Lenin‎ > ‎1917‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19170928 Wie ist der Erfolg der Wahlen zur Konstituierenden Versammlung zu sichern?

Wladimir I. Lenin: Wie ist der Erfolg der Wahlen zur Konstituierenden Versammlung zu sichern?

Über die Freiheit der Presse

[„Rabotschij Putj", Nr. 11 28. (15.) September 1917 Gezeichnet: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band21, Wien-Berlin 1931, S. 187-192]

Anfang April, als ich die Stellung der Bolschewiki zur Frage, ob die Konstituierende Versammlung einberufen werden müsse, auseinandersetzte, schrieb ich:

Ja, und möglichst schnell. Aber die Garantie für ihren Erfolg und ihre Einberufung ist allein Zunahme der Zahl und der Kraft der Arbeiter-, Soldaten-, Bauern- usw. Deputiertenräte; Organisierung und Bewaffnung der Arbeitermassen – das ist die einzige Garantie." („Die politischen Parteien in Russland und die Aufgaben des Proletariats." Billige Bibliothek des Verlages „Schisn i Snanje", Heft III., S. 9 und 29.)

Inzwischen sind 5 Monate vergangen, und die Richtigkeit dieser Worte wurde bestätigt durch eine Reihe von den Kadetten verschuldeter Verzögerungen und Verschleppungen der Einberufung, sie wurde schlagend bestätigt durch das Kornilow-Abenteuer.

Jetzt, im Zusammenhang mit der Einberufung der Demokratischen Beratung1 zum 12. September, möchte ich auf eine andere Seite der Sache eingehen.

Sowohl die „Rabotschaja Gazeta" der Menschewiki wie das „Djelo Naroda" haben ihr Bedauern darüber ausgesprochen, dass für die Agitation unter den Bauern, für die Aufklärung dieser wirklichen Masse des russischen Volkes, seiner wirklichen Mehrheit, so wenig getan wird. Alle wissen und geben zu, dass der Erfolg der Konstituierenden Versammlung von der Aufklärung der Bauern abhängt, aber doch wird lächerlich wenig dafür getan. Die Bauern werden belogen, genarrt und eingeschüchtert durch die durch und durch verlogene und gegenrevolutionäre, bürgerliche und „gelbe" Presse, neben der die Presse der Menschewiki und Sozialrevolutionäre (geschweige denn der Bolschewiki) sehr, sehr schwach ist.

Warum ist das so?

Eben weil die regierenden Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki schwach, unentschlossen und untätig sind, weil sie, mit der Übernahme der ganzen Macht durch die Räte nicht einverstanden, die Bauern in Unwissenheit lassen, sie vernachlässigen und den Kapitalisten, ihrer Presse, ihrer Agitation auf Gnade und Ungnade ausliefern.

Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre nennen unsere Revolution prahlerisch die große Revolution, sie schreien laute, bombastische Phrasen über „revolutionäre Demokratie" in alle Welt hinaus, in Wirklichkeit belassen sie aber Russland in der Lage einer ganz gewöhnlichen, ganz kleinbürgerlichen Revolution, die, nachdem sie den Zaren gestürzt hat, alles andere beim Alten lässt und nichts, absolut nichts Ernstes für die politische Aufklärung der Bauern, für die Liquidierung jener Unwissenheit der Bauern unternimmt, die die letzte (und stärkste) Hochburg der Unterdrücker und Ausbeuter des Volkes ist.

Gerade jetzt ist es angebracht, an diese Dinge zu erinnern. Gerade jetzt, angesichts der Demokratischen Beratung, zwei Monate vor der (bis zu einem neuen Aufschub) „festgesetzten" Einberufung der Konstituierenden Versammlung ist es angebracht, aufzuzeigen, wie leicht man die Sache korrigieren, wie viel man für die politische Aufklärung der Bauern tun könnte, wenn… wenn unsere „revolutionäre Demokratie" in Gänsefüßchen wirklich revolutionär, d. h. zu einem revolutionären Vorgehen fähig und wirklich eine Demokratie wäre, d. h. wenn sie dem Willen und den Interessen der Mehrheit des Volkes Rechnung trüge, und nicht den Interessen der wenigen Kapitalisten, die nach wie vor die Macht in den Händen haben (die Regierung Kerenskis) und mit denen sich – wenn nicht direkt, so doch indirekt, wenn nicht in der alten, so doch in einer neuen Form – die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki immer noch „verständigen" wollen.

Die Kapitalisten (und nach ihnen, aus Missverständnis oder Unvernunft, auch viele Sozialrevolutionäre und Menschewiki) bezeichnen als „Pressefreiheit" einen Zustand, in dem die Zensur abgeschafft ist und alle Parteien Zeitungen nach Belieben herausgeben.

In Wirklichkeit ist das keine Pressefreiheit, sondern die Freiheit für die Reichen, für die Bourgeoisie, die unterdrückten und ausgebeuteten Volksmassen zu betrügen.

In der Tat. Man nehme z. B. die Petrograder und Moskauer Zeitungen. Man sieht sofort, dass die bürgerlichen Zeitungen, wie die „Rjetsch", die „Birschewyje Wjedomosti", das „Nowoje Wremja", das „Russkoje Slowo"2 usw. usw. (denn solcher Zeitungen gibt es sehr viele), ihren Auflageziffern nach ein sehr starkes Übergewicht haben. Worauf basiert dieses Übergewicht? Keineswegs auf dem Willen der Mehrheit, denn die Wahlen zeigen, dass in beiden Hauptstädten die Mehrheit (und zwar eine gewaltige Mehrheit) auf der Seite der Demokratie ist, d. h. auf der Seite der Sozialrevolutionäre, der Menschewiki und der Bolschewiki. Diese drei Parteien verfügen über Dreiviertel bis vier Fünftel aller Stimmen. Die Auflage ihrer Zeitungen aber beträgt wahrscheinlich kaum ein Viertel oder gar ein Fünftel der Auflage der ganzen bürgerlichen Presse (die, wie wir jetzt wissen und sehen, die Kornilowiade direkt und indirekt verteidigt hat).

Warum ist dem so?

Alle wissen sehr gut, warum. Weil die Herausgabe einer Zeitung ein einträgliches und kapitalistisches Unternehmen ist, in das die Reichen Millionen über Millionen Rubel investieren. Die „Pressefreiheit" der bürgerlichen Gesellschaft besteht in der Freiheit für die Reichen, systematisch und zähe, tagtäglich durch Millionen von Zeitungsexemplaren die ausgebeuteten und unterdrückten Volksmassen, die Armut zu betrügen, zu narren und zu korrumpieren.

Das ist jene einfache, allgemein bekannte, auf der Hand liegende Wahrheit, die alle sehen, alle wissen, die aber „fast alle" „schamhaft" verschweigen und ängstlich umgehen.

Es fragt sich, ob und wie man gegen ein so himmelschreiendes Übel kämpfen kann?

Vor allem gibt es ein sehr einfaches, äußerst wirksames und durchaus gesetzliches Mittel, auf das ich seit langem in der „Prawda" hingewiesen habe, ein Mittel, dass man sich besonders jetzt, zum 12. September, in Erinnerung rufen sollte und das die Arbeiter immer im Auge behalten müssen, denn sie werden kaum ohne dieses Mittel auskommen, wenn sie die politische Macht erobern.

Dieses Mittel ist das Staatsmonopol für private Zeitungsanzeigen.

Man sehe sich das „Russkoje Slowo", das „Nowoje Wremja", die „Birschewyje Wjedomosti", die „Rjetsch" usw. an, man wird eine Menge privater Anzeigen sehen, die eine große, ja die größte Einnahmequelle der Kapitalisten bilden, die diese Zeitungen herausgeben. So wirtschaften und bereichern sich alle bürgerlichen Zeitungen der ganzen Welt, so handeln sie mit Gift für das Volk.

In Europa gibt es Zeitungen, deren Auflage ein Drittel der Einwohnerzahl der betreffenden Stadt beträgt (zum Beispiel 12.000 Exemplare bei einer Einwohnerzahl von 40.000), und die unentgeltlich in jede Wohnung geliefert werden, trotzdem aber eine gute Einnahmequelle für ihre Verleger bilden. Solche Zeitungen leben von den bezahlten Privatanzeigen, und die unentgeltliche Lieferung der Zeitung in die Wohnungen sichert die weiteste Verbreitung der Anzeigen.

Es fragt sich, warum eine Demokratie, die sich revolutionär nennt, nicht eine Maßnahme durchführt, die die Veröffentlichung von privaten Anzeigen in den Zeitungen zum Staatsmonopol erklärt? Warum könnte sie nicht verbieten, dass Anzeigen irgendwo anders veröffentlicht werden als in den Zeitungen, die die Räte in der Provinz und in den Städten und der Zentralrat in Petrograd für ganz Russland herausgeben? Warum muss es die „revolutionäre" Demokratie dulden, dass sich die Geldsäcke, die Anhänger Kornilows, die Verbreiter von Lügen und Verleumdungen gegen die Räte, aus den Privatanzeigen bereichern?

Eine solche Maßnahme wäre unbedingt eine gerechte Maßnahme. Sie würde großen Nutzen bringen: sowohl denen, die die privaten Anzeigen veröffentlichen, als auch dem ganzen Volk, besonders den am meisten unterdrückten und unwissenden Bauern, denen sich dadurch die Gelegenheit böte, für billiges Geld oder sogar unentgeltlich die Rätezeitungen mit Bauernbeilagen zu beziehen.

Warum sollte das nicht verwirklicht werden? Nur weil das Privateigentum und die angestammten Rechte der Herren Kapitalisten (auf die Einnahmen aus den Anzeigen) heilig sind. Kann denn ein solches Recht als „heilig" anerkennen, wer in der zweiten russischen Revolution sich revolutionärer Demokrat des 20. Jahrhunderts nennt?!

Man wird sagen: „Aber das ist doch eine Verletzung der Pressefreiheit."

Das ist nicht wahr. Das wäre eine Erweiterung und Wiederherstellung der Pressefreiheit. Denn Pressefreiheit bedeutet, dass alle Meinungen aller Staatsbürger frei verbreitet werden können.

Jetzt aber? Jetzt aber haben nur die Reichen dieses Monopol, und dann noch die großen Parteien. Durch die Herausgabe großer Rätezeitungen mit sämtlichen Anzeigen wäre es jedoch möglich, einer viel größeren Anzahl von Staatsbürgern die Äußerung ihrer Ansichten zu sichern, sagen wir jeder Gruppe, die eine bestimmte Anzahl von Unterschriften aufbringt. Eine solche Reform würde die Pressefreiheit wirklich viel demokratischer, unvergleichlich vollständiger machen.

Man wird erwidern: „Wo soll man denn Druckereien und Papier hernehmen?"

Da haben wir's!!! Es handelt sich nicht um die „Pressefreiheit", sondern um das heilige Privateigentum der Ausbeuter an den angeeigneten Druckereien und Papiervorräten!!!

Warum aber sollen wir, Arbeiter und Bauern, dieses heilige Recht anerkennen? Warum ist dieses „Recht", Lügennachrichten zu verbreiten, besser als das „Recht", leibeigene Bauern zu besitzen?

Warum ist während des Krieges die Requisition von Häusern, Wohnungen, Equipagen, Pferden, Getreide und Metallen zulässig, und geht überall vor sich, die Requisition von Druckereien und Papiervorräten aber unzulässig?

Nein, man kann die Arbeiter und Bauern eine Zeitlang betrügen, indem man ihnen solche Maßnahmen als ungerecht oder schwer durchführbar hinstellt, die Wahrheit aber wird doch siegen.

Die Staatsmacht – verkörpert in den Räten – beschlagnahmt alle Druckereien und das ganze Papier und verteilt es gerecht; an erster Stelle – der Staat, im Interesse der Mehrheit des Volkes! der Mehrheit der Armen, besonders der Mehrheit der Bauern, die jahrhundertelang von den Gutsbesitzern und Kapitalisten gemartert, unterdrückt und verdummt worden sind.

An zweiter Stelle – die großen Parteien, die in den beiden Hauptstädten etwa 100.000 oder 200.000 Stimmen aufgebracht haben.

An dritter Stelle – die kleineren Parteien, und dann eine beliebige Gruppe von Bürgern, die eine bestimmte Mitgliederzahl oder soundsoviel Unterschriften aufgebracht hat.

Eine solche Verteilung von Papier und Druckereien wäre gerecht und wenn die Räte an der Macht sind, ohne jede Schwierigkeit durchführbar.

Dann könnten wir zwei Monate vor der Einberufung der Konstituierenden Versammlung tatsächlich den Bauern helfen, die Lieferung eines Dutzend Broschüren (oder Zeitungsnummern oder Sonderbeilagen) in jedes Dorf, in Millionen Exemplaren, von jeder großen Partei, sichern.

Das wäre eine „revolutionär-demokratische" Vorbereitung der Wahlen zur Konstituierenden Versammlung, das wäre eine Hilfeleistung für das flache Land seitens der vorgeschrittenen Arbeiter und Bauern, das wäre eine staatliche Förderung der Aufklärung und nicht der Verdummung und Prellung des Volkes, das wäre eine wirkliche Pressefreiheit für alle und nicht für die Reichen, das wäre ein Bruch mit jener verfluchten, knechtischen Vergangenheit, die uns jetzt zwingt, zu dulden, dass die große Sache der Informierung und Belehrung den Reichen zur Beute fällt.

1 Die Demokratische Beratung, die die Provisorische Regierung einberief, weil der Kornilow-Aufstand eine Änderung im Wechselverhältnis der gesellschaftlichen Kräfte hervorgerufen hatte, und die den Zweck hatte, die soziale Grundlage, auf die sich die Regierung stützte, zu erweitern und die Lage der Regierung zu festigen, tagte in Petrograd im Alexandrinen-Theater vom 27. (14.) September bis zum 5. Oktober (22. September) 1917. Den Selbstverwaltungsorganen der Städte, den Semstwos und Genossenschaften wurde eine verstärkte Vertretung zugestanden, während die Vertretung der Räte, der Armee-Organisationen, der Gewerkschaften und der Betriebsräte beschnitten wurde. Die Beratung wählte aus ihrer Mitte den „Provisorischen Rat der Republik" (das „Vorparlament"), der, ergänzt durch Vertreter der Zensus-Bourgeoisie, bis zur Konstituierenden Versammlung, deren Einberufung immer wieder hinausgeschoben wurde, eine Repräsentativkörperschaft beratenden Charakters darstellen sollte.

Die bolschewistische Fraktion der Beratung arbeitete eine ausführliche politische Deklaration aus, die in der Sitzung des 1. Oktober (18. September) verlesen wurde (siehe Dokumente und Materialien, Nr. 8, des vorliegenden Bandes).

Die Demokratische Beratung, die im Lande keinerlei Autorität genoss, hat ihr Ziel der Festigung der Provisorischen Regierung und der Erweiterung ihrer Basis nicht erreicht. In seinen Briefen an das ZK schlug Lenin vor, das Alexandrinen-Theater zu umzingeln und die Demokratische Beratung auseinanderzujagen. „Die Demokratische Beratung vertritt nicht die Mehrheit des revolutionären Volkes," schrieb er, „sondern nur die kompromisslerischen, kleinbürgerlichen Oberschichten … Die kläglichen Schwankungen der Demokratischen Beratung müssen und werden die Geduld der Arbeiter Petrograds und Moskaus zum Reißen bringen".

2 „Russkoje Slowo" – unterstützte die Aktion des Generals Kornilow. Wurde bald nach dem Sieg der Oktoberrevolution vom Moskauer Rat verboten; die Druckerei wurde für die Arbeiterpresse beschlagnahmt.

Kommentare