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Karl Liebknecht 19100923 Gegen zaristische und borussische Reaktion

Karl Liebknecht: Gegen zaristische und borussische Reaktion

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten in. Magdeburg vom 18. bis 24. September 1910, Berlin 1910, S. 174, 400-404. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 3, S. 490-497]

I

Antrag 75 (Osthavelland)

1. Der Parteitag wolle gegen die infame Vergewaltigung Finnlands durch den Zarismus protestieren, dem um seine Freiheit und sein Recht kämpfenden finnischen Volke seine brüderliche Sympathie aussprechen und ihm für diesen Kampf die opferbereite Unterstützung durch das klassenbewusste deutsche Proletariat zusichern.

2. Der Parteitag protestiert aufs Schärfste dagegen, dass der russische Zar, der Mitschuldige an allen Gräueln und Infamien der Gegenrevolution, der Auftraggeber und Schirmherr der Asew, Harting und sonstigen Lockspitzelschurken, der Mitverantwortliche auch der neuen niederträchtigen Judenverfolgungen, das Haupt jener verbrecherischen Verschwörung gegen die finnische Freiheit und Selbständigkeit, als gefeierter Gast den deutschen Boden hat betreten dürfen und dass deutsche Beamte und Soldaten zum Schutze des gekrönten Verbrechers kommandiert, die Steuergroschen deutscher Steuerzahler für ihn verschleudert werden konnten und damit die Ehre des deutschen Volkes, das in seiner übergroßen Mehrheit diesen „Gast" verabscheut, tief herabgewürdigt worden ist.

II

Rede zur Begründung des Antrages 75

Zunächst möchte ich Sie bitten, meinem Antrage hinzuzufügen: „Der Parteitag brandmarkt die preußische und hessische Regierung, die den Repräsentanten einer barbarischen, gesetzlosen und hochverräterischen Willkürherrschaft gegen die Empörung des deutschen Volkes durch Maßnahmen zu schützen versuchen, durch die die deutschen Gesetze rücksichtslos mit Füßen getreten werden und so auch in Deutschland eine barbarische Willkürherrschaft etabliert wird."

Seit sechs Jahren hat sich die deutsche Sozialdemokratie fast Jahr für Jahr auf ihren Tagungen mit irgendwelchen russischen Angelegenheiten zu befassen gehabt. Bald waren es die unwürdigen Vorgänge auf Kontrollstationen, bald die Ausweisungsskandale, bald war es die Frage einer deutschen Intervention aus Anlass der russischen Revolution, bald die russische Revolution selbst, unsere glänzende Hoffnung aus den Jahren 1904 bis 1906. Bald haben wir es zu tun mit einem Hochverrats- oder Geheimbundprozess und anderen Liebedienereien, die im Interesse des Zarismus von deutschen Behörden verübt werden.

Schon im vergangenen Jahre hatten wir uns damit zu beschäftigen, dass der Zar deutschen Boden zu betreten gewagt hatte. Im vorigen Jahre ist er durch Deutschland hindurch geflüchtet, er hat sich vor der Bevölkerung nirgends sehen lassen, er hat sich damals – ein Ausdruck des bösen Gewissens, von dem er gepeitscht ist, er, der Repräsentant des fluchbeladenen russischen Systems – vor dem deutschen Volke verborgen gehalten. In diesem Jahre steht es anders, da müssen wir es erleben, dass der Zar von einem deutschen Fürsten als Gast aufgenommen wird auf Monate hinaus, in einer Weise, wie sie ehrenvoller einem auswärtigen Fürsten kaum je zuteil geworden, dass man zu seinem Schutze deutsches Militär und deutsche Polizei kommandiert, dass zu Ehren des Repräsentanten jenes Systems, auf dessen Konto die Schändung der Spiridonowa1 verzeichnet ist, Ehrenjungfrauen aufgestellt werden. Allerdings haben sie ihm die Ehrerbietung mit der Hinterfront erweisen müssen, weil man es offensichtlich doch für etwas gefährlich ansah, den Zaren selbst diesen spalierbildenden Personen von Angesicht zu Angesicht zu präsentieren. Es sind deutsche Steuergroschen ausgegeben worden für diesen Empfang und Aufenthalt des Zaren. Der Zar hat es wagen dürfen, sich offen wie ein freier Bürger Deutschlands vor dem Publikum in verschiedenen Ortschaften, wie Nauheim, Homburg usw., sehen zu lassen. Er bewegt sich unter dem Schutze der deutschen Polizei noch gegenwärtig so frei in Deutschland, wie er es niemals in Russland selbst tun dürfte. Es ist ein unerträglicher Gedanke, während es weder in Frankreich noch in Italien noch sonstwo möglich wäre, dass gerade Deutschland dazu ausersehen ist, diesem Manne, der in seinem eigenen Lande unstet und flüchtig hin und her gehetzt wird, der sich allenthalben verstecken muss wie ein verfolgter Räuber, die Möglichkeit zu geben, frei und offen aufzutreten wie ein Mensch, der ein Anrecht auf die Achtung seiner Mitmenschen hat. Ich meine, das ist eine Schmach für Deutschland. („Sehr wahr!") Es ist unerträglich, dass durch ein derartiges Verhalten dem Zaren vor der Kulturwelt durch die Hilfe der deutschen Behörden ein neues Prestige gegeben wird.

Wir dürfen nicht vergessen, dass der Zar ein Schwarzhunderter2 ist, dass er für all die Vorgänge, die uns mit Empörung erfüllen, höchstpersönlich mitverantwortlich ist. Es ist eine törichte Sentimentalität zu sagen: Ach, der arme Zar ist ja unschuldig an all dem, er ist nur das zufällige Etikett auf Handlungen, die andere Personen begehen. Er ist vielmehr ganz selbstverständlich mitverantwortlich für das System, welches er durch seinen Namen und die von ihm repräsentierte Regierungsform deckt. Er hat sich bekanntlich ganz offen für die Schwarzhunderter ausgesprochen, hat aus seiner Privatschatulle für sie Beiträge gegeben, hat das Abzeichen der Schwarzhunderter bis vor kurzem auf seiner Brust getragen. (Pfuirufe.) Auch der Deutsche Kaiser ist ja von dem Verband echtrussischer Leute als Schwarzhunderter in Anspruch genommen worden, genau wie nach den Wahlen von 1907 Fürst Bülow gleich dem Lügenverbandsgeneral3 von dieser Gesellschaft ein Gratulationstelegramm bekam; und um das deutsche Trifolium voll zu machen: Kein Geringerer als Oldenburg-Januschau wurde von dem berüchtigten Purischkewitsch, dem Führer der Schwarzhunderter, als sein lieber Freund und Gesinnungsgenosse bezeichnet. Sympathiebezeugungen, die in aller Deutlichkeit dokumentieren, dass russische Reaktion noch immer deutsche Reaktion ist, dass die zaristische Reaktion mit der borussischen Reaktion noch immer auf Gedeih und Verderb verbunden ist und mit ihr auf demselben Schiffe untergehen will. So haben wir allen Anlass, uns immer wieder mit den Beziehungen Deutschlands zu Russland und speziell den russischen Einwirkungen auf Deutschland, kurz: mit Russland in Deutschland zu beschäftigen.

Ich habe nicht nötig, auf die Gräuel der Gegenrevolution einzugehen, habe nicht nötig, einzugehen auf die Lockspitzelwirtschaft, auf die Judenverfolgungen, die in der neuesten Zeit in Russland wieder ganz besonders bösartige Dimensionen angenommen haben, habe nicht nötig, darauf hinzuweisen, dass gerade in diesen Tagen von der Gegenrevolution wiederum in einer Weise mit Blut und Gewalt gearbeitet wird wie kaum je in früheren Jahren.

Aber eins veranlasst uns heute ganz besonders, unseren Protest mit all der Leidenschaftlichkeit zu erheben, die uns die Pflicht der internationalen Solidarität des Proletariats auferlegt. Ich meine die finnische Frage. Das so außerordentlich sympathische kleine Volk der Finnen, das eines der schönsten Länder der Erde bewohnt und der Kultur und speziell der Literatur soviel Schönes geschenkt hat, dieses Volk, das durch den Schwur des Zaren vom 27. März 1809 die freie Verfassung, die es unter dem schwedischen Regime besaß, garantiert bekommen hat, dieses Volk ist seit langer Zeit bereits dem Zarismus ein Dorn im Auge und ein Stachel im Herzen. Von früheren reaktionären Versuchen will ich nicht sprechen, sondern nur darauf hinweisen, dass man bereits 1901 dem finnischen Volk ein Militärgesetz gesetzwidrig aufzuzwingen suchte. Durch den Wehrpflichtstreik des Jahres 1902 wurde diese Attacke abgeschlagen. Dann kam die unselige Periode, die durch die verruchten Namen Plehwe4 und Bobrikow gekennzeichnet ist –

Vorsitzender Klühs macht den Redner darauf aufmerksam, dass er nur zehn Minuten Redezeit habe, wie sie für die Begründung aller „sonstigen Anträge" Gepflogenheit sei.

Liebknecht: Ich halte es für selbstverständlich, dass die selbständigen Anträge der Wahlkreise nicht schlechter behandelt werden als selbständige Anträge irgendeines Delegierten. („Sehr richtig.")

Vorsitzender Klühs: Dann müsste eben die Geschäftsordnung respektive unsere alte Gepflogenheit abgeändert werden. Auch ich bin dadurch schon stark beschnitten worden. Ich bitte Sie also fortzufahren, aber nicht allzu lange.

Liebknecht: Sie wissen, dass alsbald ein heftiger Widerstand gegen dies System einsetzte, der am 16. Juni 1904 in dem Attentat Schaumanns gipfelte, dem der Terrorist Bobrikow erlag. Das war eins der Signale der russischen Revolution, ein Signal, das in der ganzen Welt mit Begeisterung begrüßt wurde. Nun folgte eine Periode größerer Freiheit und Beweglichkeit für das finnische Volk. Nachdem aber die russische Revolution niedergeworfen war, begannen sofort wieder die Reaktion und der Kampf gegen die finnische Freiheit. Zuerst kam am 2. Juni 1908 ein Reglement, das entgegen der finnischen Verfassung, nach der die finnische Verwaltung und die Gesetzgebung nur unter dem Beirat finnischer Autoritäten zu führen ist, den russischen Ministerrat bei der finnischen Verwaltung und Gesetzgebung mitzuwirken beauftragte und ihn so verfassungswidrig zur Regierung über Finnland etablierte. Bald darauf, im Frühjahr 1909, wurde die Zusammensetzung des Senats staatsstreichlerisch umgestürzt; während nach der Verfassung der Senat nur aus Finnländern bestehen darf, wurde er mit russischen Generalen und Admiralen angefüllt, und bald war nur noch ein einziger Finne – ein „Altfinne" natürlich – im Senat, der so zu einem gefügigen Werkzeug des Zarismus umgestaltet war. Am 7. Oktober 1909 wurde jenes berüchtigte Manifest erlassen, nach dem das finnische Volk künftig als Entgelt dafür, dass es „vorläufig" von der russischen „Militärpflicht" „entbunden" bleibt, eine jährliche Abstandssumme von zehn, steigend bis zwanzig Millionen zahlen soll. Schließlich ist im Juli 1910 von der russischen Duma mit den Stimmen der Oktobristen5 und der Rechten jener infame Gesetzentwurf angenommen worden, der den gesetzgebenden Instanzen Russlands unter Ausschaltung der finnischen Legislative auch für Finnland auf fast allen Gebieten die gesetzgebende Gewalt überträgt.

So wurde Verfassungsbruch auf Verfassungsbruch gehäuft, Staatsstreich auf Staatsstreich, Meineid auf Meineid, um dem finnischen Volke die bisherige Souveränität zu entziehen. Schon im Mai 1910 befasste sich der Landtag mit dem Entwurf zu dem Gesetz vom Juli 1910; er lehnte es ab, das von ihm geforderte Gutachten zu erstatten, weil der Entwurf durchaus ungesetzlich und verfassungswidrig sei. Gerade in diesen Tagen soll der Landtag in Ausführung des staatsstreichlerischen „Gesetzes" über die Entsendung von vier finnischen Mitgliedern in die Duma beschließen. Er hat bereits sein Votum dahin abgegeben, dass das ganze Gesetz verfassungswidrig ist und dass er es ablehnt, ihm Folge zu leisten. Damit ist die finnische Frage in ein akutes Stadium eingetreten, und besonders unsere finnischen Genossen gehen einer schweren Zeit entgegen. Das sichert ihnen ein Recht darauf, dass wir in diesem Momente unseren Protest vor allem erheben gegen die verfassungsbrecherische Vergewaltigung des finnischen Volkes, die der Zarismus auf sein Gewissen zu laden im Begriffe ist, dass wir ihnen unsere herzlichste Sympathie zu diesem ernsten Kampfe aussprechen und ihnen opferbereite Solidarität geloben.

In welch kulturwidriger Weise der russische Einfluss in der finnischen Finanzverwaltung ausgeübt wird, dafür ein Beispiel. In dem Etat, den der finnische Landtag für 1909 festsetzte, sind von der russischen Regierung nicht weniger als 73 wichtige Posten einfach gestrichen worden, meist solche für Kulturzwecke, für Schulangelegenheiten, für Gesundheitspflege usw., und zwar, um so die Mittel für die Militärkontribution zu erübrigen. Wie könnte deutlicher gezeigt werden, dass es sich um einen Kampf von Barbarei gegen Kultur handelt!

Wir dürfen nicht vergessen, dass Finnland sich das demokratischste Wahlrecht auf dem ganzen europäischen Kontinent zu erringen verstanden hat; dass eine starke sozialdemokratische Fraktion von über 80 Mitgliedern im finnischen Landtage sitzt, dass die finnischen Proletarier glänzend organisiert sind und dass insbesondere auch die finnischen Frauen in der Front des Emanzipationskampfes des Proletariats stehen. Wir müssen unsere Stimme erheben gegen die Vergewaltigung dieses unglücklichen Volkes und des Landes, das ein Asyl gewesen ist für die russische Revolution und eine Oase in der blutgetränkten Wüste der russischen Reaktion.

Sie wissen, wie die Proteste deutscher und auswärtiger Parlamentarier, Völkerrechtslehrer usw. gegen diese brutalen Staatsstreiche von der russischen Regierung und Duma en Canaille behandelt worden sind. Aber darum dürfen wir nicht verzagen und meinen, es habe keinen Sinn zu protestieren; im Gegenteil, die öffentliche Meinung Europas muss immer von neuem gegen den Zarismus und seine Schleppenträger aufgerufen werden. Und wenn in Frankfurt und in Langen die deutschen Gesetze mit Füßen getreten wurden, um den Zaren zu schützen vor der Empörung des deutschen Volkes, und wenn versucht wird, die russische Willkürherrschaft dem Zaren zum Wohlgefallen auch in Deutschland zu etablieren, so haben wir gleichzeitig mit ihr auch die preußische und hessische Reaktion an den Pranger zu stellen.

Es ist in der Tat, wie mir scheint, unmöglich, dass der Zarenbesuch in Deutschland noch länger in derselben Indolenz wie bisher hingenommen wird. Es wäre unbegreiflich, wenn der Zar nicht schließlich durch die allgemeine Empörung des deutschen Volkes gezwungen würde, aus Deutschland Reißaus zu nehmen.

Wenn sich das deutsche Volk im vollen Umfange bewusst wäre, dass es den Vertreter des verbrecherischsten Regierungssystems, das jemals auf der Erde herrschte, auf deutschem Boden dulden soll, wenn sich das deutsche Volk bewusst wäre, was das russische Volk unter der Knute und dem Galgen und den Staatsstreichen dieses Regiments zu leiden hat, dann würde eine solche Aufregung, ein solcher Zorn aufflammen müssen, dass der Zar, dieser gekrönte Verbrecher, nicht in der Lage wäre, den deutschen Boden durch seine Anwesenheit länger zu schänden. (Bewegung.)

Indem wir die Resolution annehmen, sprechen wir die Aufforderung an das gesamte deutsche Volk aus, dass seine Empörung so wachsen möge, dass dieser fluchbeladene Mann hinausgetrieben, hinaus gepeitscht werde aus unserem Lande, so dass ihm für alle Zeit die Lust vergeht, den deutschen Boden ferner zu besudeln. (Stürmischer Beifall.)6

1 Spiridonowa, M. A., Mitglied der Sozialrevolutionären Partei, tötete im Jahre 1906 den Gouverneur von Tambow, den Unterdrücker der Bauernbewegung. Bei ihrer Verhaftung wurde sie von dem Kosakenoffizier Awramow in barbarischer Weise misshandelt. Sie wurde zu Zwangsarbeit verurteilt und erst durch die Februarrevolution 1917 befreit. Darauf schloss sie sich den linken Sozialrevolutionären an und zog sich später vom politischen Leben zurück.

2 Bewaffnete Banden, gegründet 1905–1907 durch die zaristische Polizei und monarchistische Organisationen. Sie ermordeten revolutionäre Arbeiter und Angehörige der Intelligenz, organisierten Judenpogrome und terrorisierten die nationalen Minderheiten.

3 Gemeint ist Generalleutnant von Liebert, der Vorsitzende des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie. Die Red.

4 Plehwe, W. K. (1846-1904) Von 1902 bis 1904 Innenminister und Chef der Gendarmerie in Russland. Führte einen schonungslosen Kampf gegen die revolutionäre Bewegung. Wurde am 15. Juli 1904 von dem Sozialrevolutionär E. Sasonow ermordet.

5 Mitglieder des „Verbandes des 17. Oktober", einer im November 1905 gegründeten russischen konterrevolutionären Partei der großen Handels- und Industriebourgeoisie und der kapitalistisch wirtschaftenden Großgrundbesitzer. Die Oktobristen, die in Worten das Manifest vom 17. Oktober 1905, in dem der durch die Revolution erschreckte Zar dem Volk „bürgerliche Freiheiten" und eine Verfassung versprach, anerkannten, strebten in Wirklichkeit nicht nach Beschränkung der Selbstherrschaft und unterstützten voll und ganz die Innen- und Außenpolitik der zaristischen Regierung. Führer der Oktobristen waren der Großindustrielle A. I. Gutschkow und der Latifundienbesitzer M. W. Rodsjanko.

6 Antrag und Zusatzantrag wurden einstimmig angenommen. Die Red.

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