Schweizer hat ein Gewehr zu Hause. In Amerika gab es bis in die letzte Zeit hinein kein stehendes Heer, und wenn daher ein Streik ausbricht, bewaffnet sich die Bourgeoisie, mietet Söldlinge und unterdrückt den Streik, und nirgends geht diese Unterdrückung der Arbeiterbewegung mit so erbarmungsloser Brutalität vor sich wie in der Schweiz und in Amerika, und nirgends zeigt sich im Parlament der Einfluss des Kapitals so stark wie gerade hier. Die Macht des Kapitals ist alles, die Börse ist alles, das Parlament, die Wahlen aber sind Marionetten, Strohpuppen … Doch je weiter, desto mehr gehen den Arbeitern die Augen auf, desto mehr breitet sich der Gedanke der Sowjetmacht aus, besonders nach dem blutigen Gemetzel, das wir eben erst erlebt haben. Immer klarer wird für die Arbeiterklasse die Notwendigkeit des schonungslosen Kampfes gegen die Kapitalisten.

In welche Formen immer die Republik sich hüllen mag, mag sie die allerdemokratischste Republik sein, wenn sie aber eine bürgerliche Republik ist, wenn in ihr das Privateigentum an Grund und Boden, an den Fabriken und Werken geblieben ist und das Privatkapital die ganze Gesellschaft in Lohnsklaverei hält, d. h. wenn in ihr nicht das erfüllt wird, was das Programm unserer Partei und die Sowjetverfassung verkündet, so ist dieser Staat eine Maschine, um die einen durch die anderen zu unterdrücken. Und diese Maschine werden wir in die Hand jener Klasse nehmen, die die Macht des Kapitals stürzen muss. Wir werden alle alten Vorurteile, dass der Staat allgemeine Gleichheit bedeute, über Bord werfen. Das ist ein Schwindel: solange es Ausbeutung gibt, kann es keine Gleichheit geben. Der Gutsherr kann dem Arbeiter nicht gleich sein, der Hungrige nicht dem Satten. Die Maschine, die sich Staat nannte, vor der die Menschen mit abergläubischer Verehrung haltmachen und alten Märchen glauben, dass sie die Macht des ganzen Volkes sei –, diese Maschine wirft das Proletariat beiseite und sagt: das ist eine bürgerliche Lüge. Wir haben diese Maschine den Kapitalisten weggenommen, haben sie uns genommen. Mit dieser Maschine oder mit diesem Knüttel werden wir jede Ausbeutung vernichten, und wenn in der Welt keine Möglichkeit der Ausbeutung mehr bleibt, wenn es keine Grundbesitzer, keine Fabrikbesitzer mehr geben wird, wenn es nicht mehr so sein wird, dass die einen übersättigt sind, während die anderen hungern –, erst dann, wann es keine Möglichkeiten mehr dafür geben wird, erst dann werden wir diese Maschine zum alten Eisen werfen. Dann wird es keinen Staat, keine Ausbeutung mehr geben. Das ist der Standpunkt unserer Kommunistischen Partei. Ich hoffe, dass wir in den folgenden Vorlesungen auf diese Frage zurückkommen werden -– und zwar des öfteren.

1 Die russische Bezeichnung für Leibeigenschaft – krepostnoje prawo – ist vom Wortstamm ,,krep“ abgeleitet, was Fesselung, Festmachen bedeutet. D. Red.

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