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Wladimir I. Lenin 19170408 Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter

Wladimir I. Lenin: Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter

[Geschrieben am 8. April (26. März) 1917. Zum ersten Mal veröffentlicht 1921 in der Zeitschrift „Proletarskaja Revoljuzija" Nr. 2. Nach Sämtliche Werke Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 85-93]

Genossen! Arbeiter der Schweiz!

Im Begriff, aus der Schweiz nach Russland abzureisen, um die revolutionär-internationalistische Arbeit in unserer Heimat fortzusetzen, senden wir, Mitglieder der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, die vom Zentralkomitee geführt wird (im Gegensatz zu der anderen Partei, die den gleichen Namen trägt, aber vom Organisationskomitee geführt wird), Euch unsere brüderlichen Grüße und sprechen Euch unseren tiefen kameradschaftlichen Dank für Euer kameradschaftliches Verhalten gegenüber den Emigranten aus.

Die offenkundigen Sozialpatrioten und Opportunisten, die Schweizer Grütlianer, die ebenso wie die Sozialpatrioten aller Länder aus dem Lager des Proletariats in das Lager der Bourgeoisie übergegangen sind, haben Euch offen aufgefordert, gegen den schädlichen Einfluss der Ausländer auf die Schweizer Arbeiterbewegung zu kämpfen; die verkappten Sozialpatrioten und Opportunisten, die die Mehrheit der Führer der Sozialistischen Partei der Schweiz bilden, haben in versteckter Form dieselbe Politik betrieben; wir stehen nicht an, hier zu erklären, dass wir bei den revolutionären sozialistischen Arbeitern der Schweiz, die auf dem internationalistischen Standpunkt stehen, die größten Sympathien gefunden und aus dem kameradschaftlichen Verkehr mit ihnen viel Nutzen für uns gezogen haben.

Wir haben zu jenen Fragen der Schweizer Bewegung, deren Kenntnis eine lange Tätigkeit in der hiesigen Bewegung erfordert, stets mit besonderer Vorsicht Stellung genommen. Aber diejenigen unter uns – es waren kaum mehr als 10 bis 15 Mann –, die Mitglieder der Schweizer Arbeiterpartei waren, haben es für ihre Pflicht gehalten, in den allgemeinen und grundsätzlichen Fragen der internationalen und sozialistischen Bewegung unseren Standpunkt, den Standpunkt der „Zimmerwalder Linken"1, entschieden zu vertreten und nicht nur den Sozialpatriotismus, sondern auch die Richtung des sogenannten „Zentrums" zu bekämpfen, zu dem R. Grimm, F. Schneider, J. Schmidt und andere in der Schweiz, Kautsky, Haase und die „Arbeitsgemeinschaft"2 in Deutschland, Longuet, Pressemane und andere in Frankreich, Snowden, Ramsay MacDonald und andere in England, Turati, Treves und ihre Freunde in Italien, die obenerwähnte Partei des „Organisationskomitees" (Axelrod, Martow, Tschcheïdse, Skobelew und andere) in Russland gehören.

Wir haben mit den revolutionären Sozialdemokraten der Schweiz solidarisch zusammengearbeitet, namentlich mit jenen Genossen, die sich zum Teil um die Zeitschrift „Freie Jugend"3 gruppierten, die (in deutscher und französischer Sprache) ein Referendum verfassten und verbreiteten über die Einberufung eines Parteitages zum April 1917, der die Frage der Stellung zum Kriege entscheiden sollte; die auf dem Züricher Kantonal-Parteitag in Töß die Resolutionen der Jungen und „Linken" zur Kriegsfrageeinbrachten; die im März 1917 ein Flugblatt in deutscher und französischer Sprache unter dem Titel „Unsere Friedensbedingungen" herausbrachten und es in einigen Gegenden der französischen Schweiz verbreiteten usw.

Wir senden diesen Genossen, mit denen wir als Gesinnungsgenossen Schulter an Schulter zusammen gearbeitet haben, unsere brüderlichen Grüße.

Es unterlag und unterliegt für uns keinem Zweifel, dass die imperialistische Regierung Englands den russischen Internationalisten, den unversöhnlichen Gegnern der Fortsetzung des imperialistischen Krieges durch Russland, um keinen Preis die Durchreise nach Russland erlauben wird.

In diesem Zusammenhang müssen wir kurz darlegen, welche Auffassung wir von den Aufgaben der russischen Revolution haben. Wir halten das für um so notwendiger, als wir uns durch Vermittlung der Schweizer Arbeiter an die deutschen, französischen und italienischen Arbeiter wenden können und wenden müssen, die dieselben Sprachen sprechen, wie die Bevölkerung der Schweiz, die bis heute die Wohltaten des Friedens und die verhältnismäßig größte politische Freiheit genießt.

Wir stehen in unbedingter Treue zu der Erklärung, die wir in dem Zentralorgan unserer Partei, in der in Genf herausgegebenen Zeitung „Sozialdemokrat", in Nr. 47, vom 13. Oktober 1915, abgegeben haben. Wir haben dort gesagt, dass, wenn in Russland die Revolution siegt und eine republikanische Regierung an die Macht kommt, die für die Fortsetzung des imperialistischen Krieges, des Krieges zur Eroberung Konstantinopels, Armeniens, Galiziens usw. usw. ist, wir entschiedene Gegner einer solchen Regierung, gegen die „Verteidigung des Vaterlandes" in einem solchen Kriege sein werden.

Ungefähr dieser Fall ist eingetreten. Die neue Regierung Russlands, die mit dem Bruder Nikolaus II. über die Wiederherstellung der Monarchie in Russland verhandelt hat und in der die Monarchisten Lwow und Gutschkow die wichtigsten und entscheidendsten Posten innehaben, diese Regierung versucht die Arbeiter zu betrügen, indem sie die Losung aufstellt „Die Deutschen müssen Wilhelm stürzen". (Stimmt! Warum aber fügt man nicht hinzu, dass die Engländer, Italiener u. a. ihre Könige und die Russen ihre Monarchisten Lwow und Gutschkow stürzen müssen?) Diese Regierung versucht durch eine solche Losung und durch die Geheimhaltung jener imperialistischen Raubverträge, die der Zarismus mit Frankreich, England usw. geschlossen und die die Regierung Gutschkow-Miljukow-Kerenski bestätigt hat, ihren imperialistischen Krieg gegen Deutschland für einen „Verteidigungskrieg" auszugeben (d. h. für einen gerechten, sogar vom Standpunkt des Proletariats zulässigen Krieg); sie versucht die Verteidigung der räuberischen, imperialistischen Ziele des russischen, englischen usw. Kapitals für eine „Verteidigung" der russischen Republik auszugeben (die es in Russland noch nicht gibt und deren Errichtung Lwow und Gutschkow nicht einmal versprochen haben).

Wenn die letzten telegraphischen Nachrichten stimmen, dass zwischen den offenen russischen Sozialpatrioten (wie Plechanow, Sassulitsch, Potressow usw.) und der Partei des „Zentrums", der Partei des „Organisationskomitees", der Partei der Tschcheïdse, Skobelew usw. eine gewisse Annäherung stattgefunden hat auf der Grundlage der Losung: „Solange die Deutschen Wilhelm nicht gestürzt haben, ist unser Krieg ein Verteidigungskrieg", – wenn das stimmt, so werden wir gegen die Partei der Tschcheïdse, Skobelew usw., die wir ihrer opportunistischen, schwankenden politischen Haltung wegen früher schon immer bekämpft haben, nunmehr mit verdoppelter Energie kämpfen.

Unsere Losung ist: keinerlei Unterstützung der Regierung Gutschkow-Miljukow! Wer da sagt, dass diese Unterstützung notwendig sei im Interesse des Kampfes gegen die Wiederherstellung des Zarismus, der betrügt das Volk. Im Gegenteil: gerade die Regierung Gutschkow hat ja bereits über die Wiederherstellung der Monarchie in Russland verhandelt. Nur die Bewaffnung und Organisierung des Proletariats können die Gutschkow u. Co. an der Wiederherstellung der Monarchie in Russland hindern. Nur das revolutionäre Proletariat Russlands und ganz Europas ist, wenn es dem Internationalismus die Treue hält, imstande, die Menschheit von den Schrecken des imperialistischen Krieges zu erlösen.

Wir verkennen die ungeheuren Schwierigkeiten nicht, vor denen die revolutionär-internationalistische Vorhut des Proletariats Russland steht. In einer solchen Zeit, wie der gegenwärtigen, sind die jähesten und plötzlichsten Änderungen möglich. In Nr. 47 des „Sozialdemokrat" haben wir auf die notwendig auftauchende Frage, was unsere Partei machen würde, wenn die Revolution sie sofort an die Macht brächte, eine klare und unumwundene Antwort gegeben. Wir haben geantwortet: 1. wir würden unverzüglich allen kriegführenden Völkern den Frieden vorschlagen; 2. wir würden unsere Friedensbedingungen, die die sofortige Befreiung aller Kolonien und aller unterdrückten oder nicht voll berechtigten Völker fordern, veröffentlichen; 3. wir würden die Befreiung der Völker, die von den Großrussen unterdrückt werden, sofort in Angriff nehmen und auch vollenden; 4. wir geben uns keinen Augenblick der Täuschung hin, dass solche Bedingungen nicht nur für die monarchistische, sondern auch für die republikanische Bourgeoisie Deutschlands unannehmbar sein würden, und nicht nur für Deutschland, sondern auch für die kapitalistischen Regierungen Englands und Frankreichs.

Wir würden gegen die deutsche Bourgeoisie, und nicht nur gegen die deutsche, einen revolutionären Kampf führen müssen. Wir würden diesen Kampf aufnehmen. Wir sind keine Pazifisten. Wir sind Gegner imperialistischer Kriege, die um die Verteilung der Beute unter die Kapitalisten geführt werden, aber wir haben es stets als Unsinn bezeichnet, dass das revolutionäre Proletariat auch revolutionären Kriegen abschwören sollte, die sich als notwendig erweisen können im Interesse des Sozialismus.

Die Aufgabe, die wir in Nr. 47 des „Sozialdemokrat" skizzierten, ist riesengroß. Sie kann nur im Verlauf einer langen Reihe von gewaltigen Klassenschlachten zwischen Proletariat und Bourgeoisie gelöst werden. Nicht unsere Ungeduld, nicht unsere Wünsche, sondern die objektiven Bedingungen, erzeugt durch den imperialistischen Krieg, haben jedoch die gesamte Menschheit in eine Sackgasse getrieben, sie vor das Dilemma gestellt: entweder zuzulassen, dass weitere Millionen Menschen zugrunde gehen und die ganze europäische Kultur endgültig zerstört wird, oder Übernahme der Macht in allen zivilisierten Ländern durch das Proletariat, Verwirklichung der sozialistischen Umwälzung.

Dem russischen Proletariat ist die große Ehre zuteil geworden, die Reihe von Revolutionen, die der imperialistische Krieg mit objektiver Unvermeidlichkeit hervorruft, zu beginnen. Der Gedanke jedoch, das russische Proletariat für das auserwählte revolutionäre Proletariat unter den Arbeitern der anderen Länder zu halten, ist uns absolut fremd. Wir wissen sehr gut, dass das Proletariat Russlands weniger organisiert, vorbereitet und klassenbewusst ist als die Arbeiter der anderen Länder. Nicht besondere Eigenschaften, sondern lediglich besondere geschichtliche Bedingungen haben das Proletariat Russlands auf eine gewisse, vielleicht sehr kurze Zeit zum Vorkämpfer des revolutionären Proletariats der ganzen Welt gemacht.

Russland ist ein Bauernland, eines der rückständigsten europäischen Länder. Der Sozialismus kann dort nicht sofort und unmittelbar siegen. Aber der bäuerliche Charakter des Landes kann angesichts des heute noch gewaltigen Landbesitzes der adeligen Großgrundbesitzer – auf der Grundlage der Erfahrungen von 1905 – der bürgerlich-demokratischen Revolution in Russland einen ungeheuren Schwung verleihen und unsere Revolution in den Prolog zur sozialistischen Weltrevolution verwandeln, zur Stufe zu dieser Revolution werden lassen.

Im Kampfe für diese Ideen, die vollauf bestätigt wurden sowohl durch die Erfahrungen von 1905 als auch im Frühjahr 1917, ist unsere Partei entstanden, hat sie einen unversöhnlichen Kampf gegen alle anderen Parteien geführt. Für diese Ideen werden wir auch in Zukunft kämpfen.

In Russland kann der Sozialismus nicht unmittelbar und unverzüglich siegen. Aber die bäuerliche Masse kann die unvermeidliche Agrarumwälzung, für die die Verhältnisse reif sind, bis zur Enteignung des gesamten unermesslichen Landbesitzes der adligen Grundbesitzer weiter treiben Für diese Losung sind wir stets eingetreten; sie wurde jetzt erneut von dem Petersburger und dem Zentralkomitee unserer Partei und von der Zeitung unserer Partei, der „Prawda", aufgestellt.

Für diese Losung wird das Proletariat kämpfen, ohne sich darüber zu täuschen, dass zwischen den landwirtschaftlichen Lohnarbeitern und den ihnen nahestehenden ärmeren Bauern einerseits und den wohlhabenden Bauern, die durch die Stolypinsche Agrar-„Reform"4 (1907-1914) gestärkt wurden, anderseits erbitterte Klassenkonflikte unvermeidlich sind. Man darf nicht vergessen, dass 104 bäuerliche Abgeordnete in der ersten (1906) und in der zweiten Duma (1907) eine revolutionäre Agrarvorlage eingebracht hatten, derzufolge alle Ländereien nationalisiert und die Verfügung über sie in die Hände örtlicher, auf völlig demokratischer Grundlage gewählter Komitees gelegt werden sollte.

Eine solche Umwälzung wäre an sich noch keineswegs sozialistisch. Aber sie würde der internationalen Arbeiterbewegung einen ungeheuren Ansporn geben. Sie würde die Stellungen der sozialistischen Umwälzung in Russland und ihren Einfluss auf die Landarbeiter und die ärmeren Bauern gewaltig stärken. Diese Umwälzung würde dem städtischen Proletariat die Möglichkeit geben, auf Grund dieses Einflusses solche revolutionäre Organisationen auszubauen, wie die „Arbeiterdeputiertenräte" es sind, die alten Unterdrückungswerkzeuge der bürgerlichen Staaten, Armee, Polizei, Bürokratie, durch sie zu ersetzen und – unter dem Druck des unerträglich schweren imperialistischen Krieges und seiner Folgen – eine Reihe revolutionärer Maßnahmen zur Kontrolle der Produktion und Verteilung der Produkte durchzuführen.

Das russische Proletariat kann die sozialistische Revolution mit seinen eigenen Kräften allein nicht siegreich vollenden. Es kann aber der russischen Revolution einen solchen Schwung verleihen, dass dadurch die besten Vorbedingungen für diese Revolution geschaffen werden und dass sie in einem gewissen Sinne begonnen wird. Es kann seinem wichtigsten, seinem zuverlässigsten Bundesgenossen, dem europäischen und amerikanischen sozialistischen Proletariat die Bedingungen für den Eintritt in entscheidende Kämpfe erleichtern.

Mögen die Kleingläubigen darüber verzweifeln, dass die widerlichen Lakaien der imperialistischen Bourgeoisie, die Scheidemänner, Legien, David u. Co. in Deutschland, die Sembat, Guesde, Renaudel u. Co. in Frankreich, die Fabier5 und die „Labouristen"6 in England für eine gewisse Zeit innerhalb des europäischen Sozialismus gesiegt haben. Wir sind fest davon überzeugt, dass die Wellen der Weltrevolution diesen schmutzigen Abschaum sehr bald von der internationalen Arbeiterbewegung wegspülen werden.

In Deutschland ist die Stimmung der proletarischen Masse bereits dem Siedepunkt nahe, derselben Masse, die der Menschheit und dem Sozialismus durch ihre beharrliche, hartnäckige, konsequente organisatorische Arbeit in den langen Jahrzehnten der europäischen „Windstille" von 1871 bis 1914 so viel gegeben hat. Nicht die Verräter Scheidemann, Legien, David u. Co. und auch nicht die schwankenden, von der Routine der „friedlichen" Periode nicht loskommenden Politiker Haase, Kautsky und ihresgleichen repräsentieren die Zukunft des deutschen Sozialismus.

Diese Zukunft gehört jener Richtung, die einen Karl Liebknecht hervorgebracht hat, die die „Spartakus-Gruppe"7 geschaffen hat, der Richtung, die in der Bremer „Arbeiterpolitik"8 Propaganda treibt.

Die objektiven Bedingungen des imperialistischen Krieges sind eine Bürgschaft dafür, dass die Revolution sich nicht auf die erste Etappe der russischen Revolution, dass sie sich nicht auf Russland beschränken wird.

Das deutsche Proletariat ist der treueste, zuverlässigste Verbündete der russischen und der internationalen proletarischen Revolution.

Als unsere Partei im November 1914 die Losung aufstellte: „Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg", in den Krieg der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, für den Sozialismus, wurde diese Losung von den Sozialpatrioten mit Feindseligkeit und boshaftem Spott, von dem sozialdemokratischen „Zentrum" mit ungläubig-skeptischem, charakterlos-abwartendem Schweigen aufgenommen. Der deutsche Sozialchauvinist und Sozialimperialist David bezeichnete sie als „verrückt" und der Vertreter des russischen (und englisch-französischen) Sozialchauvinismus, des Sozialismus in Worten und des Imperialismus in der Praxis, Herr Plechanow, nannte sie ein „Mittelding zwischen Traum und Komödie". Die Vertreter des Zentrums aber schwiegen sich aus oder beschränkten sich auf platte Witzeleien über diese „gerade Linie im luftleeren Raum".

Jetzt, nach dem März 1917, kann nur ein Blinder nicht sehen, dass diese Losung richtig ist. Die Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg wird zur Tatsache.

Es lebe die beginnende proletarische Revolution in Europa!

Im Auftrage der abreisenden Genossen, der Mitglieder der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (vom Zentralkomitee geführt), die diesen Brief in einer Versammlung am 8. April n. St. 1917 billigten

N. Lenin

1 Die internationale sozialistische Konferenz in Zimmerwald (Schweiz) am 5.-8. September 1915 wurde von der sozialistischen Partei Italiens einberufen, um eine gemeinsame internationale Friedensaktion zu organisieren. Vertreten waren teils die offiziellen Parteien als Ganzes (Italien, Russland, Rumänien usw.), teils die oppositionellen und revolutionären Minderheiten, die mehr oder weniger dem Standpunkt des Internationalismus treu geblieben waren. Insgesamt erschienen etwa 30 Delegierte. Als Vertreter von Russland waren anwesend: für das Zentralkomitee der Bolschewiki – Lenin und Sinowjew, für das Organisationskomitee der Menschewiki – Axelrod, Martow und Martynow, für die Partei der Sozialrevolutionäre – Natanson und Tschernow, für die letütiche Sozialdemokratie – Bersin, Trotzki vertrat die Redaktion des „Nasche Slowo", außerdem war noch ein Vertreter des „Bund" anwesend. Von Deutschland nahmen an der Konferenz teil: für die Haase-Ledebour-Gruppe – Georg Ledebour, Adolf Hoffmann und Josef Herzfeld; die Gruppe der „Internationale" (Spartakus) war vertreten durch Ernst Meyer und Bertha Thalheimer; außerdem war noch Julian Borchardt als Vertreter der internationalen Sozialisten Deutschlands (ISD) anwesend. Von der polnischen Sozialdemokratie nahmen Radek (Landesvorstand) und Warski (Hauptvorstand) an der Konferenz teil, von der linken PPS Lapinski. Italien entsandte mehrere Delegierte. Von Frankreich waren als Vertreter der Minoritäten der Partei und Gewerkschaften Bourderon und Merrheim da, von Holland Henriette Roland-Holst (Gruppe „De Internationale"), von Skandinavien Högl und und Türe Nermann, die offiziell den schwedisch-norwegischen Jugendverband vertraten; die rumänische Partei vertrat Rakowski, die bulgarische (Engherzige) Kolarow. Die rumänische und bulgarische Delegation vertrat zugleich die interbalkanische sozialistische Föderation. Von der Schweiz war die Vertretung eine persönliche; es beteiligten sich Robert Grimm, Charles Naine und Fritz Platten. Die Independent Labour Party in England sagte ihre Beteiligung zu, wurde aber durch die englische Regierung daran gehindert, den Delegierten wurden die Pässe verweigert. Die Mehrheit der Konferenz war zentristisch orientiert. Bei der Besprechung des zu erlassenden Manifestes kam es zu lebhaften Meinungskämpfen. Der linke Flügel der Konferenz unter Führung Lenins forderte schärfere Formulierungen. Die von den Linken vorgelegte Erklärung wandte sich sehr scharf nicht nur gegen die offenen Sozialpatrioten, sondern auch gegen „das sich oppositionell gebärdende Zentrum der Partei um Kautsky"; es wurde darin die Losung des revolutionären Kampfes gegen den Weltkrieg und die Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg aufgestellt: „Burgkrieg, nicht Burgfrieden – das ist die Losung". Diese Erklärung wurde von der Mehrheit der Konferenz verworfen; für sie stimmten die Vertreter der Bolschewiki, der lettischen Partei, des polnischen Landesvorstandes, des schwedisch-norwegischen Jugendverbandes, ein deutscher und ein schweizerischer Delegierter. Die Konferenz nahm schließlich einstimmig ein Manifest an („Zimmerwalder Manifest"). Die Linke gab eine Erklärung ab, dass sie zwar gewisse Tatsachen schärfer betont und die Kampfmittel deutlicher umschrieben wissen wollte, da es sich aber um einen Kampfruf handele, stimme sie dafür, um die Einheit der Aktion zu gewährleisten. Auf der Konferenz wurde ein provisorisches Zentrum gebildet, die Internationale Sozialistische Kommission (ISK), mit dem Sitz in Bern (nach Ausbruch der russischen Revolution wurde sie nach Stockholm verlegt), bestehend aus Morgari (Italien), Charles Naine, Robert Grimm (Schweiz) und Angelika Balabanoff (Sekretärin). Das wichtigste Ergebnis der Konferenz war die Gründung der „Zimmerwalder Linken", die sich ein Programm gab und ein internationales Zentrum schuf. (Die der Zimmerwalder Linken veröffentlichten eine Prinzipienerklärung, die auf der Zimmerwalder Konferenz abgegeben wurde, sowie Thesen für die Kienthaler Konferenz – Die zweite Konferenz der Zimmerwalder fand in Kienthal (Schweiz) 24.–30. April 1916 statt. Anwesend waren über 40 Delegierte aus verschiedenen Ländern, und zwar: Deutschland 7 Delegierte, Frankreich 4, England 1, Italien 8, Russland 8, Polen 5, Serbien 1, Portugal 1, Schweiz 5, ferner 1 Delegierter des Internationalen sozialistischen Jugendsekretariats. Von Deutschland erschienen für die Ledebour-Gruppe Adolf Hoffmann und Hermann Fleißner, für die Spartakus-Gruppe wieder Ernst Meyer und Bertha Thalheimer; Paul Frölich vertrat die Gruppe der Bremer Linksradikalen. Von Russland waren im Wesentlichen die gleichen Vertreter anwesend, wie auf der ersten Konferenz. Die Letten übertrugen ihr Mandat Lenin. Die dritte und letzte Zimmerwalder Konferenz fand am 5. September 1917 in Stockholm statt. Die Zimmerwalder Vereinigung existierte bis zur Gründung der Dritten Internationale 1919, wo sie sich auflöste.

2 Am 21. Dezember 1915 entschlossen sich 18 Abgeordnete der Minderheitsgruppe der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, die sich um Hugo Haase und Georg Ledebour gruppierten, endlich dem Beispiel Liebknechts zu folgen und stimmten in öffentlicher Reichstagssitzung gegen die Kriegskredite. Die Abstimmung verschärfte zwar das Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit der Fraktion, führte aber noch nicht zur formellen Spaltung. Am 24. März 1916 kam es zum entscheidenden Konflikt Als ein Redner dieser Minderheit in einer Etatsrede sich gegen die offizielle Politik der SPD-Fraktion wandte, wurden die 18 Abgeordneten der Haase-Ledebour-Gruppe aus der Fraktion ausgeschlossen. Die Ausgeschlossenen schlossen sich zu einer besonderen Fraktion unter dem Namen „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft" zusammen, aus der dann die USP (Unabhängige Sozialdemokratische Partei) entstand.

3 „Freie Jugend" – internationalistische Halbmonatsschrift der sozialdemokratischen Jugendorganisation der Schweiz. Gegründet 1906.

4 Die Stolypinsche Agrarreform zielte ab auf die Schaffung einer wirtschaftlich starken Bauernschicht als Stützpunkt der zaristischen Regierung im Dorfe. Den Bauern wurde gestattet, sich ihren Landanteil ohne Zustimmung der Dorfgemeinde als Privateigentum zuerkennen zu lassen, ihn mit gewissen Einschränkungen zu verpfänden und zu veräußern; das Abteilen der Bauern von der Dorfgemeinde und ihre Ansiedlung auf einzelnen Farmwirtschaften wurde auf alle mögliche Weise gefördert. Die sich abteilenden Eigentümer erhielten die Unterstützung der Agrarbank durch Kredite usw. Es gelang dem Zarismus zwar nicht diese Reform bis zum Kriege bzw. bis zur Revolution von 1917 zu Ende zu führen, sie trug aber dazu bei, das Dorf weiter und stärker zu differenzieren, und verschärfte den Klassenkampf innerhalb der Bauernschaft.

5Fabier – Mitglieder der Fabian Society (Fabiergesellschaft), einer 1883 in London von Webb, Bernard Shaw und anderen gegründeten englischen sozialistisch-reformistischen Gesellschaft; so benannt in Anlehnung an den Namen des römischen Feldherrn Fabius Cunctator (der Zauderer), dessen Taktik im zweiten Punischen Krieg (3. Jahrh. vor unserer Zeitrechnung) darin bestand, den offenen Kampf zu vermeiden. Die Fabian Society wurde gegründet als Gegengewicht gegen die „marxistische" Social Democratic Federation. Die offiziellen Ziele der Gesellschaft sind: Revision der englischen Verfassung in demokratischem Geiste und Propaganda der sozialistischen Produktionsweise. Die Fabian Society ist keine eigentliche Partei, sondern eher ein Verein zu Studienzwecken, eine Propagandagesellschaft. Die Fabier verwerfen die Lehre von Karl Marx, lehnen den Klassenkampf als treibende Kraft der gesellschaftlichen Entwicklung ab und predigen die Klassenharmonie. Anfangs unterstützten sie bei den Wahlen die bürgerlichen Radikalen, seit 1918 unterstützen sie ausschließlich die Arbeiterpartei.

6 Labouristen – Mitglieder der britischen Labour Party (Arbeiterpartei), gegründet 1906. Die Labour Party setzt sich zusammen aus den Gewerkschaften und anderen Arbeiterorganisationen (Genossenschaften, sozialistischen Vereinigungen), die der Labour Party korporativ angeschlossen sind, sowie Einzelmitgliedern, die irgendeinem lokalen Wahlverein der Labour Party angehören. Übrigens besteht die Möglichkeit der Einzelmitgliedschaft in der Labour Party erst seit 1918; bis dahin bestand die Partei ausschließlich aus Organisationen und nicht aus Einzelmitgliedern, d. h. man gehörte der Partei nur an, wenn man bereits Mitglied einer der angeschlossenen Organisationen war. Die Labour Party gehörte der II, Internationale an, wo sie auf dem äußersten rechten Flügel stand.

7 Spartakusgruppe oder Spartakusbund – die zu Beginn des Krieges von Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Franz Mehring und anderen gegründete illegale Organisation, die die revolutionären Elemente aus der alten Sozialdemokratie sammelte zum Kampfe gegen den Krieg und gegen die ganz ins Lager der Bourgeoisie abgeschwenkte Sozialdemokratie. Franz Mehring und Rosa Luxemburg versuchten eine legale Zeitschrift unter dem Titel: „Die Internationale" herauszugeben, die erste Nummer erschien am lo. April 1915. In dieser Zeitschrift wurde nicht nur der offiziellen Politik des Parteivorstandes sondern auch dem Kautskyanertum der heftigste Kampf angesagt. Die Zeitschrift wurde natürlich sofort verboten. Nach dem Namen dieser Zeitschrift nannte sich die Gruppe offiziell „Gruppe der Internationale“. Eine Reihe Flugschriften, die die Gruppe illegal unter dem Namen „Spartakus herausbrachte und verbreitete, verschaffte ihr die Bezeichnung „Spartakusgruppe". Bei Gründung der USP in Gotha im März 1917 schloss sich die Spartakusgruppe aus taktischen Gründen der USP an, erklärte jedoch auf diesem Parteitag ausdrücklich, dass sie sich nicht nur die Freiheit der Agitation und der Kritik, sondern auch der Selbständigkeit der Organisation und Aktion vorbehalte. Nach der Novemberrevolution 1918, als die USP zusammen mit den Ebert-Scheidemann die Regierung der Volksbeauftragten bildete, trennte sich die Spartakusgruppe von der USP und konstituierte sich am 31. Dezember 1918 zusammen mit einigen anderen linksradikalen Gruppen zur Kommunistischen Partei Deutschlands.

8 „Arbeiterpolitik" – Wochenschrift der „Linksradikalen", gegründet von Johann Knief und Paul Frölich. Erschien legal in Bremen von Mai 1916 bis zur Novemberrevolution. Ein Hauptmitarbeiter war Karl Radek, durch den die Gruppe der „Arbeiterpolitik" engere Beziehungen zum Zentralkomitee der Bolschewiki (Lenin und Sinowjew) unterhielt.

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