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Karl Liebknecht 19110912 Gegen die Marokkopolitik der deutschen Imperialisten

Karl Liebknecht: Gegen die Marokkopolitik der deutschen Imperialisten

Rede in der Debatte über den Geschäftsbericht des Parteivorstandes

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten in Jena vom 10. bis 16. September 1911 sowie Bericht über die 6. Frauenkonferenz am 8. und 9. September 1911 in Jena, Berlin 1911, S. 243-245. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 4, S. 456-459]

Ich hoffe, dass diese freundliche Ermahnung auf meine Redezeit nicht angerechnet wird. (Heiterkeit.) Ich will mich nur mit dem Punkt Marokko befassen und einige Ergänzungen und Richtigstellungen geben. Als der „Panther" nach Agadir ging, erschienen sofort in der „Rheinisch-Westfälischen Zeitung" und der „Konservativen Korrespondenz" jene wüsten Kriegshetzartikel, die überall berechtigtes Aufsehen erregten. Wenige Tage danach kamen bereits aus England und Frankreich offizielle Mitteilungen, wonach England unter keinen Umständen dulden würde, dass Deutschland einen Flottenstützpunkt an der nordwestlichen Küste Afrikas erwerben würde. Damit war die Situation schon Anfang Juli ganz klar, die Stellung Englands scharf markiert. Man brauchte nicht erst auf die Rede Lloyd Georges zu warten.

In Preußen traf der „Panther"-Bluff gerade in die neue Wahlrechtsbewegung, die durch den jämmerlichen Zusammenbruch des preußischen Abgeordnetenhauses angefeuert war. So trat der innerpolitische bonapartistische Verwirrungszweck der Affäre hier besonders aufdringlich zutage – das mag das Verständnis für Molkenbuhrs Haltung1 etwas erleichtern. Die Berliner Parteigenossen allerdings waren auf dem Plane. Sofort wurde nicht nur – wie Genosse Fischer hervorhob – im „Vorwärts" ein Aufruf erlassen, es, wurden auch die Wahlrechtsversammlungen zu gleichzeitigen Friedensdemonstrationen ausgestaltet. Das muss zur Ehre der Berliner Parteigenossen gesagt werden; und von den Genossen im Übrigen Deutschland gilt das gleiche: Auch sie haben nicht auf den Aufruf des Parteivorstandes gewartet und auf die sogenannte Indiskretion der Genossin Luxemburg2. Sie haben sich vielfach gerührt und gezeigt, dass sie den Ernst der Situation besser begriffen hatten als der Parteivorstand.

Gerade der 9. August, an dem der Parteivorstand endlich seinen Aufruf erließ, war einer der unglücklichsten Momente in dieser ganzen Zeit für eine solche Veröffentlichung. Anfang August war der Kaiser in Swinemünde. Am 5. August erschien jenes Kommuniqué3, das eine beruhigende Wirkung ausüben sollte und in gewissem Umfang ausübte. Just da kam der Parteivorstand mit seinem Aufruf. Das war eine Krähwinkelei, wie sie schlimmer bisher in der deutschen Partei noch nicht passiert ist. Man hat fast aufgeatmet, als nach kurzer Zeit die Sache sich wieder so heftig zuspitzte, dass diese zeitliche Inopportunität verwischt wurde.

Über die „Indiskretion" will ich mich nicht verbreiten. Ich kann mir aber vorstellen, dass sich jemand sagt: „Ich kann nicht schweigen; die Situation ist zu ernst; es steht zu viel auf dem Spiel – wenn ich auch bedauere, dass die Sache in solcher Weise zur Sprache gebracht werden muss."

Es ist ein verkehrter Vorwurf, dass jede Kritik mitten in der Aktion vermieden werden müsse. Mitunter kann es notwendig werden, mitten im heftigsten Kampfe zu kritisieren. Die Art der hier geübten Kritik hat auch nicht hemmend, sondern voran peitschend gewirkt. Sie hat gezeigt, dass die Masse der Parteigenossen mit viel größerem Eifer und größerem Interesse auf die Marokkoaffäre blickt als gewisse leitende Stellen in der Partei. („Sehr richtig!")

Bebel hat darauf hingewiesen, dass die Partei durch Gewährung von Geldmitteln an die Bruderparteien, durch die Unterstützung der russischen Revolution ihre internationale Gesinnung und Bereitschaft deutlich genug bekundet habe. Hier aber hat es sich um ernstere Dinge gehandelt als um die Bewilligung von Geldmitteln. Das internationale Proletariat war vor Aufgaben von so ungeheurer revolutionärer Bedeutung gestellt, wie sie ihm noch nie gegenübergetreten waren.

Man möchte dem Genossen Müller vom Parteivorstand zurufen: Mensch, bekenne Deine Sünden!4 (Heiterkeit.) Wir wissen ja doch, wie mildernd ein Geständnis wirkt. Hätte der Parteivorstand zugegeben, dass Erhebliches versäumt worden ist, dann wäre die Kritik hier viel sanfter gewesen. Statt dessen konstruiert der Parteivorstand einen Fall Luxemburg und schlägt die Taktik ein zu rufen: Haltet den Dieb.

Niemand hat gefordert, dass der Parteivorstand einen Massenstreik oder eine sonstige entscheidende Aktion sofort habe inszenieren sollen. Darum handelt es sich ganz und gar nicht. Das ist eine kleine Verschiebung. Er sollte nur mit dem Internationalen Büro zusammenkommen. Das bedeutet noch längst nicht die Inszenierung eines Massenstreiks und noch längst nicht die Anwendung der äußersten und stärksten Machtmittel. Je weniger man aber über den Massenstreik und diese äußersten Mittel einig war, um so notwendiger war es gerade zusammenzukommen. Ganz zu Unrecht hat Fischer behauptet, der Internationale Kongress von Kopenhagen habe sich gegen den Massenstreik ausgesprochen. Er hat die Frage offengelassen und nur abgelehnt, sich auf dieses Mittel festzulegen. Für den Parteivorstand galt also das Wort: „Du sollst in deines Liebchens Kammer, nicht etwa in den Tod."

Es ist richtig, dass die „radikalen Jeremiasse" nicht verhindert waren, die von ihnen für nötig gehaltene Protestbewegung auf eigene Faust durchzuführen. Und sie haben das auch nach Kräften getan. Aber der Parteivorstand soll vor den Wagen und nicht hinter den Wagen gespannt sein. („Sehr richtig!")

Die hier geübte Kritik erscheint mir höchst erfreulich, mag sie auch zeitweise heftige Formen angenommen haben. Sie beweist, dass unsere Genossen in dieser bedeutsamen Frage keinen Spaß verstehen. Das ist von großer Wichtigkeit. Das besonders wertvolle an dieser Debatte aber ist, dass wir trotz alledem die einheitliche Geschlossenheit des deutschen Proletariats in allen wesentlichen Punkten aus unseren Verhandlungen haben hervor leuchten sehen. Wir dürfen das Wichtigste nicht vergessen: dass trotz der Fehler, die begangen worden sind, die deutsche Partei und die Gewerkschaften noch niemals so geschlossen und so einig waren wie gerade jetzt und vor allem in der Marokkofrage. (Beifall.) Das sollen sich unsere Gegner gesagt sein lassen! Und wenn sie sich etwa einbilden, aus unseren heftigen Debatten auf Meinungsverschiedenheiten über die Stellung der Sozialdemokratie zur Marokkofrage schließen zu können, so irren sie sich gründlich. Solche Meinungsverschiedenheiten existieren nicht. Wir stellen fest, dass das ganze deutsche Proletariat wie ein einziger Mann in machtvoller Aktion gegen die Kriegshetzer geschlossen steht. (Beifall.)

Wozu noch viel über das Vergangene sinnieren. Lasst das Vergangene vergangen sein. Es hat ja zum Glück nichts Nennenswertes geschadet. Jetzt gilt es, frischauf in die Zukunft zu blicken, und dann mag kommen, was da will, ob Donnerkeil oder Wetterschlag, das kämpfende Proletariat wird sich bewähren. (Starker Beifall.)

1 In Verbindung mit der zweiten Marokkokrise wurde von den französischen Sozialisten dem Internationalen Sozialistischen Büro der Vorschlag unterbreitet, eine internationale Kundgebung gegen die Kriegsgefahr durchzuführen. Molkenbuhr als deutsches Mitglied des Internationalen Sozialistischen Büros sprach sich dagegen aus, und die geplante Kundgebung, die in Form einer Konferenz stattfinden sollte, unterblieb.

2 In einer zur Zeit des Jenaer Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (September 1911) vom Parteivorstand herausgegebenen Schrift wurde Rosa Luxemburg der Vorwurf gemacht, sie habe durch die Veröffentlichung eines Briefes Molkenbuhrs an das Internationale Sozialistische Büro, in dem dieser seine ablehnende Haltung zur Einberufung einer internationalen Konferenz begründete, eine Indiskretion begangen.

3 Über das Ergebnis der Verhandlungen zwischen dem französischen Botschafter Cambon und dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Kiderlen-Wächter. Die Red.

4 Hermann Müller hatte den Geschäftsbericht des Parteivorstandes erstattet. Die Red,

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