II. Kritische Betrachtungen

II. Kritische Betrachtungen

Der Tatbestand des Urteils

Zahlreiche Unrichtigkeiten in der Sachdarstellung des Urteils sind in den Noten zum Urteil angemerkt. Viele von ihnen zeigen nur, wie schwer es dem Gericht geworden ist, die ihm fremdartigen Ideengänge korrekt zu fassen; eine große Zahl aber nuanciert den Sachverhalt in verschiedenen Graden zuungunsten des Angeklagten. Das werden wir zum Teil noch in helleres Licht zu setzen haben.

Das Referat über den Inhalt der Broschüre ist um nichts in der Welt geeignet, einen Einblick in ihren Inhalt und Charakter zu gewähren. Mit den gegebenen Korrekturen kann es immerhin als Grundlage unserer Betrachtungen dienen.

Sehr drollig wirkt die Sorgfalt und Feierlichkeit, mit der das Urteil, wie schon die Anklageschrift, das spöttische Wort Mesliers vom „Hochverrat" registriert. Anscheinend hat man den Genossen Meslier für einen französischen Staatsanwalt gehalten, dessen Autorität als willkommenes Gewicht in die Waagschale geworfen werden könne. Mit dieser Autorität ist's ja nun nichts, und weder in Frankreich noch in einem anderen zivilisierten Lande ist jemals ein Antimilitarist wegen Hochverrats auch nur angeklagt worden. Dennoch gibt's ein Vorbild, auf das sich unsere deutsche Justiz berufen kann: die zarische Justiz. Aber den zweiten Teil jenes Hohnworts ebenso getreu zu erfüllen und die Kaserne buchstäblich für sakrosankt zu erklären, das harrt noch als ausschließliches welthistorisches Reservat der deutschen Justiz. Hier sprießen ihr noch Lorbeeren ohnegleichen.

Das Urteil zersplittert den Tatbestand in auffälliger Weise. In der von ihm so bezeichneten „materiell-rechtlichen Prüfung" finden sich lange Partien rein tatsächlicher Anführungen (vgl. die Noten 24, 30 und 33[Z, f, i]). Das hat seinen guten Grund. Angeklagt ist nur die Broschüre; diese Ergänzungen des Tatbestandes liegen also außerhalb des Anklagetatbestandes, wegen dessen allein verurteilt werden durfte. Ihre Versetzung unter die rechtlichen Erwägungen sucht wenigstens formell den Einwand einer prozessualen „Grenzverletzung" zu vermeiden. Dass trotz alledem diese Fremdkörper des Urteils einen wesentlichen Einfluss auf den Schuldigspruch geübt haben, zeigt die Begründung zur Genüge.

Die Elemente der Tat

Wir wollen uns jetzt glatt auf den Boden der Tatsachen stellen, von denen das Reichsgericht ausgeht, und die rechtliche Begründung des Urteils sowie die ihr zugrunde liegenden tatsächlichen Deduktionen zergliedern. Die einzelnen Tatbestandsmerkmale fixiert das Urteil dahin:

Angriffsziel des Angeklagten ist: Die Verfassungseinrichtung des stehenden Heeres, insbesondere als Inbegriff gewisser Rechte des Kaisers (Artikel 63, 64, 68 Reichsverfassung);

sein „letztes Vorhaben" ist: Gewaltsame Beseitigung des stehenden Heeres.

Als Handlungen, durch welche dieses Vorhaben unmittelbar zur Ausführung gebracht werden soll („Unternehmen"), sind bald bezeichnet „Militärstreik oder Insurrektion", bald „Militärstreik in Verbindung mit Insurrektion", bald „Militärstreik und Revolutionierung der Truppen".

Das „hochverräterische Unternehmen" ist also: die gewaltsame Beseitigung des stehenden Heeres durch Militärstreik oder Insurrektion (resp. „in Verbindung mit Insurrektion", resp. „und Revolutionierung der Truppen").

Die „vorbereitende Handlung" ist: die Abfassung usw. der Broschüre.

Vom Angriffsziel

Das Urteil zitiert einige Stellen der Broschüre (S. 104, 109, 112, 118), die darin gipfeln: „Das letzte Ziel des Antimilitarismus ist Beseitigung des Militarismus, Beseitigung des Heeres in jeder Form." Dann fährt es ohne jedes Zwischenglied fort: „Indem der Angeklagte, wie festgestellt, die Beseitigung des stehenden Heeres als letztes Ziel seiner antimilitaristischen Propaganda im Auge hat" usw.

Damit identifiziert das Urteil erstaunlicherweise Militarismus und stehendes Heer! Die Broschüre beschäftigt sich eingehend mit allen Formen der Heeresverfassung und des Militarismus und setzt deren Beseitigung als letztes Ziel. Dieses Ziel ist, so betont die Broschüre unzählige Male, nur zu erreichen gleichzeitig mit der Beseitigung des Kapitalismus, da der Militarismus eine wesentliche Lebensäußerung des Kapitalismus ist. Nirgends, mit keinem Buchstaben, weicht die Broschüre von diesem Standpunkt ab. Andererseits betrachtet sie den Militarismus als vielgestaltig und – wie die verschiedenen Systeme der verschiedenen Staaten zeigen – auch innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung einer gewissen Wandlung und Abschwächung fähig. Eine der solchergestalt möglichen Abschwächungen ist Ersatz des stehenden Heeres durch das Milizsystem.

Die Abschaffung des stehenden Heeres ist eine der Forderungen des Gegenwartsprogramms der Sozialdemokratie, das heißt eine der Forderungen, die die Sozialdemokratie, solange sie existiert, bereits an die gegenwärtige Gesellschaftsordnung richtet. Diese Forderung wird auch von zahlreichen Nichtsozialdemokraten propagiert; sie ist vielerorten bereits verwirklicht; das ist auch in der Verhandlung dargelegt. Die Broschüre erörtert mit keiner Silbe irgendein Mittel zur Verwirklichung dieser Forderung der Beseitigung des stehenden Heeres; sie begnügt sich hier schlechthin und uneingeschränkt mit dem Hinweis auf das sozialdemokratische Programm.

Das Urteil meint: Mit Beseitigung des stehenden Heeres würden alle die aufgezählten Rechte des Kaisers hinfällig. Das schlägt den Tatsachen ins Gesicht. Das Milizsystem kennt, wie die Schweiz, Amerika, England, Holland usw. zeigen, leider ganz ähnliche von verschiedenen Instanzen geübte Rechte, wenn auch zum Teil schwächeren Grades. Davon weiß das Gericht nichts. Hätte man in der Verhandlung klar sehen können, dass das Gericht diesem Irrweg zustreben würde, so hätte ihm die erforderliche Aufklärung beigebracht werden können. Die Unklarheit, die über die Ideengänge des Gerichts bis zum letzten Augenblick herrschte und die die Verteidigung bekanntlich in der Verhandlung vergeblich zu beheben versuchte, stand jedoch im Wege. Erst das schriftliche Urteil schaffte die nötige Einsicht und zeigte zugleich – aber zu spät –, welch schweren Irrtümern das Gericht zum Opfer gefallen ist. Das gilt übrigens ähnlich von mehreren anderen Punkten, die unten Erörterung finden.

Die Gewalt

In zweiter Linie hatte das Gericht zu prüfen, ob der Angeklagte das Mittel der Gewalt anwenden will, um die Beseitigung des stehenden Heeres zu erreichen.

Statt dessen sagt das Urteil: Für die Entscheidung komme es lediglich darauf an, ob der Angeklagte „sich diese Beseitigung des stehenden Heeres als ohne Gewalt möglich vorgestellt hat". Die Verurteilung wird also abhängig gemacht von einer „Vorstellung" des Angeklagten über die politische Zukunft. Das ist kein Lapsus calami, sondern, wie wir später sehen werden, ein Grundgedanke der Urteilsbegründung.

Wie entscheidet nun das Gericht die aufgeworfene Frage der „Vorstellung" des Angeklagten? Es verneint sie und begründet diese Verneinung. Diese Begründung aber ist ein wahrer Weichselzopf der Unlogik. Wir wollen versuchen, den scheinbar so glatten und geordneten Wirrwarr auseinander zu filzen, und bitten recht genau achtzugeben. Die Aufmerksamkeit dürfte sich lohnen.

Zu beweisen war, dass der Angeklagte sich die Beseitigung des stehenden Heeres nicht „als ohne Gewalt möglich vorgestellt" hat.

Das Urteil leitet seinen Beweis ein mit der Behauptung: „Der Angeklagte will den militärischen" (soll heißen: militaristischen) „Geist im deutschen Heere durch seine Propaganda derart ,organisch zersetzen und zermürben', dass das Heer im Ernstfalle, sei es für die Verwendung gegen den äußeren Feind oder gegen innere Unruhen, zu einem vollkommen unbrauchbaren Werkzeug wird, in der Hand der Führer durchaus versagt."

Das ist – von der stilistischen Schönheit ganz abgesehen – zunächst in tatsächlicher Beziehung höchst inkorrekt. Auch aus dem Urteilsreferat über die Broschüre ergibt sich evident:

1. dass die Broschüre in sehr vorsichtiger Beurteilung der Kriegsmöglichkeit ruft: distinguo! (Es gibt heute noch Kriegsmöglichkeiten, denen sich auch das Proletariat nicht verschließen kann!) und dass sich die Broschüre jeglicher Antikriegsaktion gegenüber praktisch höchst kritisch verhält;

2. dass die Broschüre von „inneren Unruhen" im Allgemeinen gar nicht redet, vielmehr den Zweck verfolgt, für die heutige Gesellschaftsordnung die Verwendbarkeit der Armee zur Unterdrückung des Proletariats nach Möglichkeit zu mindern. Das ist der Grundgedanke, auf dem die Broschüre aufgebaut ist, der sie vom ersten bis zum letzten Wort durchzieht, dem sie gewidmet ist und den das Reichsgericht dennoch gänzlich misskannt hat.

Das Urteil sagt weiter: „Der Angeklagte will … dass das Heer zu einem vollkommen unbrauchbaren Werkzeug wird, in der Hand der Führer durchaus versagt." Damit setzt es zwei ganz verschiedene Dinge gleich. Ein vollkommen unbrauchbares Werkzeug braucht nicht zu versagen, weil – es gar nicht erst angewandt zu werden braucht. Versagen kann es erst, wenn es trotz seiner vollkommenen Unbrauchbarkeit angewandt wird. Das Versagen setzt also die Anwendung voraus; das Versagen des Heeres, seine wenn auch nicht erfolgreiche Mobilisierung. Wir werden sofort sehen, dass diese Gleichsetzung von Bedeutung ist.

Das Urteil lässt nämlich die bloße allgemeine Tatsache der Unbrauchbarkeit nun gänzlich fallen und beschäftigt sich nur noch mit dem „Versagen", das heißt mit dem Verhalten der Armee im Falle der Mobilisierung. Es bemerkt: „Ein solches Versagen" (der Armee) „ist nur in der Art denkbar, dass der … zermürbte Teil des Heeres … sich weigert, den Befehlen der Vorgesetzten zu gehorchen … Streik oder Desertion – oder sich direkt gegen die Vorgesetzten … auflehnt – Insurrektion." So sagt nicht etwa Liebknecht, sondern das Reichsgericht. Das Reichsgericht zitiert zum Beweis dafür, dass dies auch der Ansicht des Angeklagten entspreche, den Satz: „Die Sozialdemokratie betrachtet den Militärstreik und die etwaige Aktivierung der Truppen für die Revolution als eine logisch und psychologisch notwendige Konsequenz der Zersetzung des militärischen Geistes"; und zaubert ihn sofort darauf um in den Satz: „Ist sonach für ihn" (den Angeklagten) „Militärstreik und Insurrektion nur die logisch und psychologisch notwendige Konsequenz" usw. Man erkennt die Metamorphose: Aus der „etwaigen Aktivierung der Truppen" wird schlechthin: „die Insurrektion" und aus „einer" Konsequenz schlechthin: „die Konsequenz" – beides für die Zwecke einer Verurteilung sehr nützliche Variationen, die auch zugleich den Erfolg haben, den Genossen Liebknecht als Verkünder eines hanebüchenen Unsinns erscheinen zu lassen.

Das Schönste aber ist: Liebknecht hat jenen Satz, so wie er zitiert ist, gar nicht geschrieben! Es heißt auf Seite 114 der Broschüre:

Phantastisch ist die Taktik der anarchistischen Antimilitaristen in Bezug auf den Militärstreik, den sie gewissermaßen bei gutem Willen und großer Energie aus der blauen Luft glauben hervorzaubern zu können, während die Sozialdemokratie ihn ebenso wie die etwaige Aktivierung der Truppen für die Revolution nur als eine logisch und psychologisch notwendige Konsequenz der Zersetzung des militaristischen ,Geistes' betrachtet, welche Zersetzung wiederum sich nur parallel und infolge der Klassenscheidung und Aufklärung vollziehen kann."

Man betrachte, wie das Urteil aus dieser Erörterung eine Wendung, die dem Sinne nach und stilistisch mit anderen Wendungen verknüpft ist, herausschält, zu einem selbständigen Satz formt und durch Anführungszeichen mit dem Etikett „Liebknecht" versieht. Bemerkenswert ist die Streichung des Wörtchens „nur". Wer den Zusammenhang mit Unbefangenheit prüft, wird erkennen, dass Liebknecht an dieser Stelle gar nicht davon spricht, ob und wann der Militärstreik usw. eintreten wird oder muss, sondern – in Polemik gegen die anarchistischen Phantastereien – unter welchen Voraussetzungen er nur eintreten kann. Er sagt: Militärstreik usw. sind nur möglich, wenn sie sich mit logisch und psychologisch notwendiger Konsequenz aus der Zersetzung des militaristischen „Geistes" ergeben. Ob es überhaupt je zum Militärstreik oder zur Insurrektion kommt, hängt von zahlreichen Umständen ab, die Liebknecht für den Kriegsfall – und nur für diesen – an anderer Stelle, bei seiner Polemik gegen Hervé, mit ziemlicher Breite untersucht.

Die Broschüre erbringt zum Überfluss zahlreiche Beispiele dafür, wie die Zersetzung des „militaristischen Geistes", ja sogar schon die bloße Befürchtung dieser Zersetzung eine Armee für die Staatsgewalt außer Aktion setzen kann. – Auf Seite 17/18 heißt es zum Beispiel von Belgien: „Die durch und durch proletarisierte Armee unterlag, soweit sie nicht schon an und für sich aus klassenbewussten und zu allem entschlossenen Proletariern bestand, der antimilitaristischen Propaganda so rapide, dass sie seit Jahren als Waffe der herrschenden Klasse gegen den inneren Feind kaum mehr in Betracht kommt und nicht mehr angewandt wird" – ohne Militärstreik, ohne Insurrektion und ohne Gewalt!

Der Hamburger „rote Mittwoch" vom 17. Januar 1906 bietet auch schon für Deutschland ein schlagendes Exempel; die hamburgische Regierung verzichtete damals von vornherein auf die Verwendung ihrer Regimenter, die sich nur aus den „höchst verdächtigen" Hamburger Jungen zusammensetzen (vgl. S. 64 der Broschüre). Und das Vorwort zitiert die bekannten Äußerungen Bismarcks zu Professor Kaemmel, die im Zweifel an der Zuverlässigkeit der Hamburger Truppen gegenüber dem inneren Feind gipfelten. Genau ebenso steht's aber im Kriegsfall: Mit einer unzuverlässigen und unzufriedenen Armee kann man eben einen Krieg gar nicht erst anfangen. Die Zersetzung des militaristischen Geistes ist ein gehöriger Dämpfer auf die kriegerischen Aspirationen der Chauvinisten aller Länder und eine Garantie gegen volks- und kulturfeindliche Kriege. Darauf ist in der Verhandlung hingewiesen, das lehrt die Geschichte und jedes Lehrbuch der Kriegskunst von Xenophon bis Delbrück.

Wir sehen, was in Wirklichkeit „denkbar“ ist, was Liebknecht wirklich „gedacht" hat und was es mit der vom Urteil unterstellten Identität von „Unbrauchbarkeit" der Armee und ihrem „Versagen" nach der Mobilisierung auf sich hat.

Dass die Zersetzung des militaristischen Geistes „wiederum sich nur parallel und infolge der Klassenscheidung und Aufklärung vollziehen kann", betont die Broschüre am Schluss des fraglichen Satzes. Die Klassenscheidung ist doch gewiss kein vom Angeklagten geplantes hochverräterisches Unternehmen, sondern das Werk des Kapitalismus, „gefördert" von den Kapitalisten und – demselben Staat, der den Genossen Liebknecht eingesperrt hat. Immerhin, von Rechts wegen hätte zum Beispiel Fürst Bülow schon wegen seiner „Förderung" der Börsengesetznovelle neben den Genossen Liebknecht auf die Anklagebank gehört.

Mit der „Aufklärung" steht's nicht viel anders. Charakteristisch genug, dass jene entscheidende Schlusswendung im Zitat des Reichsgerichts gänzlich unter den Tisch fällt. Nicht minder charakteristisch aber ist die Übersetzung des Wörtchens „militaristisch" in „militärisch". Die Broschüre fasst unter dem Begriff militaristisch allenthalben die Summe der volks- und kulturfeindlichen Eigenschaften des Militärwesens. Darüber und mithin über den ersten Grundbegriff der Broschüre ist sich das Reichsgericht nicht klar gewesen. Oder sollte es den Charakter und Inhalt unseres Heerwesens schlechthin und uneingeschränkt in der Summe dieser volks- und kulturfeindlichen Eigenschaften erblicken?

Aber wenigstens dafür, dass sich Liebknecht den Militärstreik usw. als notwendige Konsequenz usw. „gedacht" hat, schüttet das Urteil noch ein ganzes Füllhorn von Gründen aus – „wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen". Man höre! „Dazu kommt, dass der Angeklagte sich in der Frage der speziellen antimilitaristischen Propaganda seit langer Zeit in bewusstem Gegensatz zu den Führern der deutschen Sozialdemokratischen Partei befindet." Und so ein Tausendsassa, der sich nicht einmal der „Kommandogewalt" Bebels und Vollmars fügt, erdreistet sich zu bestreiten, dass er die Kommandogewalt des Kaisers mit Gewalt vernichten will? Natürlich ist er ein hochverräterischer Gewaltmensch, er, der sogar wider den Stachel der Parteidisziplin löckt, wider den Stachel der Disziplin in der – vaterlandslosen, umstürzlerischen Sozialdemokratie! Mit solch bewundernswerter, unparteilicher Vorsorge nimmt sich der 2. und 3. Strafsenat des Reichsgerichts der Sozialdemokratischen Partei an!

Weiter: Bebels Zeugnis soll für Liebknechts Hochverrat sprechen. Dabei hat Bebel eidlich bezeugt: „Ich kann nur sagen, wir haben bei unserer Taktik keine Gefahren für Dr. Liebknecht befürchtet, sondern für andere …" (wegen des § 112 St. G. B.); und weiter: „Mir ist selbstverständlich niemals der Gedanke gekommen, dass Liebknecht hochverräterische Absichten habe oder durch seine Agitation Vorbereitung zum Hochverrat betreiben wolle" (S.41 des Prozessberichts). Nirgends ein blasses Wörtchen über Militärstreik und ähnliche Dinge; im Gegenteil: schärfste Hervorkehrung des Gegensatzes zwischen Hervé und Liebknecht!

Und nun Vollmars Äußerung in Stuttgart, die beweisen soll, dass auch er „Militärstreik und Insurrektion unter die Mittel Liebknechtscher Propaganda (!) rechnet". Den Militärstreik und die Insurrektion als Propagandamittel wollen wir den gelehrten Herren gern schenken. Wir wollen auch nicht lang fragen, was denn eine Ansicht Vollmars für eine forensische Beweiskraft haben könnte. Woraus ist diese Ansicht des Genossen Vollmar geschöpft? Aus einem Zeitungsbericht! Wir möchten den Angeklagten sehen, der sich vor dem Reichsgericht zum Beweise einer Behauptung auf die Ansicht einer dritten Person berufen würde, die in einem Zeitungsbericht mitgeteilt ist! Wir setzen den Kopf zum Pfand, jedes Mitglied der urteilenden Senate hat Dutzende Male in seiner Praxis bei der Verurteilung von Redakteuren mitgewirkt, die anderen Blättern irgendeine Behauptung gutgläubig nachgedruckt haben. Und nun? „Auch du mein Sohn Brutus?" ~ Woraus folgert aber das Reichsgericht jene Ansicht Vollmars? Aus den vier Buchstaben: „aber". Aus einem mindestens vieldeutigen Wörtchen, enthalten in einem Zeitungsbericht, der, in journalistischer Hatz hingeworfen, wie ein Blick lehrt, beileibe kein wörtlicher Bericht sein kann und will! So schwört das Reichsgericht auf ein Wort des – „Vorwärts"! Auf den Fels dieser vier „Vorwärts"-Buchstaben baut es das Haus seines Urteils. Vollmar hat das vom Reichsgericht Unterstellte aber auch erwiesenermaßen tatsächlich weder gemeint noch gesagt, und das wird auch dadurch nicht anders, dass das Reichsgericht die leider ohne jeden Hinweis auf den Zusammenhang zitierten Sätze schlechthin als „in Bezug auf den Angeklagten ausgeführt" bezeichnet.

Was Vollmar in der Tat über Liebknecht gesagt hat, ergibt schon die unmittelbar im Anschluss an die Vollmarsche Rede abgefasste Erklärung, die Genosse Liebknecht auf dem Stuttgarter Kongress gegenüber Vollmar abgegeben hat. Diese Erklärung war in den Händen des Vorsitzenden, sie war Gegenstand der Verhandlung vor dem Reichsgericht (S. 26 des Prozessberichts). Folgendes ist aber auch dem vom Reichsgericht benutzten „Vorwärts"-Bericht über Vollmars Rede selbst deutlich zu entnehmen. Vollmar erörtert die Frage einer Verschärfung der antimilitaristischen Taktik von zwei Gesichtspunkten: einmal von dem der Unklugheit und Gefährlichkeit, Dieser Teil der Rede füllt im „Vorwärts"-Bericht etwa 40 Druckzeilen. Er schließt genau ab mit dem gegen einige Bemerkungen Jaurès' gerichteten Satz: „Was Liebknecht anbetrifft, so scheidet alles … aus" usw.

Dann geht er dazu über, die Sache vom Gesichtspunkte der prinzipiellen Richtigkeit zu prüfen. Dieser Teil seiner Ausführungen beginnt mit dem Satz: „Ich kann aber sagen, dass wir die antimilitaristischen Mittel des Militärstreiks … nicht nur für unklug, sondern auch für prinzipiell verkehrt halten"; die folgenden acht Druckzeilen begründen das in Kürze. Dieser Sinn, der für unbefangene Betrachtung des Zusammenhangs schon im „Vorwärts"-Bericht klar genug liegt, tritt in dem schon längst vor der reichsgerichtlichen Verhandlung erschienenen Protokoll noch schärfer hervor. Dort lauten die Sätze: „Was aber Karl Liebknecht betrifft, so scheidet für mich das von ihm in Bezug auf die antimilitaristische Agitation Gesagte … aus der Diskussion aus. Aber indem wir uns gegen die in der Resolution Jaurès-Vaillant aufgeführten Mittel erklären, tun wir dies nicht etwa nur aus Klugheitserwägungen. Wir sehen darin vielmehr zugleich eine prinzipielle Verkehrtheit."1 Danach bezeichnet das Wörtchen „aber" um nichts in der Welt einen Gegensatz zu dem vorhergehenden Satz und zu Liebknecht, sondern zu der Gesamtheit der vorhergehenden Betrachtungen über die „Unklugheit".

Man nehme die Berichte zur Hand: Die Verkehrtheit der reichsgerichtlichen Interpretation ist eklatant; sie ist durch keinen Talmudismus hinweg zu deuteln. Sie stellt gleichzeitig die Unzuverlässigkeit der literarischen Auslegungskünste des höchsten deutschen Gerichtshofes erbarmungslos bloß, desselben Gerichtshofes, der in der Hauptverhandlung die Löcher der Anklage mit allerhand unkontrollierbaren Fetzen der „Vossischen" und anderer Zeitungen zu verstopfen suchte. Das Wörtchen „aber" war ein Irrwisch, ebenso wie die „Eselei" der „Vossischen Zeitung" (vgl. Prozessbericht, S. 29-31 und 48). Nur konnte diese rechtzeitig enthüllt werden, während jener Irrwisch noch im Urteil spukt. Das hat seinen guten Grund: In der Verhandlung wurde zwar vom Vorsitzenden auf den Vollmarschen Vorwurf der Kasernenagitation hingewiesen, aber nicht mit einem Worte darauf, dass Vollmars Rede zum Beweise eines geplanten Militärstreiks oder Aufstandes ausgebeutet werden solle. Nicht mit einer Silbe wurde angedeutet, dass aus dem Wörtchen „aber" irgendwelche Schlüsse gezogen werden könnten, sonst wäre dem Schlag auf Schlag gründlichst vorgebeugt worden.

Drittes Argument für das Liebknechtsche „Denken" an den Militärstreik: „Gegenüber dem inneren Militarismus aber fordert er" (Liebknecht) „ohne Unterscheidung unbedingte und gründliche Wehrlosmachung der Staatsgewalt und verwirft für diesen Fall auch das französische: ,Soldats, vous ne tirerez pas' nicht" (nämlich für Deutschland, um das sich's ja allein handelt!).

Wir trauen unseren Augen nicht! Was sagt Liebknecht auf Seite 109? „Viel einfacher steht es mit dem weit aussichtsreicheren Kampf gegen den ,inneren Militarismus', dessen selbstverständliches Ziel die Wehrlosmachung, und zwar die unbedingte und gründliche Wehrlosmachung der Staatsgewalt, ist und dessen Methode, in höchster Beweglichkeit sich den innerpolitischen Zuständen der einzelnen Länder anpassend, zwischen der langsamen, ruhigen, tiefen Aufklärungsarbeit und dem französischen ,Soldats, vous ne tirerez pas!' liegt."

Wie man weiß, handelt nämlich Liebknechts Broschüre keineswegs nur von Deutschland, sondern von fast allen Staaten der Welt. Was Liebknecht für Deutschland will, sagt er auf Seite 125 klipp und klar: „Die Agitation wird nirgends direkt oder indirekt zu militärischem Ungehorsam auffordern dürfen." Also schwarz auf weiß das wörtliche und genaue Gegenteil dessen, was das Urteil „feststellt", rechtskräftig feststellt! So rechtskräftig, als wenn es festgestellt hätte, dass das deutsche Volk Vertrauen zur deutschen Rechtspflege hege.

Das stärkste Stück aber – man verzeihe das harte Wort – kommt am Schluss: Die Behauptung, der Liebknechtsche „Rekrutenabschied" sei dem Artikel des „Pioupiou" Nr. 1 von 1901 „nach Form und Inhalt … durchaus ähnlich" – womit dem Genossen Liebknecht zu guter Letzt doch noch eine Portion Hervéismus versetzt werden soll.

Wir würden einfach die beiden ganz unabhängig voneinander entstandenen Artikel – der Liebknechtsche ist im Prozessbericht S. 22 ff. abgedruckt – nebeneinanderstellen, wenn der Artikel des „Pioupiou" nicht als Teil der Hervéschen Schrift („Das Vaterland der Reichen") konfisziert und verboten wäre. So sind uns die Hände gebunden.

Man entsinnt sich jenes polizeilichen Beitrags zur politischen Farbenlehre aus der Zeit des Sozialistengesetzes: ein schwarzweiß-rotes Schnupftuch wurde als rote Fahne verfolgt und beschlagnahmt. Wir konstatieren, dass im Vergleich mit der Ähnlichkeit jener beiden Artikel ein schwarzweißrotes Schnupftuch und eine rote Fahne sich gleichen wie ein Ei dem andern.

Für gewisse … Ausnahmefälle: Intervention in Russland, Krieg zwischen Frankreich und Deutschland, tritt auch er für absolute Wehrlosmachung ein", sagt das Urteil weiter. Tatsächlich wird an der bezeichneten Stelle die Intervention in Russland als „praktisch fern liegend" bezeichnet, und Liebknecht „tritt" hier keineswegs für absolute Wehrlosmachung „ein"; er stellt vielmehr nur fest, dass bei Einleitung einer solchen Intervention schon heute, also ohne jede weitere Vorbereitung, die Parole „Plutôt l'insurrection que la guerre" im Proletariat aller zivilisierten Länder begeisterten Widerhall finden würde. Dieser Fall scheidet also von vornherein aus.

Vom Kriege zwischen Frankreich und Deutschland wird an anderer Stelle zu handeln sein. Dass hier und in Bezug auf die Resolution von Limoges das Urteil unvollständig zitiert, ist in den Noten 9 und 32 angemerkt.

Soviel zu den Beweisen, dass Liebknecht sich Militärstreik und Insurrektion als notwendige Konsequenz der Zersetzung des militaristischen Geistes „gedacht" hat.

Unterstellen wir nun, dass jenes „Versagen" der Armee nur möglich sei in Form des Militärstreiks oder der Insurrektion. Zu beweisen war, dass der Angeklagte die Beseitigung des stehenden Heeres durch Gewalt, vermittels der Gewalt bezweckt hat. Ein Königreich für ein Stückchen „Gewalt". Bei der Insurrektion, nun ja, da mag sie im Begriff liegen, aber beim Militärstreik? Das Reichsgericht bemerkt: „Weder das eine noch das andere kann anders als im Wege gewaltsamer Entwicklung geschehen" – und damit punktum! Mit Verlaub! Die Urteilsgründe sind zur Begründung des Urteils da. Hier wäre zu begründen gewesen, dass der Militärstreik gleichbedeutend ist mit Gewaltsamkeit. Das Reichsgericht begründet dies, indem es proklamiert, es kann nicht anders sein! Indem es die zu beweisende Behauptung in axiomatischer Betonung wiederholt. Wir empfehlen unseren Physikern den Satz: „Wasser macht nass, weil – es nicht anders sein kann, als dass Wasser nass macht"; und unserer Rechtsprechung den Satz: „Antimilitarismus ist Hochverrat, weil es nicht anders sein kann, als dass Antimilitarismus Hochverrat ist." Dann kommt man wenigstens mit einer Tautologie aus und spart Papier, Tinte, Zeit und Geld.

Das Urteil meint, über die Unumgänglichkeit des „Weges der gewaltsamen Entwicklung" konnte sich „der Angeklagte so wenig …, wie irgendein mit den politischen Verhältnissen Deutschlands nur einigermaßen Vertrauter … im Irrtum befinden". Mit dieser nebelhaft unfassbaren Bemerkung bricht die Kette plötzlich ab. Wir hören, dass die Entscheidung, die Verurteilung aus den „politischen Verhältnissen Deutschlands" folgt. Aber nicht ein Wort wird verloren, diese Verhältnisse zu beschreiben, zu charakterisieren.

Solche „Begründungen" sind in Deutschland bei politischen Prozessen alltäglich. Man sucht aus politischen Prozessen krampfhaft jede politische Erörterung auszuschalten, obwohl doch der politische Tatsachenstoff ihr Material bildet. Wir erinnern aus jüngster Zeit an den Prozess Markwald, in dem die Königsberger Schubert-Kammer dies besonders krass praktizierte. Natürlich ist eine solche Ausschaltung der Politik in Wirklichkeit nicht möglich. Der Versuch endet stets damit und kann nur damit enden, dass die subjektiven politischen Anschauungen der Richter in unklarem Notorietätswahn dem Urteil axiomatisch zugrunde gelegt werden. Das Ergebnis ist an den fünf Fingern abzuzählen. Aber die lechzende Neugier, die nach Gründen fragt, findet gerade da, wo sie am hitzigsten ist, keinen Quell der Befriedigung, nicht einmal eine gaukelnde Fata Morgana, nicht einmal die Illusion eines Grundes.

Das Urteil sagt also: „Weder das eine noch das andere kann anders, als im Wege gewaltsamer Entwicklung geschehen." Warum sagt es nicht einfach und klar „durch Gewalt" ?

Wir wollen zeigen, dass die verschwommene Wendung „im Wege gewaltsamer Entwicklung" ein wahres „Asyl" tatsächlicher und juristischer Unklarheit bildet. Das Gesetz fordert für den Tatbestand des Hochverrats, dass die Gewalt das Mittel sei zur Herbeiführung der Verfassungsänderung, hier also das Mittel, durch welches das „Versagen" der Armee erzielt wird. Mit dem Militärstreik steht's nun so: Er ist das gerade Gegenteil einer Gewaltanwendung; er ist ja reine Passivität, Untätigkeit! Gewiss, es kann, aber es muss nicht im Gefolge eines ausgebrochenen Streiks zu Gewaltsamkeiten kommen. In seinem Schlusswort hat sich Liebknecht mit dieser Möglichkeit beschäftigt. Er führt aus: „Der Vorsitzende meint, unter diesen Umständen könne dadurch Blutvergießen entstehen, dass nunmehr die gehorsamen Truppen" (wenn es notabene solche gibt) „jene Mannschaften, die in passiver Resistenz verharren, durch Gewalt zu nötigen suchen, ihre Pflicht zu tun … Aber dann kommt ja doch die Gewalt hinterher, dann ist ja doch die Lähmung der Kommandogewalt vollzogen, bevor die Gewalt kommt, und die Gewalt findet statt, um sie wiederherzustellen" (S. 71 des Prozessberichts).

Der Fall des Militärstreiks liegt juristisch nicht um Haaresbreite anders, als der Fall jedes passiven Widerstandes. Nehmen wir an, das Wyborger Manifest der von dem wirklich hochverräterischen Zarismus zum Teufel gejagten ersten Duma2 hätte gezündet, die Steuerverweigerung wäre in größerem Umfange eingetreten; tausend gegen eins zu wetten, dass Nikolaus, der Hochverräter, versucht hätte, die Steuerverweigerer vor die Nagaikas und Flinten seiner Getreuen zu treiben. Wer würde zu behaupten wagen, die Steuerverweigerung sei durch das Mittel der Gewalt herbeigeführt oder sei ein gewaltsames Mittel?

Zum Tatbestand des Hochverrats gehört aber auch, dass die Gewalt dem Hochverräter oder seinen Werkzeugen als Mittel zur Herbeiführung jenes „Versagens" der Armee dient oder dienen soll. Die Gewalt muss also nicht nur jenem Versagen vorangehen, sondern sie muss ihm auch als Ursache vorangehen und vom „Hochverräter" oder seinen Anhängern geübt werden; beim Militärstreik aber würde umgekehrt die Gewalt die Folge, die Wirkung jenes Versagens sein und gegen den „Hochverräter" oder seine Anhänger geübt! Also das Gegenteil des gesetzlichen Tatbestandes!

Das Reichsgericht aber hält es nicht für nötig, auch nur mit einer Andeutung auf diese ihm ausführlich vorgetragenen Gesichtspunkte einzugehen, häuft einige Tautologien übereinander, deckt darüber und über alle Schwierigkeiten den verwaschenen Ausdruck „im Wege gewaltsamer Entwicklung" – und das Kartenhaus seiner Beweisführung ist fertig, fertig und – „rechtskräftig". Aber ein Kartenhaus.

Doch auch damit noch nicht genug.

Das Reichsgericht bezeichnet als Liebknechts Zweck: Das Versagen der Truppen „in der Hand der Führer", gegenüber den „Befehlen der Vorgesetzten". Aber nur die Kommandogewalt des Kaisers ist in der Verfassung (Artikel 64) festgelegt; nur sie – und nicht die Kommandogewalt irgendeines Offiziers – ist ein mögliches Angriffsobjekt des Hochverrats, und nur sie ist auch vom Urteil selbst als Angriffsobjekt bezeichnet.

Im Falle des Krieges wird ja nun in der Regel die Kommandogewalt des Kaisers von dem etwaigen Militärstreik oder der etwaigen Insurrektion betroffen. Der Kriegsfall scheidet indessen für die Anklage aus anderen Gründen aus, die noch zu erörtern sind.

Bei „inneren Unruhen" ist die Sache weit komplizierter. Welcherlei „innere Unruhen" fasst Liebknechts Broschüre ins Auge? Zunächst und in erster Linie die Verwendung der Armee zu staatsstreichlerischen Aktionen, zur blutigen Niederwerfung gesetzmäßiger Volksbewegungen: Hier würde, wie im Prozess schlagend gezeigt, „Lähmung" der Kommandogewalt Verfassungsschutz bedeuten. Sodann: die Verwendung von Truppen zur Niederwerfung von Streiks. Von der Gesetzlichkeit oder Ungesetzlichkeit einer solchen Verwendung mag ganz abgesehen werden. Liebknecht wies in seinem Schlusswort mit Nachdruck darauf hin, dass bei solchen Anlässen von einem Eingreifen der kaiserlichen Kommandogewalt kaum je wird die Rede sein können: „Truppen sind bei dem Bergarbeiterstreik von 1899 in Rheinland-Westfalen vorgegangen. Wer hat sie herbeigerufen? Nicht der Kaiser – der Oberpräsident der Provinz. Wenn ich unter diesen Truppen agitiert hätte – etwa im Sinne der Revolutionsromantik der Reichsanwaltschaft –, um sie zu veranlassen, nicht zu schießen, würde ich sie damit veranlasst haben, einem Befehle des Kaisers nicht zu folgen?" (S. 71 des Prozessberichts.) Man vergleiche auch die von Bismarck erwogene Weigerung der Hamburger Truppen, auf Vater und Mutter zu schießen, und die „blutige Maiwoche" von Wolgast (siehe Anmerkung 4 [hier E]).

Auch dieses Bedenken beseitigt das Reichsgericht durch – Ignorierung; auch hier wird der auffällige Mangel durch die Verwendung eines verwaschenen Ausdrucks („Führer", „Vorgesetzte") verborgen.

Fahren wir fort. Bisher hat das Urteil „festgestellt", dass das „Versagen" der Armee als notwendige Konsequenz der Zersetzung des militaristischen Geistes anzusehen sei, dass als Form des „Versagens" nur Militärstreik usw. in Frage komme, dass der Militärstreik „nur im Wege gewaltsamer Entwicklung" möglich sei und dass sich Liebknecht auch all das „gedacht" habe. Zu beweisen war, dass er sich die Beseitigung des stehenden Heeres nicht „als ohne Gewalt möglich vorgestellt hat"!

Niemand wird verkennen, dass dieser Beweis bisher nicht im Geringsten geführt ist. Ein „Versagen" der Armee bei einer Intervention in Russland oder das „Versagen" eines gegen streikende Arbeiter geführten Truppenteils oder das Versagen der Hamburger Truppen oder dergleichen ist nun einmal nicht „Beseitigung des stehenden Heeres". Aber nur die „Beseitigung des stehenden Heeres" interessiert; sie durch Gewalt angestrebt zu haben ist dem Angeklagten vorgeworfen. Welchen Beweis bringt das Urteil dafür? Nichts, nichts und wieder nichts! Nicht einmal den Versuch eines Beweises! Kein Wort, keine Silbe, keinen Buchstaben! – Es schließt den Absatz, der uns hier beschäftigt, mit den Worten: „So hat er Militärstreik und Insurrektion und die hiervon unzertrennliche gewaltsame Beseitigung des Heeres auch gewollt." Man durchstöbere das Urteil mit einem Mikroskop zweihundertfacher Vergrößerung: kein Federstrich zur Begründung der „Unzertrennlichkeit" dieser verschiedenen Dinge! Das, worauf es nach dem Urteil selbst in allererster Linie ankommt, der Angelpunkt der Begründung, das Fundament des Schuldigspruchs ist mit den zwei Worten „hiervon unzertrennlich" abgetan. Das ist kein Scherz, das ist keine Verleumdung, das ist schwarz auf weiß Wahrheit. Niemand würde es auf die feierlichste Versicherung hin glauben; aber das solenne Amtssiegel belehrt den ungläubigsten Thomas.

Sollten diese zwei Worte die Frucht jener mehr als dreiwöchigen Dauer der Urteilsfassung sein? Sie sind unbezahlbar! So hat der höchste deutsche Gerichtshof die Grundfrage erledigt, die entscheidend war für jahrelange Einkerkerung eines deutschen Staatsbürgers!

Eine Art logischer Urzeugung ist's, die uns hier entgegentritt; dem Begriff des „Versagens" ist die Fähigkeit beigelegt, sich aus sich selbst heraus zu höheren Graden der Kriminalität zu entwickeln.

Das Urteil beweist aber auch, dass sich das Gericht bei diesen zwei Worten – wie übrigens auch kaum anders möglich – gar nichts Klares gedacht haben kann. An einer späteren Stelle heißt es: „Um dies (die gewaltsame Beseitigung des stehenden Heeres) zu erreichen, ist es erforderlich, … den … militärischen (!) Geist derart zu zersetzen und zu zermürben, dass sie (die Truppe) im Ernstfalle in der Hand der Führer versagt und auf denjenigen demoralisierten Standpunkt gebracht ist, auf den der Angeklagte sie haben will und haben muss, um sie als geeignetes Werkzeug für die Ausführung seiner letzten Pläne benutzen zu können." Hier erscheint das versagende, das heißt streikende oder insurgente Heer erst als Werkzeug für die „letzten Pläne", das heißt die Beseitigung des stehenden Heeres. Das Versagen ist hier also weder identisch noch „untrennbar verknüpft" mit der Beseitigung des stehenden Heeres. Bei einer dritten Gelegenheit „stellt" das Urteil „fest", „dass der Angeklagte an eine gewaltsame Beseitigung des stehenden Heeres … nicht nur gedacht, sondern sie hinsichtlich des inneren Militarismus für alle Fälle, hinsichtlich des äußeren wenigstens für gewisse … Fälle auch gewollt hat". Danach will der Angeklagte das stehende Heer für einige Fälle beseitigen, für andere Fälle bestehen lassen. Ein kurioses Ding, dieses vom Angeklagten gewollte Heer, das gleichzeitig sein und nicht sein kann – just wie eine Hegelsche Idee. Wir bescheidenen unphilosophischen Köpfe können das freilich nicht fassen und meinen, was beseitigt ist, ist ganz beseitigt, „für alle Fälle", und was „für einige Fälle" besteht, besteht schlechthin „für alle Fälle".

Nach alledem drückt sich der vom Reichsgericht gelieferte Beweis der Gewaltsamkeit des Liebknechtschen Planes kurzweg aus in dem Exempel: 0+0+0+0. Und das macht bei genauestem Zusammenzählen nicht mehr als eben 0! Aber eine rechtskräftige Null! All die schönen Konstruktionen haben den einen Fehler: Sie sind falsch und passen nicht aneinander, „es wird kein Schuh draus".

Kopf, Rumpf und Schwanz –

es passt nicht ganz;

Wolf, Fuchs und Lamm –

wer flickt's zusamm'?"

Aber die Rechtskraft schafft die wahre Concordantia discordantium. Wer kennt nicht jenen berühmten Shakespeareschen Weber mit Namen Zettel, bei dem die Logik des menschlichen Leibes in das Fazit eines durchaus nicht menschlichen Kopfes ausmündete? Der verblendeten Titania aber wollte er ein Ausbund aller Schönheit und Logik dünken. Ob sich die Dame Justitia von der absonderlichen Logik unseres Urteils wohl auch zu dem Ruf begeistern lassen wird: „Du bist so weise, wie Du reizend bist"? Doch damit genug von der „Gewalt".

Das „bestimmte" Unternehmen

Das Urteil gibt zu, dass das hochverräterische Unternehmen ein „bestimmtes" sein muss. Es behauptet diese Bestimmtheit. Dabei hat es selbst, wie soeben dargelegt, gar keine Vorstellung von dem angeblichen Unternehmen, das heißt von den Mitteln, mit denen und von der Art, wie denn nun eigentlich das stehende Heer beseitigt werden soll. Dass der Angeklagte aber diese vom Reichsgericht nicht besessene Vorstellung besessen und jedenfalls etwas Bestimmtes, und zwar jedenfalls etwas Hochverräterisches, dass er „ein konkretes Verbrechen zu fördern" vorgehabt hat, das ist rechtskräftig festgestellt.

Rechtskräftig festgestellt ist auch, dass für den Angeklagten die Möglichkeit der Ausführung des Unternehmens „nicht in unabsehbarer Ferne" liegt. Dafür wird angeführt, dass der Angeklagte „sogar einige ganz bestimmte Kriegsfälle" angebe, „bei deren Eintritt er sich die Ausführung seiner Pläne als möglich vorstellt". Indessen ist bereits gezeigt, dass der eine Fall der – als praktisch fern liegend bezeichneten – Intervention in Russland für die Pläne des Angeklagten glatt ausscheidet. Der einzige andere Fall, den er noch hervorhebt, der eines Kriegs zwischen Frankreich und Deutschland, wird von ihm mit den Worten: „möglich, dass in absehbarer Zeit" auch ein solcher Krieg eine Situation jener Art „schaffen würde", offenbar in eine durchaus ungewisse Zukunft gerückt. Darauf ist in der Verhandlung nachdrücklich hingewiesen ; trotzdem stellt das Urteil diesen Punkt in fast genau derselben unrichtigen Weise dar wie schon der Eröffnungsbeschluss. Wir verweisen auf die Seiten 13 und 69 des Prozessberichts.

Zum Beweise dafür, dass für den Angeklagten die Möglichkeit der Ausführung des Unternehmens nicht in unabsehbarer Ferne liege, wird weiter hervorgehoben, dass er die Möglichkeit einer Verwendung des Militärs nach innen unterstelle und damit die Notwendigkeit der baldigen Inangriffnahme „der … auf das oben festgestellte Endziel hinarbeitenden" Propaganda. Aber die Inangriffnahme der Propaganda ist doch noch nicht das hochverräterische Unternehmen; es kommt doch darauf an, für wann hier die Erreichung des „Endziels" geplant ist. Darüber aber, als den allein wesentlichen Punkt, schweigt sich das Urteil in sieben Sprachen aus.

Die Gedankensünde

Wir haben bisher in erster Linie die tatsächlichen und logischen Mängel des Urteils seziert und präpariert. Wegen der juristischen Seite der Sache darf im Allgemeinen auf den Prozessbericht verwiesen werden.

Eine juristische Neuheit aber, die unabsehbares politisches Interesse besitzt und geeignet ist, unsere gesamte Strafrechtspflege zu revolutionieren, gilt's hier der ernsten Aufmerksamkeit aller Welt zu empfehlen, aller Welt, der die Rechtssicherheit im Deutschen Reich am Herzen liegt. Gegen Schluss des Urteils heißt es: „Nicht darauf kommt es an, ob die einzelnen Agitationshandlungen an sich strafbare Handlungen darstellen, sondern ob sie mit Rücksicht auf den verfolgten Zweck bestimmt und nach ihrer Beschaffenheit im einzelnen Fall geeignet sind, ein geplantes hochverräterisches Unternehmen zu fördern und vorzubereiten."

Also: Der Zweck entheiligt die Mittel! Diese Umkehrung der Jesuitenmoral wird hier klipp und klar und rechtskräftig verkündet! Man denke: nur der Wille, der Gedanke, die Vorstellung in Bezug auf die Zukunft schafft die strafbare Qualifikation. Antimilitaristische Agitation ist erlaubt, Jugendagitation ist nicht strafbar; derjenige aber, der mit dieser Agitation einen bestimmten, für hochverräterisch erachteten Zweck verbindet, treibt Hochverrat, auch wenn sein Tun sich völlig und endgültig erschöpft in einer Agitation und überhaupt in einer Handlungsweise, die nicht um Haaresbreite von der an sich erlaubten Agitation und Handlungsweise abweicht. Das Strafbare ist danach nicht mehr die äußere objektivierte Tat, sondern schlechthin eine bloße vorgestellte, „gedachte" und gewünschte Konsequenz, das Anknüpfen von Erwartungen und Wünschen an die Ausübung von Rechten (mehr als dies wirft das Urteil dem Angeklagten nirgends vor!), die böse Seele in einer an sich harmlosen Handlung; kurz: die Gesinnung! Darum also die vielen Grübeleien über das „Denken" und „Vorstellen" der Inkulpaten, auf die wir oben hinwiesen! So bewahrheitet sich aufs Glänzendste, was Liebknecht in seinem Schlusswort sagte: „Das einzige ,Staatsgefährliche ist die Perspektive, die ich eröffnet habe … Dieser Prozess ist ein Tendenzprozess im verstiegensten, superlativischsten Sinne des Wortes, ein Prozess, gerichtet nur gegen meine Tendenz, gegen meine Gedanken und Wünsche."

Vier Millionen Hochverräter

Und noch ein politisches Fazit ist zu ziehen.

Das Urteil sagt, die Abschaffung des stehenden Heeres ist nur mit Gewalt möglich.

Die Sozialdemokratische Partei hat die Forderung der Abschaffung des stehenden Heeres seit 1865 bis auf den heutigen Tag in ihrem Programm. Sie propagiert diese Forderung allenthalben; dass sie „mit den politischen Verhältnissen Deutschlands einigermaßen vertraut" ist, wird niemand leugnen. Damit ist sie, ist jeder agitatorisch tätige Sozialdemokrat männlichen und weiblichen Geschlechts der Vorbereitung zum Hochverrat schuldig. Das ist die klare Konsequenz der reichsgerichtlichen Weisheit, die damit den Lieblingsgedanken der „Post" in juristisch-rechtskräftige Form gegossen hat. Was will man mehr?

Nun fordern wir aber auch Folgerichtigkeit! Man sperre die vier bis fünf Millionen deutscher Männer und Frauen ein, die öffentlich oder insgeheim das sozialdemokratische Programm des Hochverrats propagieren! Und Mr. Stead nicht minder, der bekanntlich bis vor kurzem die Unverfrorenheit besaß, wie ein Commis voyageur sogar von Hofe zu Hofe zu reisen und seine Abrüstungsartikel anzupreisen; der Bertha von Suttner, des Generals von der Linde und all der anderen bürgerlichen Feinde und Bekämpfer des stehenden Heeres nicht zu vergessen. Hochverrat! Hochverrat! Rette sich, wer kann!

Die Ehrlosigkeit

Zum Schluss einen recht wichtigen Punkt. Über die Frage der Ehrlosigkeit sagt das schriftliche Urteil: „Diese Feststellung" (dass die Handlung einer ehrlosen Gesinnung entsprungen ist) „vermochte der Gerichtshof nicht zu treffen, da nicht nachweisbar ist, dass der Angeklagte bei Abfassung der Schrift nicht nur seiner politischen Überzeugung folgte."

Die mündliche Urteilsbegründung lautete (stenographisch): „Vielmehr ist der Gerichtshof zu der Ansicht gekommen, dass der Angeklagte aus einer politischen Überzeugung gehandelt hat, die, mag sie verkehrt sein oder nicht, den Voraussetzungen, die das Gesetz für eine ehrlose Gesinnung verlangt, nicht entspricht."

Das schriftliche Urteil enthält mithin gegenüber den mündlich verkündeten Gründen mehrere wesentliche Einschränkungen: Es stellt nicht mehr positiv fest, dass der Angeklagte nicht ehrlos gehandelt hat, sondern erklärt die Ehrlosigkeit nur als nicht nachweisbar. Die allgemeine Formulierung des Grundsatzes, dass ein Handeln aus einer – gleich welcher – politischen Überzeugung Ehrlosigkeit ausschließe, ist fallengelassen, und durch die Worte „nicht nur" ist nahegelegt, dass beim Hineinspielen anderer Motive Ehrlosigkeit anzunehmen ist. Damit ist der Weg gewiesen zur Verhängung von Zuchthausstrafe auch für politische Hochverräter. Diese Wandlung der Gründe dürfte ein Echo jener Scharfmacherorgane sein, die sich bekanntlich, gleich einigen junkerlichen Mitgliedern des preußischen Dreiklassenparlaments, über die Abweisung des reichsanwaltlichen Zuchthausantrages gegen den Genossen Liebknecht höchst ungehalten und erbost zeigten.

Inzwischen hat ja der unglückliche R. Osterreich bereits die ganze Wucht des „Armes der Gerechtigkeit" zu fühlen bekommen. Die Mauern des Zuchthauses haben ihn empfangen; und die Tore des Zuchthauses stehen gastlich weit geöffnet für künftige antimilitaristische „Hochverräter". Die Mühlen des Reichsgerichts mahlen gut. Aber der Wert der gerichtlich anerkannten Ehre wird bei solcher Judikatur für unabhängig denkende deutsche Reichsbürger rapide sinken. Und jeder Tag Zuchthaus, verhängt aus solcher Ursache, wirkt zersetzender als ein Dutzend antimilitaristischer Broschüren. Militarismus und Klassenjustiz sind letzten Endes die Leidtragenden: Dialektik der Weltgeschichte.

Wir haben keineswegs den gesamten politischen und juristischen Ertrag ausgeschöpft, den das Urteil bietet, sondern nur eine Ergänzung geliefert zu den Erörterungen der Hauptverhandlung, die als bekannt vorausgesetzt werden. Dieser Ergänzung bedarf es, weil ja in der Hauptsache erst aus dem schriftlich gefassten Urteil ersichtlich geworden ist, worauf das Gericht hinaus wollte Alle Versuche, darüber nach der eigenartigen Vorgeschichte des Prozesses wenigstens in der Verhandlung Klarheit zu schaffen, misslangen bekanntlich durchaus.

Der Zweck unserer Untersuchung war, an einem typischen Beispiel zu demonstrieren, wie in politischen Prozessen die Magnetnadel des logischen und voraussetzungslosen Denkens durch die Einseitigkeit des politischen und sozialen Standpunktes unserer gelehrten Richter vom Pole des objektiv Richtigen abgelenkt zu werden pflegt, eine Erscheinung, die neulich selbst einen unentwegten Blockliberalen dazu erleuchtete, im Kapitalismus den heimlichen Kaiser unserer Justiz zu entdecken. So bildet diese Untersuchung zugleich eine Studie über die Schranken des klassenrichterlichen Erkenntnisvermögens, über die Grenzen der „reinen Vernunft" in der politischen Justiz.

Man entsinne sich, wie alles, was im deutschen Philisterbürgertum „unentwegt" auf Unabhängigkeit der Rechtspflege „hält", über das Urteil, um mit Lassalle zu reden, „vor Entzücken schnalzte und vor Respekt mit dem Kopf auf die Erde schlug", weil – ja weil – man denke! – weil die vereinigten Strafsenate es gewagt haben, in Opposition gegen den Willen des Oberreichsanwalts, den Genossen Liebknecht „nur" auf 1½ Jahr in die Festung und nicht in den Zuchthauskittel zu stecken. Nun, wir haben die Deduktionen dieses Urteils, des Produkts von fünfviertel Dutzend höchster deutscher Richter, durch manches Labyrinth verfolgt und bei mancher Prokrustesarbeit beobachtet. Wir sahen ihre Logik von Stufe zu Stufe ausgleiten und zeigten die meist gescheiterten Bemühungen, in die „Geheimwissenschaft" der sozialdemokratischen Auffassung und Ausdrucksweise zu dringen. Die glatte und vollkommene Unmöglichkeit des tatsächlichen und rechtlichen Ergebnisses haben wir scharf herausgearbeitet. Was Herr Böhm von Bawerk, der verflossene österreichische Minister, in unbewusster Selbstironie über die nationalökonomische Wissenschaft sagt, das fanden wir für die juristische und logische Leistung des Reichsgerichts bestätigt: Sie bildet „ein höchst instruktives Beispiel dafür, wie viele Fallstricke unsere gebräuchliche wissenschaftliche Terminologie dem folgerichtigen Denken legt und welch hoher – leider so selten geübter! – Grad kritischer Wachsamkeit unerlässlich ist, wenn man sich nicht in widerspruchsvolle Phrasen verlieren will". Wir „stellen fest": Urteil und Anklageschrift können sich um die Palme streiten. Das Urteil ist weder an tatsächlichen Unrichtigkeiten noch an juristischen Unnahbarkeiten, weder der Zahl noch dem Grade nach nennenswert ärmer. Während sich aber die Bedenklichkeiten der Anklageschrift vor aller Augen offen ausbreiten, die Aufmerksamkeit fast provokatorisch auf sich lenkend, liegen die Unebenheiten des Urteils unter einem glatten Überzug mehr verborgen. Mais grattez le Russe … Und die Flagge der höchstrichterlichen Autorität deckt die Konterbande. Das Erkenntnis vom 12. Oktober 1907 bedeutet in seinen Konsequenzen eine gemeine Gefahr für die politische Rechtssicherheit innerhalb der schwarzweißroten Grenzpfähle.

So lautet unser Resümee, unser Urteil. Und das ist richtig – wenn auch nicht rechtskräftig.

1 Internationaler Sozialisten-Kongress zu Stuttgart, 18. bis 24. August 1907, Berlin 1907, S. 93. Die Red.

2 Unter diesem Namen wurde der Aufruf „Die Volksvertreter an das Volk" bekannt, der am 22. Juli 1906 von 200 Abgeordneten der vom Zaren aufgelösten Reichsduma in einer Beratung in Wyborg, Finnland, angenommen wurde und vorschlug, der Regierung Geld und Soldaten zu verweigern.

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