Lenin‎ > ‎1915‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19150800 Die Friedensfrage

Wladimir I. Lenin: Die Friedensfrage

[Geschrieben im August 1915. Zum ersten Mal veröffentlicht im Jahre 1924 in der Zeitschrift „Proletarskaja Rewoluzija“ Nr. 5 (28). Nach Sämtliche Werke, Band 18, Wien-Berlin 1929, S. 300-305]

Die Friedensfrage als aktueller Programmpunkt der Sozialisten und im Zusammenhang damit die Frage der Friedensbedingungen interessiert jedermann. Man kann der Berner Tagwacht Anerkennung dafür nicht versagen, dass wir bei ihr auf Versuche stoßen, diese Frage nicht vom kleinbürgerlich-nationalen, sondern vom wirklich proletarischen und internationalen Standpunkt zu stellen. Vortrefflich war die Bemerkung der Redaktion in Nr. 73 („Friedenssehnsucht“1), dass alle deutschen Sozialdemokraten, die den Frieden wünschen, von der Politik der Junkerregierung „sich lossagen“ müssen. Vortrefflich war auch das Auftreten des Genossen A. P. (in Nr. 73 und 752) gegen die „Wichtigtuerei machtloser Schönredner“, die sich vergeblich bemühen, die Friedensfrage vom kleinbürgerlichen Standpunkt zu lösen.

Sehen wir zu, wie man als Sozialist diese Frage zu stellen hat.

Die Friedenslosung kann entweder in Verbindung mit bestimmten Friedensbedingungen oder ohne jegliche Bedingungen, als Kampf nicht um einen bestimmten Frieden, sondern um den Frieden ohne weiteres, aufgestellt werden. Es ist klar, dass wir es im letzteren Falle nicht nur mit einer nichtsozialistischen Losung zu tun haben, sondern dass dies überhaupt eine vollkommen inhaltslose und sinnlose Losung ist. Für den Frieden schlechthin sind unbedingt alle, Kitchener, Joffre, Hindenburg und Nikolaus der Blutige nicht ausgenommen, denn jeder von ihnen wünscht den Krieg zu beenden: – der springende Punkt ist aber gerade der, dass jeder imperialistische (d. h. räuberische, die Unterjochung anderer Völker bezweckende) Friedensbedingungen zu Nutz und Frommen „seiner“ Nation stellt. Wenn man Losungen ausgibt, so muss ihr Zweck darin bestehen, dass in der Agitation und Propaganda den Massen der unversöhnliche Gegensatz zwischen dem Sozialismus und dem Kapitalismus (Imperialismus) klargemacht wird; sie dürfen nicht den Zweck haben, zwei feindliche Klassen und zwei feindliche politische Richtungen mit Hilfe eines die allerverschiedensten Dinge „vereinigenden“ Wörtchens zu „versöhnen“.

Weiter. Gibt es eine Möglichkeit, die Sozialisten verschiedener Länder um bestimmte Friedensbedingungen zu vereinigen? Wenn ja, so muss zu diesen Bedingungen unbedingt die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts für alle Nationen und der Verzicht auf jede „Annexion“, d. h. auf jede Verletzung dieses Rechts, gehören. Wenn man dieses Recht aber nur einigen Nationen zuerkennen will, so bedeutet dies ein Festhalten an den Privilegien gewisser Nationen, d. h. man ist dann Nationalist und Imperialist und nicht Sozialist. Spricht man dieses Recht aber allen Nationen zu, so darf man z. B. nicht nur Belgien allein hervorheben, sondern man muss alle unterdrückten Völker einbeziehen, und zwar die in Europa (die Irländer in England, die Italiener in Nizza, die Dänen usw. in Deutschland, 57 Prozent der Bevölkerung Russlands usw.) ganz genau so wie die außereuropäischen, d. h. alle Kolonialvölker. Genosse A. P. hat ganz zur rechten Zeit an sie erinnert. England, Frankreich und Deutschland haben zusammen eine Bevölkerung von etwa 150 Millionen, aber in den Kolonien halten sie eine Bevölkerung von mehr als 400 Millionen unter ihrem Joch!! Das Wesen des imperialistischen Kriegs, d. h. des Kriegs für die Interessen der Kapitalisten, besteht nicht nur darin, dass man mit diesem Krieg die Unterdrückung neuer Nationen, die Aufteilung der Kolonien bezweckt, es besteht auch darin, dass der Krieg in der Hauptsache von vorgeschrittenen Nationen geführt wird, die eine ganze Reihe von anderen Völkern, ja die größere Hälfte der ganzen Bevölkerung der Erde unter ihrem Joch halten.

Die deutschen Sozialdemokraten, die die Annexion Belgiens für gerechtfertigt erklären oder sich damit abzufinden wissen, sind in Wirklichkeit keine Sozialdemokraten, sondern Imperialisten und Nationalisten, denn was sie verteidigen, ist das „Recht“ der deutschen Bourgeoisie (zum Teil auch der deutschen Arbeiter), die Belgier, die Elsässer, die Dänen, die Polen, die Neger in Afrika usw. zu unterdrücken. Das sind nicht Sozialisten, sondern Handlanger der deutschen Bourgeoisie, der sie bei der Plünderung fremder Nationen behilflich sind. Aber auch die belgischen Sozialisten (es ist genau dasselbe), sie, die nur die eine Forderung stellen: Freigabe und Entschädigung Belgiens, verfechten in Wirklichkeit die Forderungen der belgischen Bourgeoisie, die wie zuvor die 15-Millionen-Bevölkerung im Kongogebiet ausplündern und Konzessionen und Vorrechte auch in anderen Ländern erlangen will. Die belgischen Bourgeois haben gegen 3 Milliarden Francs im Ausland investiert; die Beschützung der Profite, die aus diesen Milliarden fließen, mit allerhand Schwindelmethoden und Spitzbübereien – das ist in Wahrheit das „nationale Interesse“ des „heroischen Belgien“. Dasselbe gilt – und zwar in noch weit höherem Maße – auch von Russland, England, Frankreich, Japan.

Wenn also die Forderung nach Freiheit der Nationen keine lügnerische Phrase sein soll, hinter der sich der Imperialismus und Nationalismus einiger bestimmter Länder verbirgt, so muss sie auf alle Völker und auf alle Kolonien ausgedehnt werden. Offensichtlich aber ist eine derartige Forderung inhaltslos ohne eine ganze Anzahl von Revolutionen in allen vorgeschrittenen Ländern. Damit nicht genug: diese Forderung ist unerfüllbar ohne eine erfolgreiche sozialistische Revolution.

Bedeutet dies etwa, dass die Sozialisten sich zu der von immer breiter werdenden Massen erhobenen Friedensforderung gleichgültig verhalten dürfen? Ganz und gar nicht. Die Losungen der klassenbewussten Avantgarde der Arbeiterschaft (der revolutionären Sozialdemokratie) und die elementaren Forderungen der Massen sind zweierlei Dinge. Das Friedensverlangen ist eines der wichtigsten Symptome für die beginnende Ernüchterung über die bürgerliche Lüge von den angeblichen „Befreiungszielen“ des Kriegs, über die Lüge von der „Vaterlandsverteidigung“ und den sonstigen Schwindel, den die Kapitalistenklasse am gemeinen Volk verübt. Diesem Symptom müssen die Sozialisten ihre größte Aufmerksamkeit zuwenden. Es müssen alle Anstrengungen auf die Ausnutzung der Friedensstimmung der Massen gerichtet werden. Aber wie soll das geschehen? Das einfache Anerkennen und Wiederholen der Losung des Friedens wäre bloße Begünstigung der „Wichtigtuerei machtloser Schönredner“ (die häufig noch etwas Schlimmeres sind, nämlich heuchlerische Schönredner). Es wäre eine Irreführung des Volkes, weil man in ihm dadurch die Illusion wecken würde, als wären die jetzigen Regierungen, die jetzigen herrschenden Klassen auch ohne „Belehrung“ (vielmehr: ohne ihre Beseitigung) durch eine Anzahl von Revolutionen imstande, einen die Demokratie und die Arbeiterklasse auch nur halbwegs zufriedenstellenden Frieden herbeizuführen. Nichts wäre von schlimmerem Schaden als ein solcher Trug. Nichts, das besser dazu angetan wäre, den Arbeitern den Blick zu trüben, die trügerische Vorstellung bei ihnen zu erwecken, als sei der Widerspruch zwischen Kapitalismus und Sozialismus nicht tiefgehend; nichts, das geeigneter wäre, die kapitalistische Sklaverei zu beschönigen. Nein, wir müssen die Friedensstimmung ausnutzen, um den Massen Klarheit darüber zu verschaffen, dass die guten Dinge, die sie vom Frieden erwarten, unmöglich sind ohne die Durchführung verschiedener Revolutionen.

Beendigung der Kriege, Friede unter den Völkern, Aufhören von Raub und Gewalt – das gerade ist unser Ideal, aber nur bürgerliche Sophisten sind imstande, die Massen zu betören, indem sie dieses Ideal von der sofortigen und direkten Propagierung revolutionärer Aktionen los trennen Die Basis für diese Propaganda ist gegeben; um sie tatsächlich zu betreiben, bedarf es nur des Bruches mit den Verbündeten der Bourgeoisie, den Opportunisten, die der revolutionären Arbeit direkt (Denunziationen mit einbegriffen) wie indirekt Hindernisse in den Weg legen.

Die Losung der Selbstbestimmung der Nationen muss gleicherweise im Zusammenhang mit der imperialistischen Epoche des Kapitalismus aufgestellt werden. Wir sind nicht für den Status quo, wir sind nicht für die utopische Spießbürgeridee, man solle sich von den großen Kriegen fernhalten. Wir sind für den revolutionären Kampf gegen den Imperialismus, d. h. gegen den Kapitalismus. Der Imperialismus besteht eben in dem Bestreben der Nationen, die eine ganze Anzahl fremder Nationen unter ihrem Joch halten, diese ihre Unterdrückerherrschaft noch weiter auszudehnen und zu festigen, die Kolonien neu aufzuteilen. Den Angelpunkt, um den sich die ganze Frage der Selbstbestimmung der Nationen in unserer Epoche dreht, gibt gerade das Verhalten der Sozialisten der unterdrückenden Nationen ab. Ein Sozialist, der einer Unterdrückernation (England, Frankreich, Deutschland, Japan, Russland, Vereinigte Staaten u. a.) angehört und das Recht der unterdrückten Nationen auf Selbstbestimmung (d. h. auf freie Lostrennung) nicht anerkennt und nicht vertritt, ist in Wirklichkeit nicht Sozialist, sondern Chauvinist.

Nur eine solche Auffassung der Dinge führt zu aufrichtigem, konsequentem Kampf gegen den Imperialismus, zur proletarischen und nicht zur spießbürgerlichen Behandlung der nationalen Frage (in unserer Zeit). Nur eine solche Auffassung ist die konsequente Verwirklichung des Prinzips des Kampfes gegen jegliche nationale Unterdrückung, nur sie kann das zwischen den Proletariern der unterdrückenden und denen der unterdrückten Nationen bestehende Misstrauen aus dem Wege räumen, zum solidarischen, internationalen Kampf für die sozialistische Revolution führen (also für das allein realisierbare Regime voller nationaler Gleichberechtigung), statt für die spießbürgerlich-utopische Vorstellung von einer Freiheit aller kleinen Staaten schlechthin, bei Weiterbestehen des Kapitalismus.

Eben dieser Standpunkt ist es, den unsere Partei, d. h. der zum Zentralkomitee der russischen Sozialdemokratie stehende Teil, vertritt. Und genau denselben Standpunkt vertrat auch Marx, als er das Proletariat lehrte, dass „ein Volk nicht frei sein kann, das andere Völker unterdrückt“. Als Marx die Lostrennung Irlands von England forderte, tat er es eben unter diesem Gesichtspunkt, d. h. im Namen der Interessen der Emanzipationsbewegung der englischen (nicht bloß der irischen) Arbeiter.

Wenn die englischen Sozialisten Irlands Recht auf Lostrennung nicht anerkennen und nicht verfechten, wenn die Franzosen nicht dasselbe Recht für das italienische Nizza, die Deutschen nicht für Elsass-Lothringen, das dänische Schleswig und Polen zubilligen, desgleichen die Russen gegenüber Polen, Finnland, der Ukraine usw., die Polen gegenüber der Ukraine – wenn alle diese Sozialisten der „großen“ Mächte, d. h. der große Räubereien verübenden Mächte, nicht eben dieses Recht den Kolonien zugestehen, so gerade darum und nur darum, weil sie in Wirklichkeit nicht Sozialisten, sondern Imperialisten sind. Und lächerlich wäre es, sich Illusionen zu machen, als ob eine sozialistische Politik von Leuten zu erwarten wäre, die für das „Selbstbestimmungsrecht“ der unterdrückten Völker nicht eintreten und dabei selbst Unterdrückernationen angehören.

Anstatt es den heuchlerischen Schönrednern zu überlassen, das Volk mit Phrasen und Versprechungen von einem möglichen demokratischen Frieden zu betrügen, müssen die Sozialisten die Massen darüber aufklären, dass ohne eine ganze Anzahl von Revolutionen und ohne revolutionären Kampf in jedem Lande gegen die eigene Regierung auch nur ein halbwegs demokratischer Friede eine Unmöglichkeit ist. Anstatt es den bürgerlichen Politikanten zu erlauben, dass sie das Volk mit Phrasen von der Freiheit der Nationen betrügen, müssen die Sozialisten die Massen der unterdrückenden Nationen darüber aufklären, dass ihre Befreiung eine hoffnungslose Sache ist, solange sie selbst zur Unterdrückung anderer Nationen die Hand reichen, solange sie nicht das Recht dieser Nationen auf Selbstbestimmung, d. h. auf eine freie Lostrennung, anerkennen und verfechten. Das ist die für alle Länder gültige sozialistische, nicht imperialistische Politik in der Friedensfrage und in der nationalen Frage. Diese Politik ist allerdings mit den Hochverratsgesetzen meist unvereinbar, – allein ganz dasselbe gilt auch von der Baseler Resolution, an der von fast allen Sozialisten der Unterdrückernationen so schimpflicher Verrat geübt worden ist.

Es gilt zu wählen: entweder für den Sozialismus oder für die Unterwerfung unter die Joffreschen und Hindenburgschen Gesetze, – für den revolutionären Kampf oder für das Lakaientum im Dienste des Imperialismus. Einen Mittelweg gibt es hier nicht. Und der schlimmste aller Schäden, die man dem Proletariat zufügen kann, ist der, den ihm die heuchlerischen (oder stumpfsinnigen) Erfinder einer Politik der „mittleren Linie“ bringen.

1 „Friedenssehnsucht": unter diesem Titel erschien ein Artikel in der „Berner Tagwacht“ Nr. 73 vom 16./29. März 1915.

2 Es handelt sich um die Artikel von A. Pannekoek „Sozialistische Friedensbedingungen“ in Nr. 73 und 75 der „Berner Tagwacht“ vom 29. und 31. März 1915.

Kommentare