Karl Liebknecht‎ > ‎1910‎ > ‎

Karl Liebknecht 19100602 „Gleiche Brüder – gleiche Kappen"

Karl Liebknecht: „Gleiche Brüder – gleiche Kappen'

Rede zur Begründung des eigenen Antrages gegen die Duldung zaristischer Agenten und Polizeispitzel in Deutschland

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, III. Session 1910, 5. Bd., Berlin 1910, Sp. 6517-6538 und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 3, S. 345-380]

Meine Herren, es ist nicht das erste Mal, dass man sich in den deutschen Parlamenten mit der Frage befasst, die den Gegenstand unseres Antrages bildet; es ist auch nicht das erste Mal, dass dasjenige Material, das den Anlass zu unserem Antrage gibt, in die deutsche Öffentlichkeit gebracht worden ist. Bereits am 3. Januar 1904 schrieb der „Vorwärts" unter der Spitzmarke: „Preußen, eine russische Spitzelprovinz" folgende Zeilen:

Der Oberspitzel" – in Berlin – „ist ein Herr, der von seinen Untergebenen ehrfurchtsvoll als ,Exzellenz' angeredet wird. Sein Gehalt, das er von der russischen Regierung bezieht, ist in der Tat das einer ,Exzellenz', er bekommt jährlich 36.000 Mark, also genauso viel wie ein preußischer Minister."

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, es war Harting, dessen Name damals bereits in dem „Vorwärts" genannt wurde, ein Name, der später eine große Berühmtheit erlangen sollte.

Am 16. Januar 1904 wurde von der sozialdemokratischen Fraktion des Deutschen Reichstages eine Interpellation eingebracht, in der Folgendes gefragt wurde:

Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, dass die russische Regierung im deutschen Reichsgebiet Polizeiagenten zur Überwachung russischer und deutscher Staatsangehöriger unterhält; dass zu diesem Zweck russische Polizeiagenten Verbrechen verübt und auch versucht haben, andere Personen zu Verbrechen zu bestimmen?"

Die Antwort wurde damals von dem Herrn Unterstaatssekretär von Richthofen erteilt und ging dahin:

Dem Reichskanzler ist bekannt, dass ein zur hiesigen russischen Botschaft gehöriger russischer Beamter von seiner Regierung damit betraut ist, das Tun und Treiben russischer Anarchisten, die sich in Deutschland aufhalten, zu beobachten und die russische Regierung darüber fortlaufend zu unterrichten. Dem Reichskanzler ist dagegen nichts bekannt geworden, woraus hervorgehen könnte, dass der russische Beamte seine Tätigkeit auch auf Reichsangehörige erstreckt. Dem Reichskanzler ist nicht bekannt, dass dieser Beamte oder von ihm zur Hilfe herangezogene Personen in Deutschland Verbrechen verübt oder versucht hätten, andere Personen zur Begehung von Verbrechen zu bestimmen.

Die zweite Frage lautet: Was gedenkt der Herr Reichskanzler zu tun, um diesen Zustand zu beseitigen? Darauf habe ich zu erwidern: Eine Beseitigung des bestehenden Zustandes scheint dem Reichskanzler nicht angezeigt."

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich bitte Sie, hier bereits zu beachten, dass, wenn auch einerseits zugegeben wird, dass eine Person bei der russischen Gesandtschaft zugelassen sei, doch gleichzeitig von Personen die Rede ist, die sie für ihre Zwecke zur Hilfe heranzieht. Es ist also damit bereits zugegeben, dass man zwar offiziell nur mit einer Person zu tun habe, dass diese Person aber zu ihrer Disposition ohne Kontrolle der deutschen Regierung andere Personen beschäftige. Meine Herren, es ist des weiteren wichtig, hierbei festzuhalten, dass der Herr Reichskanzler eine Beseitigung des bestehenden Zustandes nicht für angezeigt hielt.

Die Person, die hier von dem Herrn Reichskanzler als ihm bekannt und offiziell akkreditiert bezeichnet worden ist, ist wiederum kein anderer als ebenderselbe Harting, von dem ich noch mehr zu reden haben werde.

Meine Herren, die Beratung, die damals im Reichstage über die Interpellation stattfand, führte zu recht heftigen Angriffen gegen die Regierung; sie dürfte schwerlich jemals eine so lebhafte Niederlage erlitten haben wie dort im Reichstage an diesem Tage bei dieser Sitzung. Unser Parteifreund Bebel erklärte, dass diesen Vorgängen, die sich in den letzten Monaten im Deutschen Reiche abgespielt haben, in keinem Lande der Kulturwelt Ähnliches an die Seite gestellt werden könne. Es wurde von einem Mitglied der Freisinnigen Vereinigung, dem Abgeordneten Schräder, bemerkt, dass es ganz unzutreffend sei zu meinen, es lasse sich die Bespitzelung der russischen Staatsangehörigen durchführen, ohne dass man zugleich auch deutsche Staatsangehörige bespitzele.

Wenn man von einem Russen etwas wissen will",

so sagte er –

so muss man auch die Deutschen beobachten, mit denen er verkehrt, und so stehen die Deutschen auch in Gefahr, unter der Kontrolle der russischen Polizeibeamten zu sein."

Es wurde des weiteren mit allem Nachdruck die sehr wenig haltbare und durchaus nicht begründete Wendung des Herrn Reichskanzlers zurückgewiesen, als ob es sich nur um eine Überwachung der im Auslande lebenden russischen Anarchisten handle. Inzwischen hat man sich auch bereits gänzlich abgewöhnt, von russischen Anarchisten zu reden. Man weiß, dass es eigentlich Anarchisten in Russland gar nicht gibt,

(„Oho!" rechts.)

sondern nur Revolutionäre verschiedener Art,

(Widerspruch rechts.)

Anarchisten in Russland eigentlich gar nicht gibt! Meine Herren, Sie verstehen ja nichts davon.

(Lachen rechts.)

Sie haben eine polizeilich verkleisterte Phantasie auf diesem Gebiete und sind durchaus nicht imstande, den Unterschied zwischen Anarchisten, Sozialdemokraten und russischen Revolutionären der einzelnen Spielarten zu ziehen.

(Erneutes Lachen rechts.)

Ich muss Ihnen also jedes Urteilsvermögen hierüber absprechen.

(Wiederholtes Lachen rechts.)

Meine Herren, es ist des weiteren damals von dem Vertreter des Zentrums, dem Abgeordneten Dr. Spahn, die Ausweisung der russischen Polizeiagenten gefordert worden, von denen er annahm, dass sie sich lästig machen. Er hat mit Nachdruck die russische Polizeitätigkeit auf deutschem Boden verurteilt, und ebenso hat sich der Redner der Nationalliberalen, Herr Sattler, dieser Auffassung des Herrn Dr. Spahn angeschlossen.

Meine Herren, ich habe nicht nötig, noch die Pressestimmen zu zitieren, die damals überall laut wurden, sogar in konservativen Zeitungen, dem Zugeständnis der Regierung gegenüber laut wurden, dass sie derartige russische Polizeibeamten in Deutschland dulde.

Meine Herren, nachdem die Reichsregierung im Reichstage die eben von mir charakterisierte Niederlage erlitten hatte, flüchtete sie sich nach altbewährtem Muster in das preußische Abgeordnetenhaus, wo sie ja seit alters her sicher ist, ein bequemes Echo für jegliche reaktionäre und kulturwidrige Maßregeln zu finden.

(Abgeordneter Hoffmann: „Sehr richtig!")

Infolgedessen hat der damalige Herr Minister des Innern von Hammerstein nun hier seine Rechtfertigung gesucht und selbstverständlich auch gefunden in der Verhandlung vom 22. Februar des Jahres 1904. Nicht nur, dass der Redner der Konservativen, der Herr Abgeordnete von Heydebrand und der Lasa, damals eigentlich noch nicht einmal genug hatte an den Maßregeln der Regierung, sondern noch ein Übriges forderte: Es wurde auch kaum von irgendeinem Vertreter der übrigen bürgerlichen Parteien ein energisches Wort gegenüber denselben Machenschaften gefunden, die zum Teil von den Angehörigen derselben Parteien im Reichstage in der eben von mir geschilderten Weise so heftig verurteilt worden waren.

Meine Herren, es ist Ihnen ja bekannt, dass sich damals an die von mir geschilderten Vorgänge recht betrübende weitere parlamentarische Ereignisse knüpften. Es fiel damals aus dem Munde des Freiherrn von Richthofen das im höchsten Maße bedauernswerte Wort, in dem er die Ehre der russischen studierenden Frauen in einer Weise antastete, die man sicherlich in gar keiner Weise rechtfertigen kann, die die schärfste Verurteilung vom Gesichtspunkte jeglichen Anstandes, möchte ich sagen, verdiente,

(Lachen rechts.)

und des weiteren fiel damals aus dem Munde –

(Zuruf rechts: „Welcher Richthofen?")

der Staatssekretär von Richthofen; ich habe ja vorhin von dem Staatssekretär von Richthofen geredet – und damals fiel auch aus dem Munde des Reichskanzlers das nicht minder beschämende Wort von den Schnorrern und Verschwörern, das Deutschland in der Welt blamiert hat,

(erneutes Lachen rechts.)

und weiter erfolgte damals diese so unendlich beschämende Ausweisung derjenigen russischen Studierenden, die sich in einem offenen und ruhig-sachlichen, würdigen Protest

(erneutes Lachen rechts.)

gegen diese Angriffe von Seiten des höchsten Beamten des Deutschen Reiches wandten

(Wiederholtes Lachen rechts.)

Meine Herren, diese Vorgänge werden stets eines der trübsten Blätter in der Geschichte der deutschen inneren Politik bleiben.

(Wiederholtes Lachen rechts.)

Sie sind dokumentarisch von uns festgelegt, meine Herren, in verschiedenen Schriften, die sich eingehend mit diesen Angelegenheiten befassen; es ist dafür gesorgt, dass diese schmachvollen Vorgänge der Nachwelt nicht vorenthalten bleiben.

(Zuruf rechts: „Welcher Nachwelt?!")

Derjenigen Nachwelt, meine Herren, die Ihre Unkultur vergessen haben wird und staunen wird, wie wir jetzt über die Gebeine der vorsintflutlichen Menschen staunen,

(Große Heiterkeit und Zurufe rechts: „Gebeine ist gut!")

über die kulturellen Vorstellungen, in denen Sie noch heute leben. Meine Herren, es ist ja nichts Neues: Aus den Zeiten Friedrichs „des Großen" bereits rührt diese Abhängigkeit der deutschen und preußischen Polizei von Russland her. Treitschke hat gegenüber dieser Politik Friedrichs „des Großen" ein scharfes Wort geprägt: er hat über die Monarchie Friedrichs „des Großen" in Bezug auf die Teplitzer Punktation gesagt:

Friedrich der Große gab einer fremden Macht eine Zusage in inneren Angelegenheiten, deren Regelung jeder selbstbewusste Staat sich selbst vorbehalten muss. Es war die schlimmste Demütigung, der Preußen jemals unterworfen worden ist."

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Eine schimpfliche Demütigung war auch dasjenige, was sich damals – vor sechs Jahren – ereignete, insbesondere der schmähliche, mit einer fürchterlichen Blamage Preußens endende Königsberger Hochverratsprozess. Die Heilige Allianz, deren Traditionen gegenüber Russland noch heute mit einer Sorgfalt und Zärtlichkeit fortgepflanzt werden, als ob es sich um die Pflege einer der wertvollsten Pflanzen handle, ist in der Tat heute noch in vollem Umfange in Wirksamkeit, mindestens soweit es sich um die polizeilichen Verbrüderungsverhältnisse zwischen Preußen und Russland handelt. Einseitig waren ja schon zu den Zeiten der Heiligen Allianz diese Verbrüderungsbeziehungen. Schon damals war es Russland, das in die inneren preußischen Verhältnisse eingriff, während natürlich die Gegenseitigkeit nicht möglich war. Genauso ist es gegenwärtig. Wir haben in diesen Vorgängen vom Jahre 1904, die ich mir zu schildern gestattet habe, nichts anderes zu erblicken als eine Fortsetzung jener alten Traditionen aus den Zeiten jener Kotzebue und Konsorten.

Zu den Zeiten des Königsberger Prozesses wurde bereits von uns, den Verteidigern, mit besonderem Nachdruck der Verdacht angeregt, dass jene blutrünstigen Schriften, mit denen damals der Minister von Hammerstein hier in diesem Hause einen so glänzenden Erfolg erzielte, schwerlich auf anständige und korrekte Weise an die Adresse der Personen gelangt sei, bei denen sie beschlagnahmt worden sind und denen man sie nachher in dem Hochverratsprozess und Geheimbundsprozess an den Hals gehängt hat. Ebenso wurde in den Jahren 1907 und 1908, bei Gelegenheit jenes Prozesses Mirski oder Terpetrosow1, von dem in der letzten Zeit aus Anlass des Prozesses, der dem Terpetrosow in Russland gemacht wurde, auch hier gesprochen worden ist, der dringende Verdacht rege, dass jenes Dynamit, das in dem Koffer des Mirski gefunden wurde, gleich jenen Straßenfunden2 in der Pankstraße3, die in so ungeheuerlicher Weise gegen die Sozialdemokratie ausgenutzt wurden, auf irgendeine Weise durch Lockspitzel an ihre Stelle gebracht seien, dass man jedenfalls hier die Hände von dunklen Ehrenmännern zu vermuten habe. In Bezug auf die Pankstraße wurde das schon damals so zur Evidenz dargelegt, dass die Polizei von allen weiteren Maßnahmen Abstand nahm. Auch in Bezug auf den Fall Mirski hat sich die öffentliche Meinung in weitem Umfange, weit über die sozialdemokratischen Kreise hinaus, mit der Möglichkeit beschäftigt und die Wahrscheinlichkeit als vorhanden bezeichnet, dass Spitzel ihre Hände im Werke hätten und dass auf diese Weise das Dynamit in den Koffer gekommen sei. Es ist von besonderer Wichtigkeit, dass wir jetzt in der Lage sind, jene Vermutungen auf ihre Haltbarkeit zu prüfen, dass wir jetzt in der Lage sind, eingehend an der Hand von zahlreichen Tatsachen darzulegen, wie wohlbegründet der damals von der Sozialdemokratie ausgesprochene Verdacht gewesen ist.

Meine Herren, vor etwa eineinhalb Jahren begann der russische Revolutionär Wladimir Burzew die bekannten Enthüllungen über die russischen Lockspitzel und Provokateure, jene Enthüllungen, die die ganze zivilisierte Welt monatelang in Atem hielten. Sie wissen, dass bei diesen Enthüllungen besonders zwei Namen eine Rolle gespielt haben, die Namen Asew und Harting.

Asew ist charakterisiert worden als der größte Lockspitzel der Welt, als der größte Verräter, den es jemals gegeben haben mag. Man hat von ihm gesagt, dass, wenn einstens die Verräterei eines Judas Ischariot längst vergessen sein werde, dann noch in dem Gedächtnis der Menschen haften bleiben werde der Name Asew und die Erinnerung an seine niederträchtige, an seine verworfene und verruchte Verräterei. Asew ist in der Tat eine Persönlichkeit, die für uns nicht nur historisches und kulturhistorisches Interesse bietet, sondern die wir auch deshalb alle Veranlassung haben uns auch hier genau zu betrachten, weil sie – wie ich mir nachher darzulegen gestatten werde – für die russischen Verhältnisse typisch ist und infolgedessen, wenn wir wissen wollen, wie über unseren Antrag zu entscheiden ist, wir uns über den Charakter dieser Persönlichkeit klar sein müssen.

Meine Herren, Asew ist der Mitbegründer der Sozialrevolutionären Partei, das heißt derjenigen russischen revolutionären Partei, die unter anderem den Terror anerkannt hat.

(„Hört! Hört!")

Er ist die Hauptperson und der Begründer der sogenannten Kampforganisation gewesen, die dann als Spezialorganisation der Sozialrevolutionären Partei abgezweigt wurde zur Ausführung der Attentate.

(„Hört! Hört!")

Meine Herren, Asew ist nach Gerschunis4 Verhaftung, die auf seinen Verrat erfolgte – seines guten Freundes Gerschuni, mit dem zusammen er in der Kampforganisation gestanden hat und den er ans Messer lieferte am 13. Mai 1903 –, der Autokrat gewesen, das Haupt, der absolute Herrscher in dieser Kampforganisation, von der aus alle Attentate verübt worden sind, die in der Welt bekannt geworden sind in den letzten Jahren vor der russischen Revolution, in der Zeit der russischen Revolution und nach der russischen Revolution selbst. Meine Herren, Asew hat sich mit der Vervollkommnung der terroristischen Technik in ganz besonderer Weise beschäftigt. Er ist im Jahre 1904 nach Mazedonien, nach dem Balkan, gefahren und hat andere zu Studienreisen dorthin geschickt, um die besonders wirksamen Explosivstoffe vom mazedonischen Typus dort zu studieren. Asew hat die Technik des Terrorismus vervollständigt und umgeschaffen, er hat insbesondere jenes alte Wort wiederum aufgenommen, das bereits unter der Zeit der „Narodnaja Wolja"5 geprägt worden ist, dass der Revolver Unglück bringe; er hat die Attentatstechnik wiederum auf die Bomben und das Dynamit zurückgeführt und die Kampforganisation wiederholt reorganisiert. Er hat schließlich nach dem Attentat auf Plehwe6 – auf das ich noch zu sprechen kommen werde – die Kampforganisation in drei Detachements geteilt, die die Ermordung des Gouverneurs Trepow, des Großfürsten Wladimir, des Großfürsten Sergius und des Generals Keighels zur Aufgabe haben sollten. Er bezog 30.000 Franken jährlich für seine Tätigkeit. Er ist unter den Namen Winogradow, Tscherkassow, Raskin, Asew und unter anderen Namen bekannt gewesen bei der Polizei und bei den russischen Revolutionären. Meine Herren, dieser größte Verräter, dieser größte und verruchteste Judas, den es jemals gegeben hat, hat in einer besonders interessanten Weise sich seiner Mitarbeiter und Konkurrenten auf dem Gebiet des Spitzeltums zu entledigen gewusst. Es gab zwei Konkurrenten von ihm, Tatarow und Gapon, denselben Priester Gapon, der am 22. Januar 1905 den berühmten Zug der Petersburger Arbeiter zum Zarenpalast geführt hat. Er hat den Tatarow der Spitzelei verdächtigt – er war ja auch ein Spitzel–, und als man mit ihm nicht rasch ein Ende machen wollte, als man noch untersuchen wollte, ob er wirklich ein Spitzel sei, sagte er zu seinen revolutionären Freunden, die an seine Ehrlichkeit glaubten: „Es handelt sich nicht darum, ihn zu verhören, sondern es handelt sich darum, ihn zu töten." Er ist es ja auch gewesen, der durch Rutenberg die Ermordung des Gapon hat durchführen lassen.

Die Zahl der von Asew organisierten Attentate ist Legion. Er hat mitgewirkt bei der Inszenierung der Attentatsversuche gegen den Grafen Kutaissow, den Generalgouverneur von Irkutsk, gegen den Fürsten Nakachidse, den Gouverneur von Baku, und den Generalgouverneur Unterberg von Nischni-Nowgorod. Er hat vom Januar bis Mai 1906 Attentate inszeniert gegen den Minister Durnowo, gegen den Admiral Dubassow, gegen den Kriegsminister General Rödiger, gegen den Großfürsten Nikolaus Nikolajewitsch, gegen die Generale Minn und Riemann, gegen den Justizminister Akimow. Und er ist es, auf den die Blutschuld für die Ermordung jenes Fabrikanten Müller fällt, der durch die Kugel der Tatjana Leontjew getötet ist. Diese war durch ihn beauftragt, Durnowo zu ermorden; bekanntlich wurde Müller für Durnowo gehalten und von der Tatjana Leontjew aus diesem Grunde erschossen. Asew hat die Pläne ausgearbeitet zu den Attentaten gegen Trepow und gegen die Großfürsten Wladimir Sergius sowie gegen Keighels, von dem ich eben schon sprach, und zwar bis in alle Einzelheiten. Er hat auch den Terroristen die Pässe verschafft, mit denen sie nach Russland fahren konnten. Ich möchte mir gestatten, hierbei daran zu erinnern, dass es sich hier nicht um Vorgänge handelt, die in Deutschland so gar nicht ihresgleichen finden. Wenn wir an das Niederwaldattentat7 denken, so wissen wir, dass es ganz zweifellos zu einem großen Teil unter Mitwirkung von Polizeispitzeln inszeniert war; und es ist bekannt, dass die preußische Polizei bereits so frühzeitig von dem Niederwaldattentat wusste, dass sie in der Lage gewesen wäre, es im Keime zu ersticken, dass sie es aber wohlüberlegt nach einer ganz bekannten Taktik der Polizei bis nahe zur Vollendung hat gedeihen lassen, um dann mit einem möglichst großen Eklat einzugreifen, die Attentäter verhaften und an ihnen ein Exempel statuieren zu können. Es ist Ihnen vielleicht bekannt, dass man nicht nur bei der preußischen Polizei, sondern in weiten Kreisen, sogar in parlamentarischen Kreisen, über diese Vorgänge schon gesprochen hat, bevor das Attentat in den äußeren Formen inszeniert war, dass man wusste, dass die Polizei ein ihr bereits bekanntes Attentat unter ihren Händen weiter gedeihen lasse, um erst, nachdem es möglichst weit gediehen wäre, zuzufassen und schließlich ihre Konsequenzen daraus zu ziehen. In genau derselben Weise hat die russische Polizei, haben Asew und seine Vorgesetzten ständig verfahren.

Asew hat an dem Attentat gegen den General Sacharow, Gouverneur von Saratow, gegen den Vizegouverneur von Tambow, Bogdanowitsch, und gegen Chwostow, den Gouverneur von Tschernigow, teilgenommen und hat alle Vorbereitungen dazu getroffen. Er hat die Attentate auf Stolypin, die nach dem Jahre 1906 wiederholt unternommen, wenigstens vorbereitet worden sind, im Einzelnen ausgearbeitet. Schon im Jahre 1907 ist es weiter Asew gewesen, der ein Attentat auf den Zaren sorgfältig ausgearbeitet hat. Im Jahre 1908 hat er wiederum ein Attentat auf den Zaren sorgfältig vorbereitet, und zwar, wie aus den Enthüllungen der russischen Polizeibeamten deutlich hervorgeht, um deswillen, weil er seinen Kredit bei den Revolutionären auf diese Weise heben wollte. Nur durch einen Zufall ist es damals nicht zur Ausführung dieser Attentate gegen den Zaren gekommen. Meine Herren, Asews Plan, durch den er schließlich die Spuren seiner verbrecherischen Tätigkeit zu beseitigen gedacht hatte, die ganze Polizei, die ganze russische Geheimpolizei, das Gebäude der Ochrana, in die Luft zu sprengen, ist ja von seinem Freunde Isawinkow, der neben ihm in der Kampforganisation tätig war, der Öffentlichkeit mitgeteilt worden.

Meine Herren, eine ganze Anzahl von Attentaten, die Asew ausgearbeitet hatte, ist aber auch ausgeführt worden. Ganz abgesehen von dem Falle Müller, von dem ich eben schon gesprochen habe, abgesehen von dem Attentat auf den Fürsten Obolenski, auf Sipjagin und Bogdanowitsch, Attentaten, die noch nach der alten Methode gemacht wurden, kommen insbesondere die großen Attentate auf Plehwe vom 15./28. Juli 1904 und den Großfürsten Sergius vom 4./17. Februar 1905 in Betracht. Es darf als festgestellt und dokumentarisch bewiesen bezeichnet werden, dass diese beiden Attentate von Asew ausgearbeitet worden waren mit Wissen seiner vorgesetzten Behörde,

(Abgeordneter Hoffmann: „Hört! Hört!")

mit Wissen insbesondere seines unmittelbaren Chefs, Raschkowski, und dass diese Attentate trotz alledem zur Ausführung gelangten. Meine Herren, wie man dazu gekommen ist, diese Attentate doch zur Ausführung zu bringen, das will ich Ihnen in aller Kürze auseinandersetzen. Sie werden gerade daraus ersehen, welche Gefahr diese Art von Provokation darstellt.

Raschkowski war der Chef der politischen Auslandspolizei gewesen. Er hatte sich mit Plehwe veruneinigt, und dieser hatte ihn daraufhin entlassen. Nunmehr hat dieser Raschkowski, um sich an dem Minister des Innern Plehwe zu rächen, diese Attentate durch Asew organisiert und Plehwe aus dem Wege räumen lassen. Auf diese Weise ist es ihm möglich geworden, wieder die Bahn freizubekommen. Er wurde dann, nachdem Plehwe aus dem Wege geräumt war, wiederum als Leiter der russischen politischen Polizei des Auslandes eingesetzt. Meine Herren, in genau derselben Weise ist es mit dem Großfürsten Sergius geschehen. Allerhand Koterien und Faktionen treiben hier ihre Intrigantenpolitik gegeneinander und suchen sich gegenseitig zu vernichten, so wie ein Provokateur den anderen, der ihm im Wege steht, zu vernichten sucht, so wie Asew den Tatarow und den Popen Gapon vernichtet hat. Auf diese Weise sind eine ganze Anzahl von Attentaten mit Wissen und Willen der russischen Polizei durch diesen Asew ausgeführt worden. So ist es auch mit dem Attentat auf den Grafen Ignatjew vom 9./22. Dezember 1906, auf den Präfekten von Petersburg von der Lannitz vom 21. Dezember 1906, mit dem Attentat auf den Generalstaatsanwalt Pawlow und den Chef des russischen Strafvollzugs Maximowski. Ebenso ist es mit einem Attentat auf Dabessow vom Jahre 1906 gewesen, das nur durch einen Zufall nicht zur Ausführung gelangte.

So sehen Sie, meine Herren, dass es mit diesem Lockspitzel und Provokateur eine eigene Sache ist. Asew ist nicht nur in dem gewöhnlichen Sinne eines Provokateurs tätig gewesen, um sich selbst ein Air zu verleihen und doch rechtzeitig alle Gefahr zu beseitigen, sondern er hat sich in ganz überlegter Weise bei allerhand Intrigen zwischen Parteien und innerhalb der Regierungskreise selbst als politisches Werkzeug benutzen lassen. Er hat eine außerordentlich große Zahl von Mordtaten auf sein Gewissen geladen nur aus den Gründen, von denen ich eben gesprochen habe.

Dieser Asew ist ja auch lange Zeit hindurch in Deutschland gewesen; er hat sich in Karlsruhe und Darmstadt aufgehalten und ist damals bereits als Spitzel und Provokateur tätig gewesen. Er ist, wenn er sich auch meist in der Schweiz und in Frankreich aufgehalten hat, ziemlich häufig und lange in Berlin gewesen und hat hier mit den hiesigen russischen revolutionären Kreisen enge Fühlung genommen und durch sein Wesen den Eindruck zu erwecken gewusst, als ob er eine ehrliche Persönlichkeit sei. Hiermit genug von Asew.

Ich komme zu der zweiten Persönlichkeit, die im Vordergrunde steht; das ist die sogenannte Spitzelexzellenz Harting. Dieser Harting heißt eigentlich nicht Harting, sein ursprünglicher Name ist Abraham Heckelmann; er ist dann unter dem Namen Landesen in revolutionären Kreisen aufgetreten und hat bereits im Jahre 1890 am 28. Mai an eine Anzahl seiner Freunde in Paris Bomben verteilt, die er selbst fabriziert hat, nachdem er eine Bombenwerkstatt mit Polizeigeld eingerichtet hatte. Meine Herren, er hat diese von ihm so mit Bomben versorgten Freunde der Polizei gleichzeitig denunziert und ihre Ausweisung erreicht.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Für diese Spitzeltat hat sich dann der russische Kaiser der französischen Polizei außerordentlich dankbar erwiesen.

Meine Herren, es ist Ihnen bekannt, dass dieser selbe Harting-Landesen dann späterhin in Dorpat gewesen ist und sich an dieser früheren deutschen Universität bemüht hat, indem er geheime Druckereien organisierte, die er der Polizei verriet, in derselben Weise provokatorisch Unheil anzustiften, wie das eben von ihm in Paris geschehen war. Derselbe Harting war es, nach Vertrauen erweckenden Meldungen, der im Jahre 1904 das russische Geschwader bei der Doggerbank gegen die bekannten Huller Fischerboote aufgehetzt hat und sie zu dem bekannten einzigen siegreichen Seegefecht der russischen Flotte veranlasst hat.

Meine Herren, Harting ist es gewesen, der im Jahre 1906 in jener berüchtigten Affäre Tscherniak oder Tschorniak in Stockholm jene verbrecherische Rolle gespielt hat. Tscherniak sollte ausgeliefert werden; dieses Ansinnen wurde von Russland an die schwedische Regierung gestellt. Die schwedische Regierung – ich bin in dieser Sache selbst mit tätig gewesen – lehnte dieses Ansuchen ab: Tscherniak wurde freigelassen und fuhr auf einem Schiffe nach Belgien. Als das Schiff in Belgien ankam, wurde er vergiftet in seiner Kabine aufgefunden. Meine Herren, es ist festgestellt worden, dass Harting und seine Kreaturen mit ihm den unbequemen russischen Revolutionär auf diese Weise auf der Fahrt ums Leben gebracht haben.

Meine Herren, des weiteren ist es Harting gewesen, der im Jahre 1907 in Deutschland bei Gelegenheit des Zarenbesuches in Swinemünde tätig war.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Da war in die Hände eben dieses Harting die persönliche Sicherheit des Zaren gelegt worden.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Damals hat allerdings die preußische Polizei dem Vernehmen nach bereits ernstliche Bedenken getragen, diesem Manne Vertrauen zu schenken,

(„Hört! Hört!")

und sie soll sich nach Kräften darum bemüht haben zu verhindern, dass dieser Schutzengel des Zaren nicht seinerseits durch Anzettelung von Attentaten und dergleichen Geschichten auf deutschem Boden Unfug stiften könne.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, es ist Ihnen ja bekannt, dass von dem Jahre 1901 bis zum Jahre 1905 eben dieser selbige Harting in Berlin offiziell als Vertreter der russischen Polizei, des russischen Ministeriums, als Leiter der politischen Auslandspolizei oder als Vertreter des Leiters der politischen Auslandspolizei tätig gewesen ist. Es ist Ihnen bekannt, dass die Enthüllungen des „Vorwärts" aus dem Anfang des Jahres 1904, die ja einerseits bestätigt worden sind von der Regierung in den bekannten Sitzungen, von denen ich vorhin gesprochen habe, andererseits jetzt, nachdem Harting einmal entlarvt worden ist, in allerhand offiziösen Erklärungen der preußischen Regierung von neuem bestätigt worden sind, so dass alle diese Tatsachen über die Tätigkeit Hartings in Berlin der Wahrheit entsprechend erwiesen sind.

Meine Herren, diese Tätigkeit, die Harting damals in Berlin entfaltet hat, ist eine außerordentlich mannigfaltige gewesen. Harting hat damals eine ganze Anzahl von Personen beschäftigt, die zum Teil namhaft gemacht worden sind von der sozialdemokratischen Presse. Dazu gehörte ganz besonders ein gewisser Wolz, der mit der Beobachtung meines Freundes, des Dr. von Wetscheslow, betraut wurde und der in einer zweifelsfrei nachgewiesenen Weise sich darum bemüht hat, Postbeamte zu bestechen, das Telegrafengeheimnis zu durchbrechen usw.

Meine Herren, dieses Vorgehen des Harting, der diesen Namen übertragen bekommen hat vom Zaren, indem er von seinem alten jüdisch und daher etwas despektierlich klingenden Namen befreit wurde, weil der Zar ihn als seinen Lebensretter betrachtete, ist in höchstem Maße verderblich gewesen. Harting hat in Deutschland einen Aufwand von jährlich ungefähr einer halben Million gemacht und diesen Aufwand damit begründet, dass er dieses Geld zum Schmieren nötig gehabt habe, dieses Geld als Schmiergelder verbraucht habe. Meine Herren, wozu kann denn dieser Mann Schmiergelder anders gebraucht haben, als um Beamte zu bestechen? Es ist von unserer Seite ja wiederholt vor der großen Gefahr gewarnt worden, dass durch diese lichtscheuen Elemente, dass durch dieses Spitzelgesindel Beamte, ehrenwerte Beamte in einer Notlage gefasst und durch Bestechung zu Handlungen verleitet werden, die sie für ihr Lebtag unglücklich machen. Man hat sich in die Brust geworfen und getan, als ob man da eine schwere Beleidigung, die die Sozialdemokratie gegen den Beamtenstand schleudere, abwehren müsse, als ob von alledem überhaupt keine Rede sein könne. Meine Herren, wir sind sicherlich so fest wie möglich überzeugt, dass gerade der untere Beamtenstand in Preußen und in Deutschland in einer Weise seine Pflicht erfüllt, die weit über das hinausgeht, was nach der Art des Entgeltes, das diese Beamten bekommen, ihre Pflicht sein würde. Aber, meine Herren, das unterliegt nicht dem allergeringsten Zweifel, dass es irgendeinem geschickten Versucher möglich ist, wenn diese Leute in Not geraten – das kann sehr leicht eintreten –, diesen oder jenen Familienvater, bei dem vielleicht kranke Angehörige zu Bett liegen usw., einmal auf Abwege zu bringen, wie die Polizei es gar so oft schon fertiggebracht hat, Ehrenmänner, aber schwache Naturen, auf die schiefe Bahn zu bringen und zur Spitzelei zu verführen. Es ist also durchaus anzunehmen, dass die Tätigkeit dieses russischen Polizeibeamten, wenn auch dem Reichskanzler nichts davon bekannt war, dass er sich zu verbrecherischen Handlungen hat hinreißen lassen, doch dazu geführt hat, dass Bestechungen versucht worden sind und sicherlich auch mit Erfolg ausgeübt worden sind gegen Beamte verschiedener Kategorien. Ich meine, dass schon dieser Gedanke die deutsche Reichsregierung veranlassen müsste, Elementen solcher Art den Aufenthalt in Preußen und in Deutschland ein für allemal unmöglich zu machen.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, Harting ist außerdem im Jahre 1906 in Deutschland gewesen, worüber wir ganz sichere Nachrichten haben. Asew und Harting sind zu der Zeit des Königsberger Prozesses tätig gewesen. Harting ist sicherlich ein Inspirator des Königsberger Prozesses gewesen, und mit dem Schriftenversand hat sich gerade damals lebhaft Asew beschäftigt.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Ebenso kann es keinem Zweifel unterliegen, dass Asew oder seine Werkzeuge im Falle Mirski ihre Hand mit im Spiele haben.

Meine Herren, die Tätigkeit, die in all diesen Fällen entfaltet ist, ist von der deutschen Regierung allerdings nicht, wie mir scheint, nach Gebühr geahndet worden. Die deutsche Regierung hat, wie man glauben darf – denn es liegen auch darüber dokumentarische Nachrichten vor –, einem Mann wie Harting nicht etwa den verdienten Fußtritt versetzt und ihn mit Schimpf und Schande über die Grenze gejagt, sondern sie hat ihn dem Vernehmen nach mit dem Roten Adlerorden dritter Klasse, jedenfalls mit einem preußischen Orden, dekoriert. Meine Herren, wir haben von unserem Standpunkt gar keine Veranlassung, darüber zu wachen, dass das Ansehen der preußischen Orden möglichst hoch bleibe. Meinethalben können derartige Ordensverleihungen – und ähnliche Ordensverleihungen sind ja auch sonst noch oft genug passiert; ich erinnere nur an die bekannte Dekorierung von Stössel usw. – stattfinden. Wir haben gar nichts dagegen einzuwenden, wenn das Institut der Orden auf diese Weise diskreditiert wird.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Über den Aufenthalt Hartings in Berlin wird noch bemerkt, dass er vom Propst Malzew in Berlin getauft ist, als er den Namen Harting bekam

(Abgeordneter Hoffmann „Hört! Hört!")

und dass der Attaché der russischen Botschaft in Berlin, der Graf Murawiew, der spätere Minister des Auswärtigen, als Taufpate dieses Oberspitzels fungierte.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Eine feine Familie, diese russischen Beamten, das muss man sagen!

Weiter: Er hat in Nikolassee unter dem Namen Ingenieur Hartwig lange eine Villa bewohnt, und dort hat sich auch Asew häufig bei ihm aufgehalten.

Meine Herren, die preußische Regierung hat im Juli 1909 eine Art Dementi vom Stapel gelassen, wonach die russische Geheimpolizei in Berlin seit 1905 nichts mehr zu tun habe. Meine Herren, ich hoffe, Ihnen rasch genug nachweisen zu können, dass es sich hierbei um nichts handelt als um einen Verdunkelungsversuch der Regierung.

Was ich Ihnen über Asew und Harting an nackten Daten vorgetragen habe, ist nichts mehr, was man jetzt noch ausschließlich auf die Autorität eines Burzew hin und die innere Wahrscheinlichkeit der einzelnen Vorgänge hin zu glauben braucht, sondern es ist jetzt offiziell von der russischen Regierung bestätigt, nicht nur durch einen hohen Beamten, den Chef des russischen Polizeidepartements, Lopuchin, sondern auch durch die russischen Strafverfolgungsbehörden und die russischen Gerichte in dem Prozess, der bekanntlich gegen Lopuchin am 28. April/ll. Mai 1909 wegen Verrats von Geheimnissen angestrengt wurde. In einem offiziellen Bericht des Polizeidepartements, der im Prozess Lopuchin erstattet wurde, sind 28 terroristische Attentate aufgezählt, an denen Asew mit Kenntnis der Polizei mitgewirkt hat.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, Asew ist aber nicht der einzige. Wir haben auch noch den berüchtigten Kommissarow, der insbesondere in fremde Botschaften eingedrungen ist, sich dort mit Nachschlüsseln wichtiger Dokumente bemächtigt hat. Wir haben schließlich alle Veranlassung, hier auch der Sinaida Jutschenko zu gedenken, jenes weiblichen Asews, die ebenso zu dem Abschaum der Menschheit gehört wie die drei eben von mir erwähnten Personen.

Meine Herren, die Summe alles dessen, wovon ich eben gesprochen habe – „nehmt alles nur in allem" –, wir können sagen: Es kann eine verderbtere Polizei, eine skrupellosere Polizei, eine gewissenlosere, verruchtere Polizei als die russische überhaupt nicht geben.

(Abgeordneter Hoffmann: „Sehr wahr!")

Man muss bei jedem russischen Beamten, aber bei den Polizeibeamten ganz besonders, und bis oben hinauf, damit rechnen, dass sie Verbrecher schlimmster Sorte sind.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Man muss damit rechnen, dass sie eine Vergangenheit haben, die mit Blut besudelt ist. Man muss damit rechnen, dass sie Provokationen schlimmster Art auf dem Gewissen haben und dass sie nach ihrer Vergangenheit jeden Augenblick bereit sein werden, in ähnlicher Weise Gesetz, Recht und Menschlichkeit mit Füßen zu treten und Judas Ischariot zu überbieten, wie es von ihnen in ihrer Vergangenheit geschehen ist.

Es ist ja auch nichts ganz Neues für die russische Polizei; die auswärtige russische Polizei, soweit sie sich mit der auswärtigen Politik befasst, ist ja stets ähnliche Wege gewandelt. Es ist bekannt, wie schon der russisch-türkische Krieg inszeniert worden ist durch ähnliche Machenschaften. Es ist bekannt, dass Räuberbanden über die türkische Grenze geschickt wurden und 1876/77 Veranlassung zum Ausbruch des Krieges gaben. Es ist erinnerlich, dass 1893 bei Wilhelmi in Berlin die Schrift eines gewissen R. Leonew erschienen ist, die sich nennt: „Geheimdokumente der russischen Orientpolitik von 1881 bis 1890". Im Herbst 1903 sind in der „Wetscherna Posta" in Sofia Dokumente des russischen Agenten Weißmann veröffentlicht worden, die eine dankenswerte Ergänzung zu jenen Geheimdokumenten der russischen Orientpolitik bilden. Diese Dokumente von Weißmann und die von Leonew auf Veranlassung von Stambulow veröffentlichten Dokumente ergeben deutlich das verbrecherische Treiben der russischen Diplomatie und der russischen auswärtigen Polizei.

Es ist von uns in dem Königsberger Hochverratsprozess dies Material vorgetragen worden, es ist von einem russischen Staatsrechtslehrer bestätigt worden, dass jene von Leonew veröffentlichten Dokumente ihrem ganzen Charakter nach echt seien.

(Abgeordneter Hoffmann „Hört! Hört!")

Es haben allerdings gelegentlich Ableugnungsversuche stattgefunden. Beim letzten Mal, als diese Dokumente in der russischen Duma zur Sprache gebracht worden sind, hat die russische Regierung es nicht mehr vermocht, ein Dementi aufrechtzuerhalten.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Danach ist damals von den russischen Polizei- und Regierungsagenten unternommen worden, durch Anwendung strafbarer Mittel, Verschwörungen, Agitationen im Heere, Attentate, den gewaltsamen Umsturz der Verfassungen besonders in Bulgarien und Serbien herbeizuführen, insbesondere die Ermordung Stambulows und des serbischen Königspaares – in dieser Richtung haben wir auch noch andere bekannte Enthüllungen – zu veranlassen und zu fördern. Eine große Anzahl von Einzelheiten ist bekannt geworden, aus denen hervorgeht, dass versucht worden ist, Eisenbahnzüge in die Luft zu sprengen, Würdenträger zu vergiften, mit Bomben zu töten usw. Über alle diese Dinge liegen offizielle chiffrierte Depeschen vor, die zwischen dem asiatischen Departement der russischen Regierung und den Geschäftsträgern und Vertrauensleuten der russischen Regierung im Balkan gewechselt worden sind.

(Abgeordneter Hoffmann „Hört! Hört!")

Meine Herren, ich habe nicht die Absicht, Ihnen hier weitere Einzelheiten vorzutragen. Ich darf darauf hinweisen, dass insbesondere in Rustschuk Depots von Dynamitpatronen angelegt wurden, die zur Verwertung der russischen Agenten standen.

(Abgeordneter Hoffmann: „Hört! Hört!")

Man könnte glauben, das gehöre der Vergangenheit an. Aber, meine Herren, es gehört in der Tat nicht der Vergangenheit an, es gehört noch immer der russischen Gegenwart an. Wenn wir betrachten, wie nach den neuesten Enthüllungen, insbesondere nach der von Burzew herausgegebenen Schrift: „Der Zar und die auswärtige Politik" die russische Politik den japanischen Krieg entfesselt hat, so sehen wir, dass damals in genau derselben Weise gearbeitet worden ist. Es ist bekannt, dass, während damals angeblich die russische Politik in den Händen der Minister, der Kuropatkin und Graf Lambsdorff, lag, tatsächlich der Zar die ganze ostasiatische Politik machte, privatim, durch seine persönlichen Agenten, die Abasa, Besobrasow und andere. Eine Kamarilla hatte sich dort gebildet, die schließlich über die Köpfe der Minister hinweg jenen Krieg verbrecherisch entfesselt hat. Es ist bekannt, dass der Graf Lambsdorff darüber ein Orangebuch herausgegeben hat, in dem er dieses Verfahren aufs Schärfste angegriffen hat und diese Art der russischen Politik als früherer hoher Staatsmann Russlands gebrandmarkt hat.

Aus der neuesten Zeit sei schließlich der größten Schandtaten und Niederträchtigkeiten der russischen Polizei im Auslande, in Persien, gedacht. Es ist Ihnen bekannt, dass dort es der Oberst Liachow gewesen ist, der immer und immer wieder eingegriffen hat, der das dortige Parlament, die Medschlis, auseinandergetrieben hat, der an den Metzeleien unter den freiheitlichen Angehörigen der persischen Nation mitgewirkt und in der unerhörtesten Weise gewalttätig eingegriffen hat. Während er in den Gang der inneren politischen Entwicklung Persiens eingriff, hat die russische Regierung die Stirn besessen, der Öffentlichkeit gegenüber den Anschein zu erwecken, als ob sie mit Liachow nichts zu tun habe, als ob er ganz auf eigene Faust handele und in persische Dienste getreten sei. Nun ist vor wenigen Monaten, wie Ihnen wohl bekannt sein dürfte, von E. G. Browne eine kleine Broschüre veröffentlicht worden: „The Responsability of the Russian Government for the ,Chaos' now existing in Persia", worin eine Anzahl von Dokumenten publiziert worden ist. Edward Browne ist im Pembroke College, Cambridge, als Professor tätig, also eine durchaus offizielle Persönlichkeit. Er veröffentlicht vier Briefe des Colonels Liachow, aus denen deutlich hervorgeht, dass dieser in Persien mit Wissen der russischen Regierung unerhörte Verbrechen begangen hat. Alle seine Schreiben sind gerichtet an den General Staff, den Chef des russischen Militärs im Kaukasusdistrikt. Er hat diesem General Staff zunächst in einem Brief vom 27. Mai/9. Juni 1908 seine Absicht, gegen das persische Parlament vorzugehen, unterbreitet. Die Absicht geht dahin: das persische Parlament, das er ein „nest of robbers und bribetakers" nennt, mit Waffengewalt zu zersprengen und die Verteidiger des Parlaments niederzumachen, aber auch alle die Mitglieder des Parlaments zu töten, die irgendeinen Widerstand leisten würden. Er hat dann im Schreiben vom 31. Mai/l3. Juni einen sorgfältigen Plan ausgearbeitet, der nicht weniger als zehn einzelne Punkte enthält, in denen Bestechungen und Mord die Hauptrolle spielen.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Er spricht zum Beispiel davon:

With the fund of the Legation and of the Shah to bribe important members of the Majlis and the Ministers", das heißt „mit den Fonds der russischen Gesandtschaft und des Schahs einflussreiche Mitglieder der Medschlis und die Minister zu bestechen, um sie auf diese Weise für seine Zwecke zu gewinnen".

Und dann spricht er weiter davon, dass die Kosaken die Medschlis umringen, mit Artillerie beschießen und auseinandertreiben, dass die Widerspenstigen gehängt oder verbrannt werden sollen, und insbesondere, um auch zu verhindern, dass sich irgend jemand in die englische Botschaft flüchten könne, wo sie Sicherheit finden würden, dass die englische Botschaft besonders scharf bewacht werden solle. Das ist bekanntlich ausgeführt worden und hat zu einem scharfen Protest Englands gegen dieses völkerrechtswidrige Verhalten gegenüber der englischen Gesandtschaft von Seiten dieses gewalttätigen Russen geführt. Auch dieser Brief schließt: „Awaiting your commands", das heißt „Ihrer Befehle gewärtig". – Liachow unterstützt also die Befehle der russischen Regierung.

In einem Schreiben vom 15. Juni 1908, nachdem das große Werk nach Wunsch gelungen war, teilt eben dieser selbe Colonel Liachow dem General Staff mit, dass alles wunderschön gegangen sei, und er preist sich glücklich, dass Seine Kaiserliche Majestät der Zar ihm ganz persönlich telegrafisch zu seiner Schandtat gratuliert hat

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

mit den Worten:

Well done, Cossacks! Thanks to the brave officers!"

also : „Brav gemacht, Kosaken, Dank den tapferen Offizieren!" – So telegrafiert der Zar, so beglückwünscht der Zar, der Vertreter des russischen Reiches den Colonel Liachow in dem Augenblick, wo er eins der schnödesten Verbrechen begangen hat, für eben dieses Verbrechen!

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Das ist der Zar von Russland!

(Glocke des Präsidenten.)

Präsident von Kröcher: Herr Abgeordneter Liebknecht, Sie haben zwar schon die russische Polizei beleidigt. Aber dass Sie jetzt auch den Herrscher eines uns befreundeten Landes beleidigen, das geht zu weit. Herr Abgeordneter Liebknecht, ich rufe Sie zur Ordnung.

(„Bravo!")

Liebknecht: Meine Herren, es ist ja nicht nur in Russland, dass man jenes bekannte Wort gerufen hat: Benit soit la Bombe! Gesegnet sei die Bombe! Und es ist bekannt, meine Herren, dass sich die Regierungen seit jeher gern mit dem Lockspitzeltum verbunden haben, dass besonders in den Zeiten der Autokratie das Lockspitzeltum immer und immer wieder blüht. Das ist der Grund, weshalb das Lockspitzeltum, die Provokation, in Russland einen besonders breiten Boden hat, und das ist der Grund, dass das Lockspitzeltum auch bei uns in Preußen und in Deutschland jeweils, entsprechend dem Grade der inneren Reaktion, einen guten Boden findet, weit über das hinaus, was wir von anderen Staaten sagen können.

Es ist ja eine besondere Aufgabe der Lockspitzelei, dass sie als bequemes Werkzeug in den Händen politischer Koterien und Faktionen, Rivalen und Intriganten benutzt werden kann. Sie sind unkontrollierbar, diese Lockspitzel, und sie geben die beste Möglichkeit, die unheimlichen Machenschaften, an denen das autokratische Regiment so reich ist, an denen das blutrünstige Regiment von Russland so besonders reich ist, ausgiebig zu unterstützen und zu betätigen. So kann man sich nicht wundern, dass das Lockspitzeltum in Russland in dem Umfange blüht.

Selbstverständlich sind die Elemente, die zu einer solchen Polizeitätigkeit ausgenutzt werden können, nie und nimmer anständig. „Gentlemen arbeiten nicht für uns", hat bereits für Preußen Puttkamer gesagt. Und in Russland ist es klar ausgesprochen worden: Alle Polizeispitzel und Provokateure, alle politischen Kriminalbeamten sind Verbrecher. Meine Herren, wenn das in Russland in der Duma, und zwar nicht von Sozialdemokraten, sondern von Anhängern der Kadettenpartei8, ausgesprochen werden darf, so, meine ich, haben wir alle Veranlassung, uns diese Kritik, dieses Urteil über die russischen Polizeiorgane ad notam zu nehmen.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Um zu zeigen, in welcher Weise diese Lockspitzel arbeiten, dafür folgendes. Der Lockspitzel hat es nötig, seine Unentbehrlichkeit zu beweisen, und insbesondere müssen in Russland die beiden verschiedenen Sorten von Polizei, die offizielle politische Polizei, das Polizeidepartement, und die Ochrana, die nicht uniformierte „Sicherheitspolizei", sich gegenseitig überbieten, um ihre Notwendigkeit zu beweisen. Um die Notwendigkeit zu beweisen, muss man zeigen, dass man etwas zu verhindern versteht, dass Gefahren bestehen, die man verhindern muss, und so kommt man ganz logisch einzig aus dem Institut des Spitzeltums heraus zu dem Institut der Lockspitzelei. Wie unglücklich die Spitzel sind, wenn einmal nichts geschieht, dafür ist das Verhalten Schewiakows, des Chefs der Ochrana, charakteristisch, wie es Bakai nach der Schrift „Asew, Harting und Co." Seite 182 beschreibt. Als der Polizeikommissar Pjatijorsk nicht mehr wusste, wie er seine Unentbehrlichkeit nachweisen könnte, hat er ein Attentat gegen sich selbst inszeniert, bei dem Unschuldige getötet wurden, um auf diese Weise sein Avancement zu fördern, und zwar mit Erfolg.

Die verschiedenen Arten von Polizei und Bürokratie überhaupt, die gegeneinander arbeiten, sich zu überbieten suchen und infolgedessen eine große Gefahr darstellen, haben wir in einem gewissen Sinne auch bei uns. Wie wir in Russland auf der einen Seite den Grafen Witte – wenigstens im Jahre 1906 usw. – und auf der anderen Seite den Palastkommandanten und die verschiedenen Abteilungen der Polizei sehen, so bestehen ja auch bei uns verschiedene Arten von Geheimregierungen; auch wir haben unsere geheimen Militär- und Zivilkabinette, die der Verantwortung der Parlamente nicht unterliegen; und auch innerhalb der Polizei zeitigen sich bei uns Erscheinungen, die durchaus denen – wenn auch auf einer andern Stufenleiter – verwandt sind, die wir in Russland beobachten. Es unterliegt gar keinem Zweifel, dass das Intrigantentum gerade auch in unserer preußischen Polizei vermöge der unerträglich bürokratischen Wirtschaft und der Unselbständigkeit der Stellung jedes einzelnen Beamten außerordentlich blüht und solange blühen wird, bis eine gründliche Reorganisation der Polizei stattgefunden hat; darüber ist man sich auch bei uns in aufgeklärten Polizeikreisen vollkommen einig.

Meine Herren, ich will nicht weiter davon reden, dass Raschkowski, der schließlich die Leitung der auswärtigen Polizei Russlands in die Hände bekam und der Vorgesetzte der Asew und Harting war, schließlich völlig unabhängig vom Minister gestellt wurde, so dass er auch diesem nicht einmal irgendeine Rechenschaft zu geben hatte und seine Kreaturen, diese Asew, Harting und Konsorten, ihre verbrecherische Tätigkeit vollkommen unabhängig, frei und ungehindert auszuüben vermochten.

Meine Herren, es ist nicht möglich, in alle Einzelheiten einzudringen, die ich Ihnen gern unterbreiten möchte. Es ist bekannt, dass man auch in Preußen gegenüber derartigen Polizeimachinationen gelegentlich einmal die Flucht in die Öffentlichkeit hat ergreifen müssen. Auch in Russland war das der Fall. Auch Lopuchin hat in einem gewissen Sinne gegenüber all den Spitzelmachenschaften die Flucht in die Öffentlichkeit ergriffen. Und, meine Herren, in der Tat, es lässt sich nicht verkennen, dass diese Flucht in die Öffentlichkeit, die die Scham der Polizei oder die Schamlosigkeit der Polizei, möchte ich eher sagen, entblößt und ihre Geheimnisse entheimnisst, im höchsten Maße nützlich gewesen ist für die öffentliche Meinung Europas in der Beurteilung Russlands und der russischen Polizei.

Meine Herren, diese Spitzel sind in der Lage, eine verhängnisvolle Macht über ihre eigenen Herren auszuüben; sie stellen infolgedessen, sogar nachdem bereits sie selbst und das System öffentlich gebrandmarkt sind, an und für sich noch eine große Gefahr dar – für ihre Herren, aber auch für die Allgemeinheit. Sie besitzen eine erpresserische Macht als Mitwisser und Komplicen der Verbrechen und des lichtscheuen Treibens; und sie wissen eine große Fülle von Einzelheiten, die sie befähigen, Mächte und Kräfte in Bewegung zu setzen, mit deren Hilfe sie sich einen großen Einfluss sichern, auch nachdem sie bereits entlassen sind. Die ganze Methode des lichtscheuen Treibens dieses Gesindels führt unausbleiblich dazu, dass der einzelne Spitzel in weitem Umfange Autokrat wird, dass er der Kontrolle entzogen wird; und auch infolgedessen erwirbt er über diejenigen, die formell seine Herren sind, eine gewaltige Macht.

(Abgeordneter Hoffmann „Hört! Hört!")

Meine Herren, die Gefahr der Lockspitzelei ist durch die Daten, die ich Ihnen aus den Tagen der Asew und Harting vorgetragen habe, genügend gekennzeichnet worden. Sie wissen, dass eine ganze Anzahl von Attentaten von diesen Leuten ausgeführt worden ist, einfach zu Zwecken von Intrigen; Sie wissen auf der andern Seite, dass die Praxis besteht – insbesondere bei Raschkowski –, dass man die Attentate und sonstigen Verbrechen nicht im Keime erstickt, sondern im Gegenteil dafür sorgt, dass sie möglichst weit gedeihen, um sie nur eben gerade im letzten Moment, wenn die Not am größten ist, zu verhindern.

Meine Herren, dass dann aber oft genug die rechtzeitige Verhinderung unmöglich wird, dafür bietet eine ganze Anzahl von Attentaten den deutlichsten Beleg.

Infolgedessen kann man sagen, dass die Provokateure, von denen eine Regierung glaubt, dass sie sie nur gegen verbrecherische Elemente, nur gegen politische Gegner anwende, sehr leicht auch für sie selbst eine große Gefahr werden können, wie ja denn auch jene gefährlichen Provokateure eine schwere Gefahr für die russische Regierung geworden sind.

(Abgeordneter Hoffmann: „Sehr richtig!")

Meine Herren, die politischen Wirkungen jener Enthüllungen sind, wie ich vorhin bereits zu bemerken mir gestattete, allerdings recht erfreulich gewesen. Einmal hat sich die öffentliche Meinung in der Presse in sehr lebhafter Weise der Vorgänge angenommen. Dann haben sich einige Parlamente auch mit diesen Vorgängen beschäftigt. Insbesondere hat das französische Parlament eine sehr interessante Debatte darüber gehabt, die mit einer Beschlussfassung endigte, die von der Regierung gebilligt wurde, von Clemenceau, und in der gefordert wurde, dass die russische Polizei ein für allemal aus Frankreich hinauszuweisen sei. Dieses Votum wurde von der französischen Kammer einstimmig gefasst. Ebenso fand in Belgien eine Erörterung in der Kammer statt, desgleichen in England, besonders unter der Führung von William Thorne. Meine Herren, in diesen Staaten sind also die Angelegenheiten Harting und Asew zur Sprache gebracht worden. Des weiteren ist auch von der Liga der Menschenrechte in Frankreich eine sehr scharfe Erklärung abgegeben worden, die ein weites Echo erweckt hat.

Man hat damals, als diese parlamentarischen Verhandlungen in der Presse publiziert wurden, geglaubt und die Hoffnung ausgesprochen, dass auch in Deutschland alsbald etwas geschehen werde. Man hat sich in dieser Richtung getäuscht. Meine Herren, in Deutschland ist nicht das Allergeringste geschehen, und zwar, obwohl Russland weit davon entfernt war, irgend etwas Ernstliches seinerseits gegen die Lockspitzelei zu unternehmen. Als diese Vorgänge in der Sitzung der Duma vom 20. Januar/2. Februar 1909 zur Sprache gebracht wurden, hat Stolypin einfach alles abgeleugnet und insbesondere die Mitschuld der Regierung bestritten. Schließlich hat die russische Regierung ihrem Treiben die Krone aufgesetzt, indem sie Lopuchin verhaften ließ, jenen Mann, dem sie, wenn sie wirklich nicht schuldig gewesen wäre, auf den Knien hätte danken müssen für die außerordentlich nützlichen und dienlichen Enthüllungen, die er zum großen Teil mit veranlasst hat.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Dass dieser Lopuchin nicht befördert worden ist, nicht mit einem Orden versehen worden ist, sondern dass er verhaftet und mit fünf Jahren Zwangsarbeit bestraft worden ist, ist ein schlagender Beweis dafür, dass die russische Regierung nicht nur wahrheitswidrig leugnet, schuldig zu sein, sondern dass sie auf jede Weise bei ihrem bisherigen Verhalten und ihrer bisherigen Methode zu bleiben gedenkt und entschlossen ist.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Es ist darnach ganz ersichtlich, dass man sich dessen, wessen man sich bisher von Russland hat versehen können, nach dem, was ich Ihnen vorgetragen habe, auch künftig von Russland wird versehen müssen.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Jede Regierung, die die Regierung eines Kulturstaates wäre, die nicht mitschuldig wäre und künftig ähnliche Verbrechen nicht begehen wollte, würde aufgeatmet haben, dass sie endlich befreit würde aus den Klauen einer Verbrecherbande und dass es endlich möglich würde, anständige auswärtige Politik zu treiben. Aber derjenige, dem die russische Regierung das zu danken hätte, wird mit Gefängnis, Zwangsarbeit bestraft, in die Katorga gesteckt. Wir sehen ja auch bei der finnischen Politik Russlands, nach welchen Moralgrundsätzen künftig Russland seine Politik zu verfolgen gedenkt; wir sehen, wie die Regierung ganz offensichtlich gegen Gesetz und Recht ein kleines Land zu Boden wirft und seine Freiheit zu erdrosseln sucht; wir sehen, wie die russische Regierung die Proteste der westeuropäischen Parlamentarier, auch der deutschen Parlamentarier, mit Hohn und Spott überschüttet. Es ist, meine ich, doch wahrhaftig eine Sache der deutschen Ehre, auch eine Sache der Ehre der deutschen Parlamente, dass man, wenn man in dieser Weise von Russland behandelt wird, die gebührenden Konsequenzen aus einem solchen Verhalten zieht. Mit einem solchen Lande dürfte man überhaupt nicht mehr in diplomatischen Verbindungen stehen; die diplomatischen Verbindungen müssten abgebrochen werden, bis man die Garantie dafür hat, dass man es mit wirklich ehrlichen Menschen zu tun hat, bis man die Garantie hat, dass jene größten Verbrecher, die die Weltgeschichte vielleicht kennt, jene Raschkowski, Asew, Harting und Genossen, der verdienten Strafe zugeführt sind. Solange sich Russland mit derartigen Verbrechern solidarisch erklärt, sollte kein zivilisierter Staat mit ihm in irgendwelchen geordneten Verbindungen stehen:

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

9eher kann man sicherlich mit irgendeinem Räubervolk in Afrika in diplomatischen Beziehungen stehen als mit dem heutigen Russland. Mit diesem Russland der Gefängnisse, der Kriegsgerichte, diesem Russland des Galgens, der Pogrome, das jetzt wieder die Juden in der unerhörtesten Weise behandelt, ausweist und trakassiert und einen großen Teil der eigenen Bevölkerung in dieser Weise, jeder Zivilisation ins Gesicht schlagend, behandelt. Mit diesem Russland kann man nicht eins sein, kann man nicht gemeinsame Sache machen, wo die Schwarzhunderter10, jene Verbrechergesellschaft, die den Mord eines Jollos und Hertzenstein auf dem Gewissen haben, das Heft in den Händen halten und die erste Geige spielen, jene Schwarzhunderter, deren Vereinszeichen der russische Zar bis vor kurzem noch auf seiner Brust getragen hat. Meine Herren, dafür, dass Harting aus seiner Tätigkeit noch nicht entfernt ist, dafür haben wir die deutlichsten Belege. Es ist vor nicht langer Zeit glaubhaft und unwiderlegt berichtet worden, dass er in Brüssel von neuem die auswärtige Polizei reorganisiert habe, dass er speziell in Berlin ein Unterdepartement der Polizei zu organisieren im Begriff stehe, das auch die Zuständigkeit für Österreich und für die skandinavischen Länder besitzen soll. Es ist damit in deutlichster Weise festgestellt, dass man weit davon entfernt ist, Harting zu depossedieren, wenn auch die russische Regierung den Anschein zu erwecken sucht, als ob sie Harting bereits den Laufpass gegeben habe. Meine Herren, Harting ist so oft bereits verschwunden und so oft unter anderen Namen wieder aufgetaucht und tätig gewesen, ebenso Asew, dass man aus solchen Ausstreuungen der russischen Regierung keinerlei Folgerungen ziehen kann.

Man ist bei uns weit entfernt, demgegenüber so, wie ich geschildert und gefordert habe, zu verfahren. Man leugnet zwar ab, dass diese Harting und Genossen seit dem Jahre 1905 noch in Preußen tätig gewesen seien. Aber, meine Herren, andererseits erleben wir es immer und immer wieder, dass allerhand russische Spitzel in Deutschland gehegt und gepflegt und von der preußischen Polizei liebend in ihre Arme geschlossen werden. Mein Freund Hirsch hat Veranlassung genommen, vor kurzem den Fall dieser Chaina Fischbein hier vorzutragen, die als russische Polizeiagentin speziell auf Veranlassung und Betreiben der preußischen Polizei, damit sie es hier bequemer hat, nun in Preußen naturalisiert werden soll. Wir haben in der letzten Zeit bereits von dem bekannten Deckert, der vor kurzem in Krakau zu drei Jahren schweren Kerkers verurteilt worden ist, und von einem anderen, namens Jacob, aus Russland gehört, dass sie beide gleichzeitig Spitzel für Russland und für Deutschland waren und wohl noch sind.

(„Hört! Hört!")

Meine Herren, das ist, möchte ich sagen, eine Art dreieckiges Verhältnis, ein menage à trois, zwischen der russischen und der preußischen Polizei; es lässt auf eine sehr große Intimität zwischen Russland und Deutschland schließen, dass man sich schon gemeinschaftlicher Spitzel bedient.

Meine Herren, andererseits haben wir bis zum heutigen Tage denselben Generalkonsul Wymotzew noch in Königsberg als russischen Generalkonsul wirken, der im Königsberger Hochverratsprozesse jene falschen Übersetzungen des russischen Strafgesetzbuches geliefert hat, der diese falschen Übersetzungen geliefert hat, die als Fälschungen öffentlich gekennzeichnet worden sind und die bekanntlich der preußischen Justiz eine Blamage eingebracht haben, wie sie ihr größer noch nicht zugefügt worden ist.

(„Sehr richtig!")

Meine Herren, dieser Herr – das darf Russland Preußen zumuten – sitzt noch heute in Königsberg als Generalkonsul von Russland So drückt man seine Augen zu und breitet den Mantel christlicher Liebe aus über unanständige Handlungen gröblichster Art, über politische Spionage und politische Fälschungen, über nichtswürdige politische Provokateure.

Andererseits müssen wir darauf hinweisen, dass preußische Polizeibeamte hohe russische Dekorationen in großer Zahl bekommen haben, dass insbesondere auch der bekannte Polizeikommissar Mädler wegen seiner Verdienste um Russland einen hohen russischen Orden, den Stanislaus-Orden zweiter Klasse, der nur von Offizieren getragen werden darf, bekommen hat, zu dessen Anlegung ihm aber, seiner Hoffnung entgegen, die Erlaubnis von seiner vorgesetzten Behörde versagt worden ist.

Meine Herren, es ist eine schöne Sorte internationaler Courtoisie, die hier in Preußen geübt wird. Man duldet diese Leute, von denen ich eben gesprochen habe, man duldet diese Sinaida Jutschenko noch immer in Preußen, man duldet in der Mommsenstraße in Charlottenburg noch immer ein Polizeispitzelquartier. Meine Herren, man hat noch nicht einen einzigen russischen Spitzel jemals aus Preußen ausgewiesen; aber hat man je gehört, dass man auch nur im Entferntesten eine ähnliche Gastfreundschaft gegenüber den russischen Studenten, gegenüber den anständigen Russen habe obwalten lassen? Gegenüber den verworfensten russischen Agenten kennt die Weitherzigkeit unserer preußischen Polizei keine Grenze. Angesichts der Fälle Grienblatt und Schöne-Brockhusen, von denen wir wiederholt gesprochen haben, angesichts der Fälschungen, die am Berliner Polizeipräsidium verübt worden sind, kann es allerdings nicht wundernehmen, dass die preußische Polizei hier ein mitfühlendes Verständnis für ein solches verbrecherisches Treiben der russischen Polizei hat und deshalb nicht in der Lage ist, energischer einzugreifen.

Es ist richtig, dass auch in anderen Ländern die russischen Polizeiagenten lange Zeit ungeniert gehaust haben und hausen konnten, ähnlich wie hier in Preußen; aber das war ein Ausfluss der allgemeinen politischen Freiheit, der Ansiedlungsfreiheit, die allen gegenüber, auch den sogenannten revolutionären Kreisen gegenüber, ausgeübt wurde. Ganz anders ist es bei uns mit unserer einseitigen Gastfreundschaft. Bei uns gilt die Gastfreundschaft nur diesen Elementen gegenüber in so ausgiebiger Weise, wie ich es mir eben zu charakterisieren gestattet habe. Selbstverständlich geschieht es aus politischen Gründen, dass in dieser Weise verfahren wird, wie schon Bismarck in seinem Erlass von 1882 erklärt hat: Aus politischen Gründen sei es wichtig, den Wünschen der russischen Regierung zu entsprechen. Es gilt noch immer als Ihre Auffassung: tua res agitur, wie Bismarck im Jahre 1863 ausrief und wie es verschiedentlich, so von dem Justizminister Schönstedt und in dem Königsberger Prozess, wiederholt wurde.

Es ist richtig: tua res agitur. Man darf sagen: Gleiche Brüder, gleiche Kappen, und man darf der preußischen Polizei in gewisser Beziehung auch sagen: Sage mir, mit wem du umgehst, und ich will dir sagen, wer du bist. Die russischen Studenten hatten einst gemeint, an eine Solidarität der Zivilisation appellieren zu können gegenüber den Angriffen, die von den höchsten Reichsbeamten ihnen gegenüber stattgefunden haben. Das war natürlich eine Illusion, wie sie ja alsbald am eigenen Leibe erfahren mussten. Es kann, wenigstens für Preußen und die offizielle preußische Regierung, immer nur eine Solidarität der Reaktion und der Unkultur speziell Russland gegenüber geben. Ja, meine Herren, wir müssen uns damit abfinden, hier in diesem Hause die bekannten Worte zu hören, die der Herr Abgeordnete Freiherr von Zedlitz in jeder seiner Reden ausspricht, dass die europäische Reaktion in allen Ländern solidarisch ist – er sagt es nicht mit ganz denselben Worten. Es ist kein Zweifel, dass Sie von diesem von Bismarck formulierten Gedanken immer und immer wieder ausgehen.

Wie intim Sie sich mit Russland fühlen, ergibt sich aufs Deutlichste daraus, wie sich die russische Kultur der Ihrigen oder vielmehr jener verwandt fühlt, die Sie für Deutschland erstreben; denn Deutschland ist Ihnen eigentlich in der Kultur schon zu hoch geschritten, und Sie möchten es am liebsten zurückschrauben. Für diese eben erwähnte Tatsache gibt ein köstliches Beispiel die besondere Intimität, die der Verband echt-russischer Leute, die russischen Schwarzhunderter, gegenüber unsern preußischen Reaktionären, unsern deutschen Reaktionären bewiesen hat. Ich erinnere an das bekannte Glückwunschtelegramm des echtrussischen Verbandes nach den Hottentottenwahlen von 1906/0711, ich erinnere an die Sympathie, die diese Schwarzhunderter dem Reichsverband gegen die Sozialdemokratie ausgesprochen haben, und ich erinnere Sie schließlich an die besonders begeisterte Liebeserklärung, die einer der berühmtesten Führer der Schwarzhunderter, Purischkewitsch, einem Mitglied dieses Hauses, dem Abgeordneten von Oldenburg, wiederholt hat zuteil werden lassen. Er nannte den Herrn Abgeordneten von Oldenburg seinen „Freund Oldenburg" und hat begeistert geschildert, wie er einst in den Deutschen Reichstag kam und Oldenburg traf und wie er da gemeint habe, er sei ganz wie zu Hause, ganz wie in Russland; und darin hat er allerdings recht gehabt. Meine Herren, auch in Russland gibt es den bekannten Hausknechtsparagraphen12 im Parlament, und ich darf mir wohl bei dieser Gelegenheit erlauben, darauf aufmerksam zu machen, dass der Architekt dieses Hauses den hinauswerfenden Polizeileutnant vorahnend gestaltet und in dieses Haus gesetzt hat. Ich bin überzeugt: Die Gestalt des römischen Liktors da oben ist der künftige Polizeileutnant, der in Funktion treten soll, wenn jemand hinausgeworfen werden soll.

(Lachen rechts. – Abgeordneter Heckenroth: „Zeigt nach links!")

Da oben sitzt er; wir wissen, dass er für uns bestimmt ist, und wir freuen uns wie die Schneekönige darauf, dass es losgeht.

Meine Herren, hier kann man nicht sagen: eine Hand wäscht die andere, sondern: eine Hand beschmutzt die andere. Wir haben uns seit dem Königsberger Prozess im Jahre 1904 in keiner Weise fortentwickelt; im Gegenteil. Und jene neuerlichen Erklärungen, von denen ich vorher zu sprechen mir gestattet habe, jene neuerlichen Erklärungen, die die Regierung zur Beruhigung abgegeben hat, werden von uns mit allem erdenklichen Zweifel und Misstrauen aufgenommen. Wir halten es für unrichtig und glauben es unter keinen Umständen, dass wirklich die russischen Spitzel seit dem Jahre 1905 in Preußen nichts mehr zu tun haben. Einmal wissen wir offiziell, dass die Jutschenko noch da ist, dass die Chaina Fischbein noch da ist, dass Asew noch 1908 in Berlin gewesen ist. Und, meine Herren, wir wissen, dass sich gegenwärtig noch eine ganze Anzahl von russischen Spitzeln in Berlin aufhält. Es kann also gar keine Rede davon sein, dass mit den allgemeinen Wendungen, die die preußische Polizeiverwaltung in die Presse gegeben hat, dem wesentlichen Zweck des Antrages, den wir gestellt haben, bereits entsprochen sei.

Meine Herren, ich habe noch etwas weiteres.

(Unruhe und Zurufe rechts.)

Es dauert einen Moment. – Meine Herren, wie wir auf der einen Seite das Vorbild Frankreichs, Englands und Belgiens vor uns haben, die sich in den Parlamenten bereits in dankenswerter Weise mit diesen Vorgängen beschäftigt haben, während Preußen und Deutschland in dieser Beziehung nicht vorgegangen, sondern zurückgeblieben sind, haben wir andererseits in Deutschland selbst ein Beispiel, das uns alle Veranlassung gibt, uns ihm anzuschließen. Es handelt sich um den preußisch-russischen Auslieferungsvertrag13, der eine Schande Preußens ist, wenn ich dieses Wort aussprechen darf. Man hat nämlich im bayrischen Landtage von dem gleichlautenden bayrisch-russischen Auslieferungsvertrage gesagt, er sei eine „Schande Bayerns". Meine Herren, die bayrische Kammer hat am 14. Oktober 1909 in einem fast einmütigen Votum der Regierung den dringenden Wunsch ausgesprochen, diesen Auslieferungsvertrag mit Russland zu kündigen und aufzulösen. Ich glaube, wir haben alle Veranlassung, ein gleiches Verlangen an die preußische Regierung zu stellen. Meine Herren, es ist sogar die „Rheinisch-Westfälische Zeitung" gewesen, die im Anschluss an die Kammerverhandlung in München den preußisch-russischen Auslieferungsvertrag als durchaus veraltet, unhaltbar und der Ehre Preußens nicht entsprechend bezeichnet hat. In der Tat widerspricht dieser Auslieferungsvertrag durchaus den Forderungen des heutigen Völkerrechts, weil er auch für politische Vergehen die Auslieferung vorsieht.

Im Übrigen, meine Herren, darf man wohl sagen, dass es ja besonders um deswillen notwendig ist, mit Russland derartige, ich möchte sagen, jurisdiktionelle Beziehungen abzubrechen, weil Russland eben ein Land ist, in welchem es weder Gesetz noch Recht gibt. Russland hat formell eine Verfassung, es hat aber in Wahrheit keine Verfassung; es walten dort noch immer nicht die ordentlichen Gerichte, sondern immer noch die Standgerichte, und Willkür und Korruption sind noch allenthalben an der Tagesordnung; die Konterrevolution feiert ihre wildesten Orgien. Meine Herren, es unterliegt keinem Zweifel, dass die Zustände in Russland es durchaus erfordern, dass man derartige Beziehungen so schnell wie irgend möglich abbricht.

Der Zweck unseres Antrages ist der, von der Regierung eine Erklärung darüber zu fordern, eine Erklärung, die man schon lange Zeit von ihr erwartet hätte, wie sie sich zu den Vorgängen, den Enthüllungen in Bezug auf die russische Auslandspolizei, stellt und welche Maßnahmen sie zu ergreifen gedenkt, um der Wiederholung ähnlicher Vorgänge vorzubeugen, wie sie sich in Deutschland und in Preußen leider lange genug abgespielt haben.

Ich kann hier am Schlusse noch einmal wiederholen: Bisher ist eine offizielle Erklärung von der deutschen und der preußischen Regierung über diese Punkte noch nicht abgegeben worden. Seit jener Erklärung des Herrn Staatssekretärs Freiherr von Richthofen – und diese Erklärung lautete und gipfelte damals in der Wendung, dass keine Veranlassung vorläge, eine Abänderung eintreten zu lassen –, gegenüber dieser hochoffiziell abgegebenen Erklärung der Reichsregierung haben wir gar keine Veranlassung, uns zu begnügen mit irgendwelchen offiziösen Zeitungsmeldungen und dadurch die Vorgänge für erledigt zu halten, besonders nachdem wir eine große Menge von Material inzwischen wiederum aufgesammelt haben, das uns von dem Fortwirken dieser unlauteren Elemente, dieses Spitzelgesindels, in Deutschland und Preußen auf das deutlichste Kunde gibt. Der Dresdener Geheimbundprozess vom Juni 1909 ist, wie ich fest überzeugt bin, ein Produkt dieser russischen Spitzel gewesen – ein deutlicher Beweis dafür, dass sie noch immer in reger Geschäftigkeit ihres „Amtes" walten. Meine Herren, wir fordern Klarheit darüber, wir fordern auch Klarheit über die Stellung der Regierung zu dem russisch-preußischen Auslieferungsvertrage; wir fordern eine Trennung von Tisch und Bett,

(Heiterkeit rechts.)

eine Trennung von Tisch und Bett zwischen der preußischen Regierung und der russischen Polizeiwirtschaft. Der anständige Teil des preußischen Volkes jedenfalls wird – mögen Sie beschließen, was Sie wollen – seine Hände in Unschuld waschen und nie und nimmer eins sein wollen mit all dem russischen Schmutz, mit dem Preußen seine Finger besudelt hat und etwa seine Ehre weiter besudeln wird.

(Glocke des Präsidenten.)

Präsident von Kröcher: Das geht zu weit. Herr Abgeordneter Liebknecht, ich rufe Sie zum zweiten Mal unter Hinweis auf die Bestimmungen der Geschäftsordnung zur Ordnung.

(„Bravo!" rechts.)

Liebknecht: Meine Herren, ich bin überzeugt, dass das Gefühl, das ich eben am Schluss ausgedrückt habe, falls Sie so beschließen würden, wie ich nicht wünsche, wie ich aber fürchte, geteilt werden wird von der übergroßen Menge des Volkes draußen im Lande.14

(Lachen rechts.)

1 Im Falle Mirski handelt es sich um den bolschewistischen Revolutionär Ter-Petrosjan (Terpetrosow), Parteinamen Kamo und Mirski, der in der Geschichte der russischen Arbeiterbewegung durch sein kühnes, kampf- und opferreiches Leben zu einer fast legendären Gestalt wurde. Mirski arbeitete während der ersten russischen Revolution 1905–1907 an der Aufstellung, Bewaffnung und Ausbildung von Arbeiterkampfgruppen und war seit Ende 1906 im Auslande, unter anderem auch in Deutschland, mit dem Ankauf von Waffen und ihrem illegalen Transport nach Russland beschäftigt.

Im Zusammenhang mit der Aushebung einer Versammlung russischer Sozialdemokraten und der Beschlagnahme des Literatur- und Waffenlagers der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) in Berlin im November 1907 geriet auch Kamo in die Hände der Berliner Polizei. Da man bei ihm einen Koffer mit Sprengstoff fand, wurde er angeklagt, gegen das Dynamitgesetz verstoßen zu haben. Er wurde etwa zwei Jahre lang in Deutschland inhaftiert und schließlich Ende 1909 an Russland ausgeliefert, obwohl er es verstanden hatte – um der Ausweisung nach Russland und einer unausbleiblichen schweren Bestrafung zu entgehen –, eine Geisteskrankheit so vorzutäuschen, dass sie ihm von den Ärzten bescheinigt wurde. 1911 gelang ihm schließlich die Flucht aus einer zaristischen Haftanstalt. (Siehe dazu Nadeschda Krupskaja: Erinnerungen an Lenin)

2 Müsste das „Waffenfunden“ heißen?

3 Gemeint ist die Aushebung des Literaturlagers der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) in Berlin, Pankstraße 52 b, durch die preußische Polizei. Das Lager war hier durch Vermittlung Karl Liebknechts untergebracht worden, nachdem es im Gebäude des „Vorwärts" im Zusammenhang mit dem Königsberger Prozess 1904 geräumt werden musste. Hier befanden sich auch Waffen, die von russischen Sozialdemokraten zur Unterstützung der russischen Revolution gekauft waren und nach Russland transportiert werden sollten.

4 Grigorij Gerschuni, Arzt, Mitglied einer terroristischen Organisation der russischen Partei der Sozialrevolutionäre, wurde 1904 vom Petersburger Kriegsgericht mit mehreren anderen Personen zum Tode verurteilt, danach zu Zwangsarbeit begnadigt.

5 „Narodnaja Wolja" (Volkswille) – eine aus der im Jahre 1876 entstandenen kleinbürgerlich-revolutionären, volkstümlerischen Organisation Semlja i Wolja (Land und Freiheit) hervorgegangene Verbindung. Die Volkstümler sahen nicht in der Arbeiterklasse, sondern in der Bauernschaft die revolutionäre Kraft. Um die Bauernschaft zum Kampf gegen den Zaren zu organisieren, gingen sie auf das Land, „ins Volk". Als ihre Bemühungen erfolglos blieben, organisierte sich eine Anzahl von ihnen in der Gruppe „Narodnaja Wolja'", die den individuellen Terror anwandte, der sich gegen die bekanntesten Vertreter der Selbstherrschaft richtete.

6 Plehwe, W. K. (1846-1904) Von 1902 bis 1904 Innenminister und Chef der Gendarmerie in Russland. Führte einen schonungslosen Kampf gegen die revolutionäre Bewegung. Wurde am 15. Juli 1904 von dem Sozialrevolutionär E. Sasonow ermordet.

7 Im September 1883 wurde das Niederwalddenkmal, errichtet zur Erinnerung an die Reichsgründung 1871, unter Beteiligung des Deutschen Kaisers und anderer Fürsten und Staatsmänner eingeweiht. In der zweiten Lesung der Vorlage zur Verlängerung des Sozialistengesetzes, im Mai 1884, wurde im Reichstag das erste Mal davon gesprochen, dass während der Einweihung dieses Denkmals ein Attentat geplant gewesen sei. Diese Mitteilung sollte dazu beitragen, für die Verlängerung des Sozialistengesetzes die Mehrheit zu erreichen.

8 So genannt nach den Anfangsbuchstaben der Konstitutionell-Demokratischen Partei der liberal-monarchistischen Bourgeoisie Russlands, im Oktober 1905 gegründet. Die Kadetten täuschten einen verlogenen Demokratismus vor, nannten sich „Partei der Volksfreiheit" und versuchten, die Bauernschaft auf ihre Seite zu ziehen. Sie wollten jedoch den Zarismus als konstitutionelle Monarchie erhalten. Später bildeten die Kadetten die führende Partei der imperialistischen Bourgeoisie. Nach dem Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution organisierten sie konterrevolutionäre Verschwörungen und Aufstände gegen die Sowjetrepublik.

9Der Schluss des Satzes fehlt in den „Reden und Schriften“

10 Bewaffnete Banden, gegründet 1905–1907 durch die zaristische Polizei und monarchistische Organisationen. Sie ermordeten revolutionäre Arbeiter und Angehörige der Intelligenz, organisierten Judenpogrome und terrorisierten die nationalen Minderheiten.

11 1906 löste Reichskanzler von Bülow den Reichstag auf, weil außer den Sozialdemokraten nun auch das Zentrum zusätzliche Mittel zur Niederschlagung der um ihre Freiheit kämpfenden Eingeborenen Deutsch-Südwestafrikas, vor allem der „Hottentotten“ (Nama), verweigert hatte. Die Neuwahlen am 25. Januar 1907, die sogenannten Hottentottenwahlen, gewann unter beispiellosem Terror gegen die Sozialdemokratie und durch chauvinistische Verhetzung ein „regierungsfreundlicher" Block aller liberalen und konservativen Parteien, der Hottentottenblock. Zur Feier des Wahlsieges veranstalteten einige tausend Anhänger des Blocks in der Nacht vom 25. zum 26. Januar in Berlin eine Demonstration und brachten dem Reichskanzler von Bülow eine Ovation dar.

12 Gemeint ist der Paragraph 64 der Geschäftsordnung des preußischen Abgeordnetenhauses, der auf Antrag der Konservativen vom 21. Februar 1910 am 6. Mai mit 218 gegen 74 Stimmen abgeändert und verschärft wurde. Damit erhielt der Präsident das Recht, unliebsame Abgeordnete bis zu 12 Sitzungen auszuschließen oder sie gewaltsam aus dem Saal entfernen zu lassen.

13 Der im März 1885 abgeschlossene preußisch-russische Auslieferungsvertrag legte fest, in welchen Fällen Ausweisungen erfolgen sollten. Besondere Bedeutung hatte Artikel 3, der jedes politische Asyl verweigerte: „Der Umstand, dass das Verbrechen oder Vergehen, wegen dessen die Auslieferung beantragt wird, in einer politischen Absicht begangen ist, soll in keinem Falle als Grund dienen, um die Auslieferung abzulehnen."

14 Der Antrag wurde ohne Diskussion abgelehnt. Die Red.

Kommentare