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Karl Liebknecht 19100503 Gegen preußische Polizeiwillkür

Karl Liebknecht: Gegen preußische Polizeiwillkür

Rede im preußischen Abgeordnetenhaus zum Etat des Ministeriums des Innern

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, III. Session 1910, 4. Bd., Berlin 1910, Sp. 5345–5352 und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 3, S. 265-282]

Meine Herren, ich möchte mich zunächst mit dem Fall Mirski1 befassen und auf die Bemerkung eingehen, die der Herr Minister zu diesem Fall gemacht hat. Der Herr Minister hat gesagt, dass im vorliegenden Fall die Initiative überhaupt nicht von der Polizei, sondern von der Armenverwaltung ausgegangen sei. Das ist nach den bestimmten Informationen, die ich habe, unzutreffend. Wenn auch zunächst die Armenverwaltung wegen der Kosten, mit denen zu einem Teil der Aufenthalt des Mirski in den Anstalten verbunden war, an das Polizeipräsidium herangetreten sein mag, so ist doch die Initiative zur Ausweisung schließlich von dem Berliner Polizeipräsidium ausgegangen, und die Ausführung ist durch das Berliner Polizeipräsidium bewirkt worden.

Es ist von dem Herrn Minister Gewicht darauf gelegt worden, dass Mirski ja nicht ausgeliefert, sondern „nur" in der üblichen Weise an die Grenze gebracht und dort den russischen Gendarmen in die Hände geliefert worden sei. Das „nur", das hier der Herr Minister gebraucht hat, ist ganz besonders kennzeichnend. Es handelt sich nicht um ein „nur", sondern es handelt sich um etwas, was schlimmer ist als jegliche Auslieferung. Jeder, der ausgeliefert wird, wird auf Grund eines geordneten Rechtsganges ausgeliefert, der ihm gewisse Garantien sichert, und er wird des weiteren ausgeliefert unter ganz bestimmter Umgrenzung der Justizgewalt desjenigen Staates, an den er ausgeliefert wird. Es werden dem Einschreiten der Justizgewalt des Staates, der den betreffenden Ausgelieferten empfängt, bestimmte Grenzen gezogen, über die er nach völkerrechtlichen Grundsätzen und vertraglicher Verpflichtung nicht hinaus kann. Es ergibt sich also, dass ein eines Verbrechens Verdächtiger, der im förmlichen Auslieferungsverfahren seinem Heimatsstaate übergeben worden ist, sich in einer Lage befindet, von der man nicht sagen kann, dass sie aller Garantien bar sei. Ganz anders aber liegt es bei denen, die nur „abgeschoben" werden, die nur ausgewiesen werden, mit denen nichts weiter geschieht als das, was der Herr Minister mit „nur" bezeichnet hat, die nämlich von der deutschen Polizei der Polizei des fremden Landes – im vorliegenden Falle der russischen Polizei – einfach und unbedingt in die Hände gegeben werden. In diesem Falle ist der Betreffende jeder Möglichkeit beraubt, sich überhaupt zu verteidigen, überhaupt den gegen ihn gerichteten Verdacht zu entkräften, bevor es zu der Ausweisung kommt. Er ist außerdem in keiner Weise gegenüber der Justiz des Staates geschützt, dem er ausgeliefert wird; dieser Staat kann mit ihm machen, was er will. Die deutsche Polizei hat den Mann der russischen Polizei einfach überantwortet, weil sie ihn nicht hier dulden wollte, und die russische Polizei ist in der Verfügung über ihn in keiner Weise beschränkt.

Meine Herren, diese Art der Ausweisung im Gegensatze zur Auslieferung ist, wenn sie unter solchen Umständen geschieht, ein viel größeres Unglück für den Betreffenden, als jede Auslieferung es sein kann.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Deshalb haben wir, und nicht nur wir, sondern auch andere Parteien, besonders im Reichstage seit jeher Gewicht darauf gelegt – besonders ist es auch die Zentrumspartei gewesen; ich habe aus dem eigenen Munde des Herrn Dr. Spahn gehört, dass die Herren dieses Verfahren als eine Ungesetzlichkeit betrachten –, dass nicht in der Form der Ausweisung tatsächlich eine Auslieferung stattfindet, so dass die Ausweisung sich von der Auslieferung nur dadurch unterscheidet, dass dem Auszuweisenden die Garantien entzogen sind, die der Auszuliefernde dem Gesetze nach besitzt.

Wenn der Herr Minister also gemeint hat, dass Mirski durch die Art des hier eingeschlagenen Verfahrens günstiger gestellt worden sei, als er es gewesen wäre, wenn er ausgeliefert worden wäre, so dürfen wir dem Herrn Minister vorwerfen, dass er sich offenbar über die Tragweite der polizeilichen Maßnahmen überhaupt nicht klar ist, dass er sich nicht darüber klar ist, welchen Unterschied es bedeutet, ob der Mann in der Form der Auslieferung oder in der Form der Ausweisung dem fremden Staate in die Hände gegeben wird. Diesen Unterschied hat er trotz wiederholter parlamentarischer Erörterungen bis heute nicht verstanden.

Meiner Ansicht nach ist es auch ein nobile officium, dafür zu sorgen, dass mit der Ausweisung gegen den eines Verbrechens Verdächtigen, wenn die Auslieferung nicht in Antrag gebracht ist, mit größter Vorsicht vorgegangen wird, ganz besonders dann, wenn es sich um die Ausweisung in ein Land handelt, das man ja doch wohl nicht mehr unter die europäischen Kulturstaaten rechnen kann. Russland hat ja sozusagen eine Verfassung, Russland hat ja sozusagen eine Justiz, eine Rechtspflege, aber alles doch nur „sozusagen". Russland ist ja doch, ich möchte fast sagen, asiatischer als die asiatischen Staaten.

(Zuruf bei den Sozialdemokraten: „Asiatischer als Preußen!")

Das ist die Frage; das wird sich danach entscheiden, wie die preußische Polizei sich künftig in derartigen Fällen verhalten wird. Meine Herren, wir wissen, dass es in Russland eine geordnete Justiz überhaupt nicht gibt. Sie steht nur auf dem Papier. In Wahrheit herrschen dort noch immer nicht die ordentlichen Gerichte, sondern die Militärgerichte, die Standgerichte, die Kriegsgerichte. Diese Gerichte urteilen summarisch. Diese Gerichte kehren sich an die Gesetze sowenig, wie sich vielfach die deutsche Polizei an die Gesetze kehrt.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Diese russischen Militärgerichte pflegen auch sehr summarisch zu exekutieren. Die Rechtskraft ihrer Entscheidungen tritt schnell ein, es ist die Möglichkeit der Rechtsbeschwerde an die höchste Instanz entzogen, und die Urteile pflegen selbst, bevor die Möglichkeit, irgendeine Begnadigung einzuholen, gegeben ist, exekutiert zu werden. Diese Zustände sind es, die jedermann veranlassen müssen, dafür zu sorgen, dass niemand, ohne dass geradezu eine zwingende Notwendigkeit vorliegt, in die Klauen der russischen Justiz ausgeliefert wird.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Wir können sagen, dass hier sogar gewisse, durchaus nicht radikale Parteien der russischen Duma auf einem viel fortgeschritteneren Standpunkt stehen als das preußische Ministerium des Innern. Ich darf besonders darauf hinweisen, dass der Vertreter und Pfleger des Mirski, mein Freund Dr. Oskar Cohn, unter anderem sich gewandt hat an den Oktobristen2, den Baron von Meyendorff, das bekannte Dumamitglied, um seine Intervention in der hier fraglichen Angelegenheit herbeizuführen. Herr Baron von Meyendorff hat sich in einer Weise damit beschäftigt, die von Mitgliedern der Rechten dieses Hauses vergeblich zu erwarten wäre, hat sich der Sache angenommen, hat sich mit dem Kriegsgericht in Verbindung gesetzt und bemüht sich, in dieser Weise ein scheußliches Justizverbrechen zu verhindern, das die russische Militärjustiz in diesem Augenblicke zu begehen im Begriff steht.

Meine Herren, es bedarf doch in der Tat keiner weiteren Ausführung darüber, dass das Verfahren der preußischen Polizei in dem hier vorliegenden Fall einer Entschuldigung überhaupt gar nicht zugänglich ist.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Man braucht sich doch nur die wesentlichsten Tatsachen vor Augen zu halten. Dieser Mann ist von preußischen Richtern, von preußischen Staatsanwälten, von preußischen Psychiatern hohen Rufes, von beamteten Ärzten Preußens für unzurechnungsfähig erklärt. Es steht, ich möchte sagen, die ganze offizielle Autorität Preußens hinter der Feststellung dessen, dass dieser Mann unzurechnungsfähig und zur Zeit verhandlungsunfähig sei. So hat die preußische Justiz, so hat die preußische Medizin geurteilt über diesen Mann. Was kehrt aber die Polizei die Medizin? Was wird die Polizei berührt von dem, was die Justiz gesagt hat! Der Minister des Innern pfeift darauf. Der Herr Minister hat ja Anweisungen bekommen von dem russischen Ministerium des Innern oder vom russischen Auswärtigen Amt – ich weiß nicht –, dahingehend, dass allem Anschein nach Mirski den Aufenthalt im Irrenhause nur benutzen wolle, um die Flucht zu ergreifen. Diese eine Behauptung, auf Grund irgendeiner Spitzelphantasie dem Herrn Minister des Innern oder dem Berliner Polizeipräsidenten zugetragen durch eine russische Behörde, hat für den Herrn Minister des Innern eine größere Autorität als die Beschlüsse der preußischen Gerichte selbst und als die Urteile der preußischen beamteten Ärzte! Meine Herren, eine größere Entwürdigung der eigenen preußischen Autorität, wie sie hier die preußische Polizei vollzogen hat, kann man sich doch wirklich nicht vorstellen.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Aber weiter, meine Herren! Wenn der Herr Minister auf den Fall hier überhaupt eingehen wollte, so hätte er doch in allererster Linie auch einmal das eine Faktum erörtern müssen, das von meinem Freunde Hirsch mit in den Vordergrund seiner Erörterungen gezogen ist, nämlich das Faktum, dass auf Anweisung des Berliner Polizeipräsidiums, entgegen dem Reglement der Anstalt, dem Pfleger des Geisteskranken keine Mitteilung von der Entlassung des Geisteskranken gemacht worden ist und dass dadurch allein es ermöglicht worden ist, dass dem Pfleger rechtzeitige Schritte gegen die Ausweisung nach Russland abgeschnitten worden sind.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, auf diese gröbliche Ungesetzlichkeit des Berliner Polizeipräsidiums, die daneben eine Herzlosigkeit, eine Barbarei und ein Liebesdienst der elendsten Art nach Russland hinüber ist, ist der Herr Minister des Innern überhaupt nicht eingegangen. Ich meine, man braucht wahrhaftig dem nichts hinzuzufügen, um die Überzeugung zu gewinnen, dass unsere preußische Polizeiverwaltung allen Anlass hätte, etwas in sich zu gehen und sich endlich zu bemühen, sich ein klein wenig den Anforderungen anzupassen, die ein modernes Staatsgebilde, ein moderner Kulturstaat an eine Polizeiverwaltung zu stellen hat.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, ich möchte jedem von Ihnen, der etwa Lust hat, sich über die Tragweite dieses Schrittes des Ministeriums des Innern klarzuwerden, anheimgeben, einmal diese Schrift durchzugehen, die ich Ihnen hier zeige und die ich jedem von Ihnen gern in die Hand geben will, wenn Sie es wünschen; es ist die bekannte Schrift des Fürsten Krapotkin „Terror in Russia", der Schrecken in Russland. Diese Schrift, die mit so großer Vorsicht und Zurückhaltung ausgearbeitet ist, dass sie wichtigste, die russische Verwaltung gravierendste Daten auslässt, weil sie Fürst Krapotkin in den verwahrlosten offiziellen Unterlagen für statistische Feststellungen nicht hat finden können – diese mit der größten Peinlichkeit, die stets nur bemüht ist, offizielle Dokumente für die Feststellung heranzuziehen, abgefasste Schrift ergibt ein so erschütterndes Bild über die Zustände der Ungesetzlichkeit, der Rohheit, der Verkommenheit, der Unmenschlichkeit in Russland, über die Zustände bei den russischen Gerichten und in den russischen Gefängnissen, dass man von jedem, der weiß, dass solche Zustände in Russland existieren, und der dennoch einen Menschen, der noch dazu geisteskrank ist, diesen russischen Schergen in die Hand liefert, sagen muss: er will ein Verbrechen begehen, er hat dieses Verbrechen auf dem Gewissen.

Meine Herren, es handelt sich um Menschenleben in diesem Falle, und das werden auch Sie, wenn Sie auch mit den Drohungen, zu schießen und dergleichen, so rasch bei der Hand sind, doch schließlich so ganz einfach und leicht nicht nehmen.

Meine Herren, das ist der Fall Mirski, von dem ich hiermit feststelle, dass das preußische Ministerium des Innern nicht in der Lage gewesen ist, an dieser zuständigen Stelle auch nur ein Wort zu seiner Entschuldigung vorzubringen, obwohl man bereits im Auslande und allenthalben Aufklärung fordert und die lebhafteste Entrüstung über diesen Vorgang zum Ausdruck gebracht hat.

Gewiss, der Herr Minister des Innern hat ja vorhin ein Gefühl der absoluten Wurstigkeit gegenüber dem Auslande hier zum Ausdruck gebracht.

Vizepräsident Dr. Krause (Königsberg): Herr Dr. Liebknecht, es ist doch wirklich zum mindesten nicht geschmackvoll, dergleichen Ausdrücke gegenüber einem Minister zu gebrauchen.

Liebknecht: Also ein Gefühl der Gleichgültigkeit gegenüber dem Auslande zum Ausdruck gebracht. Wir sind in Preußen, hat er gesagt, und wir Preußen wissen selber, was wir zu tun haben, und wir fragen nicht nach dem Auslande. Meine Herren, das ist ja eben die Frage, ob die Preußen wissen, was sie zu tun haben. Sie wissen es leider eben nicht. Sie ruinieren sich und das ganze Ansehen Preußens in Grund und Boden hinein, wenn Sie weiter auf der Einbildung beharren, dass Sie nicht auf das kulturell höherstehende Ausland zu achten hätten, von dem Sie so viel lernen könnten, und dass Sie nach den zurückgebliebenen Anschauungen, wie sie in Preußen nach alter Tradition herrschen, in der Lage seien, die der Zeit entsprechenden Maßnahmen zu finden.

Meine Herren, man sollte doch hier in diesem Hause wahrhaftig der Sozialdemokratie nicht den Vorwurf machen, dass sie die Gesetze nicht kenne und dass sie die Ungesetzlichkeit zu schützen und zu vertreten bereit sei. Der Herr Abgeordnete Freiherr von Zedlitz hat es ganz besonders für nötig gehalten, in einer scharfen Wendung nach links hinüber mir und den übrigen Mitgliedern der sozialdemokratischen Fraktion zuzurufen, sie kenne ja die Gesetze überhaupt nicht. Meine Herren, die Gesetze kennen wir glücklicherweise etwas besser, als dem Freiherrn von Zedlitz und seinen Parteifreunden und der preußischen Regierung lieb ist. Wir sind glücklicherweise in der Lage, in einer auch juristisch einwandfreien Weise die Behauptung aufrechtzuerhalten, dass in der Frage der Demonstrationen das Gesetz auf unserer Seite steht und dass die preußische Regierung ungesetzlich vorgegangen ist.

Meine Herren, was da besonders gegen den Erlass des Herrn Ministers vom 16. April dieses Jahres eingewandt wird, ist in keiner Weise abgeschnitten oder entkräftet durch dasjenige, was der Herr Minister vorgebracht hat. In diesem Erlass findet sich zunächst einmal die Behauptung, dass die Umzüge eine Beeinträchtigung des Verkehrs herbeiführen würden; und dies wird als ein Argument mit dafür angeführt, dass solche Umzüge zu verbieten seien. Meine Herren, ich kann darauf hinweisen, dass schon nach dem alten preußischen Vereinsgesetz eine Rücksicht auf die Verkehrsverhältnisse bei dem Verbot, der Nichtgenehmigung von Versammlungen und Aufzügen unter freiem Himmel nicht zulässig war. Das entspricht der klaren Judikatur des Oberverwaltungsgerichtes, von dem ich wiederholt, besonders in den Jahren 1904 und 1905, Entscheidungen über solche Vorgänge extrahiert habe. Das Oberverwaltungsgericht hat stets konstatiert: Die Rücksichten auf den Verkehr haben schon nach dem preußischen Vereinsgesetz hierbei auszuscheiden.

Wie viel mehr gilt das für die Herrschaft des gegenwärtigen Reichsvereinsgesetzes. Da ist bei den Verhandlungen nicht ein einziger Zweifel gelassen worden, dass Rücksichten auf den Verkehr schlechterdings für die Versagung der Genehmigung ausgeschlossen sein sollen, und es ist damals als Grund für die Versagung der Genehmigung nur die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zugelassen worden. Da man natürlich aus der bisherigen Judikatur wusste, wie es möglich sei, solche Kautschukworte zu dehnen und schließlich aus allerhand geringfügigen und lächerlichen Hirngespinsten heraus „Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit" zu konstruieren, wurde damals von dem Herrn Staatssekretär des Innern die präzise Erklärung gefordert, dass die Regierung selbstverständlich darüber walten werde, dass diese gesetzliche Bestimmung in einer alle Schikane und alle Kleinlichkeit vermeidenden Weise gehandhabt würde. Diese Erklärung ist damals im Reichstage feierlich abgegeben worden. Das ist mitbestimmend dafür gewesen, dass die linken Parteien des Hauses und wohl auch das Zentrum dem Gesetz zugestimmt haben. Diese Erklärung, die in so schroffem Widerspruch zu der gegenwärtigen Praxis steht, ist von demselben Herrn abgegeben worden, von dem es der Sage nach heißt, dass er Ministerpräsident in Preußen sei, also sozusagen der Vorgesetzte des Herrn Ministers des Innern.

So können wir also feststellen, wie das Ministerwort, das Wort des Herrn von Bethmann Hollweg, in Bezug auf die Auslegung des Vereinsgesetzes gehalten worden ist. Wenn sich Herr von Bethmann Hollweg früher nicht einmal darauf berufen hat, dass er natürlich nicht in die Judikatur eingreifen könne und dass er, wenn die Verwaltungsgerichtsentscheidungen dem widersprechen, was er zugesichert habe, machtlos sei, so war demgegenüber kaum etwas einzuwenden; die Schuld würde in der Tat in solchen Fällen mehr bei den Gerichten liegen als bei dem Reichskanzler und Ministerpräsidenten. Wenn aber, wie hier, eine generelle Anweisung von dem Herrn Minister des Innern über die Handhabung des Reichsvereinsgesetzes erlassen wird, dann, meine Herren, unterliegt es doch nicht dem geringsten Zweifel, dass diese Verfügung, dieser Erlass unter der unmittelbaren Verantwortlichkeit des Herrn Ministerpräsidenten steht, und wir haben das gute Recht, dem Herrn Ministerpräsidenten von Bethmann Hollweg unter diesen Umständen Illoyalität und Doppelzüngigkeit vor aller Welt vorzuwerfen.

(„Sehr wahr!" und „Bravo!" bei den Sozialdemokraten. – Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident Dr. Krause (Königsberg): Wegen dieser Äußerung, Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, rufe ich Sie zur Ordnung.

Liebknecht: Meine Herren, wir kennen das Gesetz, und wir wissen deshalb auch, dass in dem Gesetz steht, dass Versammlungen unter freiem Himmel und Umzüge im Allgemeinen gestattet, dass sie allerdings an eine Genehmigung geknüpft sind. Aber es heißt nicht etwa in dem Gesetz: Die Genehmigung ist für die Regel zu versagen und darf nur ausnahmsweise gewährt werden, sondern im Gesetz steht: Die Genehmigung darf nur ausnahmsweise versagt werden, nämlich in einem Falle unter ganz bestimmten Umständen. Meine Herren, wenn nun ein Minister, der zur Ausführung des Gesetzes bestimmt ist, es den untergeordneten Polizeiorganen zur Pflicht macht, dass sie nicht, wie das Gesetz es will, die Genehmigung, sondern das Verbot des Umzugs als Regel betrachten und nur in Ausnahmefällen die Genehmigung gestatten, so handelt der Minister ganz unzweifelhaft gegen das Gesetz.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Und es ist solches Vorgehen um so bedauerlicher, um so unerträglicher, als ja der Herr Minister die ihm untergeordneten Polizeiorgane geradezu zwingt, in dieser Weise vorzugehen,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

sie also damit zur Ungesetzlichkeit zwingt.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Wie kann ein Minister, der dazu da ist, die Gesetze auszuführen, und der hier vor diesem „Parlament", vor diesem Abgeordnetenhause als Vertreter der zur Ausführung der Gesetze bestimmten Behörde auftritt, eine derartig dem Gesetz gröblich ins Gesicht schlagende Anweisung ins Land hinausgehen lassen! Meine Herren, es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, dass man gerade hier über Rechtsfragen überhaupt nicht zweierlei Meinung sein kann,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

dass sie gerade hier absolut klar liegt und dass der Herr Minister hier nicht nur dem Geiste des Gesetzes zuwidergehandelt hat, sondern in deutlicher Weise auch dem klaren Wortlaut und selbst dem Buchstaben des Gesetzes.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Man müsste nicht in Preußen sein, um nicht solche Sachen zu erleben, und wir Sozialdemokraten haben uns wieder als gute Propheten erwiesen, als wir die freisinnigen Parteien damals warnten, ein Reichsvereinsgesetz mit derartigen Kautschukbestimmungen in die Hände einer solchen Behörde zu geben, wie es speziell das preußische Ministerium des Innern ist. Als wir damals unseren Warnruf ausstießen, glaubte man an die Loyalität der Erklärung des Herrn von Bethmann Hollweg. Jetzt hat man die Bescherung, und jetzt sehen wir zu unserer Freude, wie wir gerne zugeben, auch den Herrn Abgeordneten Fischbeck unter den Anklägern gegenüber dem Herrn Minister des Innern.

Meine Herren, es bedarf in der Tat keiner weiteren Bemerkung und keines weiteren Beweises dafür, dass wir diejenigen sind, die die Gesetze im vorliegenden Falle kennen, und dass wir diejenigen sind, die die Gesetze im vorliegenden Falle angewendet wissen wollen, dass wir es sind, die eine gleichmäßige Anwendung des Gesetzes wünschen, während der Herr Minister und wohl auch gewisse Parteien dieses Hauses im Gegensatz dazu und im Gegensatz zu dem Vorwurf, der uns gemacht worden ist, offensichtlich das Gesetz nicht kennen, jedenfalls – ob sie es nun kennen oder ob sie es nicht kennen – es nicht anwenden wollen.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, es ist von dem Herrn Minister des Innern besonderes Gewicht darauf gelegt worden – auch von einem der Herren Vorredner aus dem Hause –, dass bei derartigen Umzügen sich gleich Publikum ansammle und sich dadurch eine größere Beeinflussung der Menschheit in dem durchzogenen Gebiete ergebe als bei einer an einem bestimmten Orte fest gebundenen Versammlung unter freiem Himmel. Meine Herren, ich habe es noch niemals erlebt, dass es von den herrschenden Parteien dieses Hauses bedauert worden ist, dass, wenn die Musik durch Berlin zieht, die Militärmusik wohlgemerkt, wenn die große Wache aufzieht, da alles erdenkliche Publikum, Groß und Klein, alle Pennbrüder von Berlin usw., hinterher zu ziehen pflegen. Meine Herren, diese Umzüge werden absichtlich von Ihnen zu dem Zwecke veranstaltet, um möglichst viel Publikum anzulocken und hinter sich herzuziehen, weil Sie meinen, durch derartige, etwas kindliche Maßregeln die Stimmung der Bevölkerung in einer dem herrschenden System günstigen Weise beeinflussen zu können. Wenn wir aber sehen, wie hier, wo doch ein großer Teil des Abschaums der großstädtischen Bevölkerung regelmäßig hinter diesen militärischen Kundgebungen begeistert herzuziehen pflegt, die Polizei ein Auge zuzudrücken pflegt und keine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit besorgt – wie will man da dem Minister des Innern wirklich glauben, dass er ernstlich besorgt ist, durch Umzüge der Sozialdemokraten könnten solche Folgen eintreten? Es gibt auch sonst genug Umzüge verschiedener Art, die gestattet zu werden pflegen; es gibt Beispiele genug, auch von proletarischen Umzügen, und es ist nicht das geringste dabei passiert.

Das besonders Unglaubliche ist aber dabei, dass der Herr Minister es zu billigen, zu entschuldigen gesucht hat, dass man jetzt die Maiversammlungen unter freiem Himmel auch in einem großen Teile von Preußen verboten hat. Das hat der Herr Minister des Innern getan, nachdem gerade die Probe auf das Exempel am 10. April dieses Jahres3 so außerordentlich glänzend gelungen war. Bis zum 10. April hatten der Herr Minister des Innern und der Polizeipräsident stets sozusagen die Entschuldigung: Wer weiß, was daraus werden kann; ihr habt bisher noch nicht bewiesen, dass ihr die Masse in den Händen habt und dass die Massen so diszipliniert sind, dass aus ihnen selbst heraus jede Störung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit vermieden wird. Wenn der Beweis dafür überhaupt noch zu führen war, so ist er geführt justament durch die Vorgänge vom 10. April. Damit ist doch die Lage derer, die nun für den 1. Mai wiederum Versammlungen unter freiem Himmel vorhatten, bei weitem günstiger geworden gegenüber den Behörden, denen sie ja eben den schlüssigen Beweis erbracht haben, dass es ohne Störungen der öffentlichen Ruhe abgeht hier in Berlin wie an anderen Orten im Lande.

Und gerade nachdem dieser schlüssige Beweis geführt worden war, kommt der Herr Minister und erklärt, jetzt sei die Besorgnis größer als zu der Zeit, wo nach seiner Auffassung ein solcher Beweis noch nicht geführt war; und es wird ein ziemlich generelles Verbot der Versammlungen unter freiem Himmel über ganz Preußen hinaus verfügt. Das verstehe, wer da kann, meine Herren.

Einer der Herren hat mit großer Emphase darauf hingewiesen – und der Herr Minister hat ihm darin Recht gegeben –, dass ein Polizeiverwaltungsbeamter, der etwa die Verantwortung für derartige Veranstaltungen den Veranstaltern der Versammlungen oder des Aufzuges übertragen würde, damit der Verantwortung nicht enthoben sei. Darüber sind wir vollständig einer Meinung; ein solcher Beamter bleibt natürlich formal verantwortlich, und ein anderes ist auch meiner Ansicht nach niemals behauptet worden. Aber die Herren haben auch etwas ganz anderes treffen wollen, indem sie einen Angriff gegen dieses verständige Verfahren eines Polizeiverwalters gemacht haben; sie wollten damit ihre ernste Missbilligung einem Beamten aussprechen,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

von dem ja geradezu gesagt worden ist, dass er mit der Sozialdemokratie zu verhandeln, zu paktieren sich erkühnt, der so verständig ist, dass er die Sozialdemokraten zu einer Art Mithilfe zur Aufrechterhaltung der Ordnung heranzieht. Meine Herren, in Ihren Vorwürfen gegen diese verständige Maßregel des Beamten kommt wieder die ganze kleinliche polizeiliche Engherzigkeit Ihrer politischen Weltanschauung zum Ausdruck.

(Abgeordneter Hoffmann: „Sehr wahr!")

Soll man denn einen Polizeibeamten nicht als höchst verständig bezeichnen, der das lebendige Gefühl, den Ehrgeiz der Bevölkerung, zu zeigen, was sie in ihrer selbstgewählten und selbst gewollten Disziplin kann, der die Kräfte des Volkes selbst heranzieht, um das Volk durch sich selbst zu disziplinieren? Soll man nicht einen solchen Beamten wegen des verständigen Verhältnisses, in das er sich zu dem Volke, zu dem er doch selbst gehört, gesetzt hat, rühmen müssen?

Meine Herren, wir können nicht den allergeringsten Zweifel daran hegen, dass es Ihnen geradezu unangenehm gewesen ist, dass die Sozialdemokratie, sich selbst überlassen, eine so vorzügliche Ordnung bewahrt hat.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Sie wollten es nicht gern haben, dass die Polizei der Sozialdemokratie die Gelegenheit dazu gebe, ein solch glänzendes Exempel von Selbstdisziplin und Organisation zu geben.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Deshalb Ihre Empörung und Ihr Zorn über diesen Polizeibeamten.

(Lachen rechts.)

Es ist gesagt worden, dass die Demonstrationen im Grunde genommen nichts weiter seien als eine Vorübung zur Revolution. Ich habe dem Herrn Freiherr von Zedlitz zugerufen: ein kriegsmäßiges Manöver auf die Revolution. Meine Herren, ja, das Manöver auf die künftige Revolution, das wird sich nicht so vor Ihren Augen abspielen.

(„Hört! Hört!" rechts. – Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.)

Wenn wir wirklich die Absicht hätten, eine solche Revolution, wie Sie sich das in Ihren etwas mittelalterlichen Anschauungen vorstellen, zu machen, dann werden wir doch nicht dem Berliner Polizeipräsidium Gelegenheit geben, sich vorher mit uns als Feind einzuüben, damit Sie uns dann auch gehörig gewachsen sind, wenn wir wirklich diese Heugabelrevolution einmal ausführen wollen.

(Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, Sie wissen ja gar nicht, dass viel gefährlichere Manöver auf die künftige Revolution die Manöver sind, die wir hier in diesem Hause auskämpfen.

(Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)

Das revolutioniert viel mehr. Und einer der lebhaftesten und gefährlichsten Revolutionäre auf diesem Felde ist einer von den Herren hier rechts, der sich einbildet, dass er eine der stärksten Stützen des gegenwärtigen Staates sei, nämlich der Freiherr von Zedlitz.

(Heiterkeit und „Bravo!")

Wenn er eine Ahnung hätte, was er uns bereits genützt hat! Herr Freiherr von Zedlitz ersetzt uns ein ganzes sozialdemokratisches Aktionsprogramm allein durch seine Reden!

(Heiterkeit.)

Meine Herren, damit genug von der Revolution.

Wir haben es über uns ergehen lassen müssen, dass der Herr Minister des Innern einen Aufruf des sozialdemokratischen Parteivorstandes, den auch wir unterzeichnet haben, hier als Popanz vorgeführt hat. Es ist aber lebhaft zu bedauern, dass der Herr Minister des Innern von diesem ganzen phänomenalen staatsgefährlichen Aufruf Ihnen bloß einen einzigen Eingangssatz hat mitteilen können,

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

aus dem auch die staatsanwaltlichste Phantasie eines hinterpommerschen Polizeibeamten irgendeine strafbare Handlung nicht wird herausnehmen können.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Damit waren die offenbar geringen Ansprüche des Herrn Ministers aber bereits befriedigt. Man kann sich danach vorstellen, welche Anforderungen der Herr Minister unter diesen Umständen an die ihm untergeordneten Polizeiorgane stellt, wenn er von ihnen Material zur Feststellung revolutionärer Bestrebungen wünscht.

Dann, meine Herren, ist noch ein „Vorwärts"-Artikel herangezogen worden, wiederum in der homöopathischen Dosis eines einzigen Satzes, mit dem natürlich nichts anzufangen ist, und schließlich hat die „Schleswig-Holsteinische Volkszeitung" heran müssen, und der Herr Minister des Innern hat aus einigen Sätzen, die er gänzlich aus dem Zusammenhange gerissen hat,

(Abgeordneter Hoffmann: „Sehr richtig!")

beweisen zu können geglaubt, dass die Sozialdemokratie ernstlich Revolution im Heugabelsinne machen wolle. Nun, meine Herren, was dort gesagt worden ist, das ist nichts anderes als das, was die überall zum Gemeingut jedes geschichtlich gebildeten Menschen gewordene geschichtliche Erfahrung lehrt, was sogar Sie selbst, wenn Sie objektiv sein wollen, nicht bestreiten können. Es ist darin nichts weiter gesagt worden, als dass die formale Gesetzlichkeit allerdings nicht auf die Dauer ein Hindernis sein kann für die Fortentwicklung der Gesellschaft. Meine Herren, Sie selbst ändern ja Ihre Gesetze unausgesetzt. Weshalb? Weil diese Gesetze den fortschreitenden Verhältnissen angepasst werden müssen. Wie oft erleben wir, dass Sie selbst von unerträglichen gesetzlichen Zuständen sprechen, in denen Abhilfe geschaffen werden müsse, weil Sie sich beengt fühlen in diesen gesetzlichen Fesseln und überzeugt sind, dass die Triebkräfte der menschlichen, der gesellschaftlichen Entwicklung derartige gesetzliche Fesseln nicht ertragen können. Nur darum handelt es sich im vorliegenden Falle. Es ist naturgemäß und wird auch von der Staatsregierung im Prinzip anerkannt, dass sie genötigt ist, zum Zweck der Fortentwicklung der menschlichen Gesellschaft die Gesetze immer wieder den veränderten Verhältnissen anzupassen. Etwas anderes ist nicht gesagt worden. Und, meine Herren, das ist politische Pflicht, der sich vor allen Dingen jeder Staatsmann in seiner vollen Verantwortlichkeit bewusst sein sollte. Diese politische Pflicht, diese Verantwortlichkeit wird von Ihnen nicht in vollem Umfange begriffen. Es ist das, was wir Ihnen zum Vorwurf machen, dass Sie die Zeit nicht verstehen, dass Sie mit Gewalt eine Entwicklung zurückhalten wollen, die mit Naturnotwendigkeit kommt, weil sie aus den innersten Triebkräften und den innersten Gesetzen menschlicher Entwicklung herauskommen muss. Das ist dasjenige, was in der „Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung" in ganz zutreffender Weise den verblendeten und von allen guten Geistern verlassenen herrschenden Parteien und der Regierung in Preußen vorgehalten ist.

(Lachen rechts. „Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Und nun die formale Gesetzlichkeit. Das Ministerium des Innern und einige Herren aus dem Hause haben wirklich den Mut besessen, der Sozialdemokratie gegenüber als die Hüter der Gesetzlichkeit aufzutreten. Herr Minister, darf ich mir vielleicht gestatten, Sie an den so wunderschön gelegenen Fall Schöne-Brockhusen zu erinnern?

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

An den Fall, wo ein preußischer Polizeikommissar, Herr Schöne – ich kenne die Sache besser als Sie, Herr Minister –

(Heiterkeit.)

einem russischen Untertanen, dem der Ausweisungsbefehl bereits zugestellt war, die Zusicherung gab, dass diese Ausweisung unterbleiben würde, wenn er für Entgelt gegen sein eigenes Vaterland Hoch- und Landesverrat üben würde?! Dieser Herr Schöne, der dem betreffenden russischen Kaufmann, dessen Namen ich hier nicht nennen will, einen falschen Pass als einem deutschen Untertanen ausgestellt hat, und zwar als einem Christen, obwohl er ein Jude war, weil ja Juden nach Russland nicht hinüber dürfen! Meine Herren, ist dem Herrn Minister nicht bekannt, dass dieser gefälschte Pass im „Vorwärts" abfotografiert gewesen ist und dass die Tatsachen von keiner Seite haben bestritten werden können?! Im Abgeordnetenhause sind sie ja vor einiger Zeit auch bereits Gegenstand der Besprechung gewesen; aber der Herr Schöne waltet heute noch seines Amtes, und dem Passfälscher, dem Kriminalkommissar Schöne, ist bis zum heutigen Tage kein Härchen gekrümmt worden, und die Justiz, die in Preußen so gut funktioniert, wenn ein Hoch auf das allgemeine Wahlrecht ausgebracht wird, hat gänzlich versagt gegen einen passfälschenden, urkundenfälschenden Königlichen Kriminalkommissar Schöne!

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Ja, meine Herren, der Herr Minister des Innern beruft sich auf die Gesetzlichkeit! Der Herr Minister schuldet mir heute noch die Antwort auf dasjenige, was ich ihm bei der zweiten Lesung des Etats über die Vorgänge in dem Prozess Grienblatt, der in Dresden gespielt hat, mitgeteilt habe, über die Urkundenfälschung, die gefälschte Übersetzung, die damals aus dem Berliner Polizeipräsidium heraus an das Dresdner Gericht geschickt worden ist, eine Fälschung, welche als solche vom Gericht durch rechtskräftiges Urteil festgestellt worden ist. Der Herr Minister schuldet mir noch jede Auskunft darüber, welche Untersuchung wegen dieses skandalösen Falles von der übergeordneten Behörde eingeleitet worden ist. Ja, meine Herren, eine solche Behörde darf sich der Sozialdemokratie gegenüber auf Gesetzlichkeit berufen!

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, in diesem Hause von Gesetzlichkeit reden! Und besonders, wenn der Etat des Ministeriums des Innern verhandelt wird! Und ganz besonders, meine Herren, an einem Tage nach dem Tage, an dem ein Mitglied der größten Fraktion dieses Hauses hier ohne jede präsidiale Rüge die Androhung einer Duellforderung einem Mitglied des Hauses hat in das Gesicht rufen können!

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, Sie Hüter der Gesetzlichkeit! Da lachen ja die Hühner!

(Lachen rechts. „Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)


1 Im Falle Mirski handelt es sich um den bolschewistischen Revolutionär Ter-Petrosjan (Terpetrosow), Parteinamen Kamo und Mirski, der in der Geschichte der russischen Arbeiterbewegung durch sein kühnes, kampf- und opferreiches Leben zu einer fast legendären Gestalt wurde. Mirski arbeitete während der ersten russischen Revolution 1905–1907 an der Aufstellung, Bewaffnung und Ausbildung von Arbeiterkampfgruppen und war seit Ende 1906 im Auslande, unter anderem auch in Deutschland, mit dem Ankauf von Waffen und ihrem illegalen Transport nach Russland beschäftigt.

Im Zusammenhang mit der Aushebung einer Versammlung russischer Sozialdemokraten und der Beschlagnahme des Literatur- und Waffenlagers der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) in Berlin im November 1907 geriet auch Kamo in die Hände der Berliner Polizei. Da man bei ihm einen Koffer mit Sprengstoff fand, wurde er angeklagt, gegen das Dynamitgesetz verstoßen zu haben. Er wurde etwa zwei Jahre lang in Deutschland inhaftiert und schließlich Ende 1909 an Russland ausgeliefert, obwohl er es verstanden hatte – um der Ausweisung nach Russland und einer unausbleiblichen schweren Bestrafung zu entgehen –, eine Geisteskrankheit so vorzutäuschen, dass sie ihm von den Ärzten bescheinigt wurde. 1911 gelang ihm schließlich die Flucht aus einer zaristischen Haftanstalt. (Siehe dazu Nadeschda Krupskaja: Erinnerungen an Lenin)

2 Mitglieder des „Verbandes des 17. Oktober", einer im November 1905 gegründeten russischen konterrevolutionären Partei der großen Handels- und Industriebourgeoisie und der kapitalistisch wirtschaftenden Großgrundbesitzer. Die Oktobristen, die in Worten das Manifest vom 17. Oktober 1905, in dem der durch die Revolution erschreckte Zar dem Volk „bürgerliche Freiheiten" und eine Verfassung versprach, anerkannten, strebten in Wirklichkeit nicht nach Beschränkung der Selbstherrschaft und unterstützten voll und ganz die Innen- und Außenpolitik der zaristischen Regierung. Führer der Oktobristen waren der Großindustrielle A. I. Gutschkow und der Latifundienbesitzer M. W. Rodsjanko.

3 Am 10. April 1910 kam es wiederum in zahlreichen Städten Preußens zu großen Wahlrechtsdemonstrationen. Entgegen der bisherigen Praxis der Regierung wurden für diesen Tag in einer ganzen Anzahl Städte Versammlungen unter freiem Himmel genehmigt. Auch in Berlin hatte der Polizeipräsident die Erlaubnis erteilt, im Friedrichshain, Humboldthain sowie im Treptower Park Versammlungen durchzuführen. Diese Kundgebungen mit insgesamt etwa 250.000 Teilnehmern verliefen ohne Zwischenfälle.

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