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Karl Liebknecht 19110327 Kritik an der Klassenjustiz

Karl Liebknecht: Kritik an der Klassenjustiz

Aus der Rede im preußischen Abgeordnetenhaus in der dritten Lesung des Justizetats

[Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, IV. Session 1911, 4. Bd., Berlin 1911, Sp. 5138-5151. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 4, S. 311-331]

Meine Herren, ich muss nun auf die Verhandlungen zurückgreifen, die wir bei der zweiten Beratung des Justizetats hier über den Moabiter Prozess1 gehabt haben. (Unruhe.) Es wird nicht sehr lang werden, meine Herren. Ich werde nur einen wesentlichen Punkt herausgreifen, nämlich die Behauptung des Herrn Justizministers, dass der Moabiter Prozess wiederum ein Beispiel für die missbräuchliche Ausnutzung und Bedenklichkeit des Paragraphen 244 der Strafprozessordnung2 sei. Sie wissen, wie der Herr Justizminister damals im Anschluss an diese Bemerkung die großen Parteien des Hauses aufgerufen hat, ihre Fraktionen im Reichstage für eine entsprechende Abänderung des Paragraphen 244 scharfzumachen.

Meine Herren, ich möchte mich zunächst auf eine Auslassung des sehr bekannten und versierten Justizrats Sello berufen, der vor kurzem in einem Artikel im „Berliner Tageblatt" erklärt hat:

Die Behauptung, dass die Verteidigung groben Missbrauch damit (mit dem § 244 Strafprozessordnung) treibe und dass die Verhandlungen, namentlich in den sogenannten Causes celebres durch endlose direkte Zeugenladungen mit völlig überflüssigen Beweiserhebungen belastet würden, diese Behauptung beruht auf einer ebenso frivolen wie gefährlichen Legendenbildung." („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Er spricht von einer „völlig freien, ebenso tendenziösen wie bösartigen Erfindung" und ruft am Schluss des Artikels: „Bei dem Kampf um den § 244 handelt es sich um eins der heiligsten Freiheitsgüter unseres Volkes. Schmach über die, die selbst das Mittel der Lüge nicht verschmähen, um es wenigstens mit einem Schein Rechtens antasten zu können." („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, diese Worte haben sich gerade in dem Moabiter Prozess auch nach der jetzt vorliegenden schriftlichen Fassung des Urteils als richtig bestätigt. Es ist behauptet worden, dass in dem Moabiter Prozess dem Gericht von der Verteidigung überflüssigerweise Zeugen aufgezwungen worden wären. Die Verhandlungen des Abgeordnetenhauses über diesen Punkt haben in dem schriftlichen Urteil insofern einen gewissen Niederschlag gefunden, als das Gericht es für notwendig gehalten hat, folgende Bemerkung in das Urteil einzuflechten:

Auf den Umfang der Beweisaufnahme hatte das Gericht im Hinblick auf die §§ 244-255 StPO und die hierzu ergangene feststehende Rechtsprechung des Reichsgerichts keinen Einfluss. Allerdings ist die Ladung aller hier in Betracht kommenden Zeugen vom Gericht veranlasst worden, aber doch nur, um jede Verzögerung und Verwirrung in den Dispositionen zu vermeiden, da die Verteidigung erklärt hatte, dass sie andernfalls von dem Rechte der unmittelbaren Ladung Gebrauch machen werde."

Wenn man aber aus diesen Sätzen eine Schlussfolgerung zur Stütze der Ansicht des Herrn Justizministers ziehen möchte, würde man trotz alledem auf dem Holzwege sein. Denn, meine Herren, das Urteil ergibt in seinen sämtlichen weiteren Auslassungen, dass es selbst diese Beweisaufnahme für erheblich erachtet hat.

Bei Würdigung der Strafabmessung sagt das Urteil: „Die Strafen stehen sämtlich in unmittelbarem oder mittelbarem Zusammenhang mit den Vorgängen, die sich im September 1910 abgespielt haben." Dann wird weiter hervorgehoben: Von der Verteidigung sei behauptet worden, dass durch unzweckmäßige polizeiliche Maßnahmen und insbesondere auch durch amtsmissbräuchliche Handlungen von Polizeibeamten die Angeklagten gereizt gewesen seien. Darüber musste dann die umfassende Beweisaufnahme stattfinden. Das Gericht macht dazu folgende Bemerkung: „Diese Behauptung konnte für eine Anzahl von Straffällen wesentlich sein, und deshalb musste eine außerordentlich große Beweisaufnahme stattfinden."

Das Urteil sagt also ausdrücklich: Weil die Behauptung für eine Anzahl von Straffällen wesentlich sein konnte, so musste diese Beweisaufnahme stattfinden. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Dieser Satz steht unmittelbar vor dem, was ich eingangs zitierte und was gleichsam wie eine Entschuldigung des Gerichts wegen des großen Umfangs der Beweisaufnahme aussieht.

Damit ist durch das Urteil selbst festgestellt, dass der innere Grund für die Beweiserhebungen der war, dass das Gericht die Erheblichkeit der Behauptungen selbst hat anerkennen müssen.

Meine Herren, ähnliche Konstatierungen finden Sie an weiteren Stellen. Das Urteil beginnt, nachdem es einige allgemeine Bemerkungen und Würdigungen vorausgeschickt hat, mit einer sehr eingehenden Erörterung des Ergebnisses der Beweisaufnahme, die angeblich so frivol hinaus gezerrt sein soll. Ich möchte diejenigen Herren, die mit der praktischen Justiz befasst sind, fragen, ob ein Gericht es als pflichtgemäß erachten könnte, eine von ihm als vollkommen unerheblich und sinnlos betrachtete Beweisaufnahme in dem Urteil so ausführlich zu erörtern; das würde mit einer Handbewegung beiseite zu schieben sein. Diese ausführliche Erörterung beweist, dass das Gericht selbst alles von der Verteidigung ihm aufgezwungene Beweismaterial schließlich für erheblich gehalten hat. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Das Urteil sagt dann auch schließlich folgendes: „Immerhin ist aber durch das Beweisergebnis denjenigen Angeklagten, deren Straftaten nach dem Beginn dieser Vorfälle liegen, Grund geboten, sich darauf zu berufen, dass auch die Polizei ungesetzlich vorgegangen ist und dass ihre eigene Erregung hierdurch eine Steigerung erfahren hat." („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Denn es kann nicht bezweifelt werden, dass die Kunde von den Amtsüberschreitungen sich wie ein Lauffeuer durch die Bevölkerung verbreitete, und es muss zugunsten der Angeklagten angenommen werden, dass auch sie Kenntnis davon erhielten. Hieraus war also für sie ein Milderungsgrund zu entnehmen." („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Das stellt doch so klar wie möglich fest, dass das Gericht selbst diese Beweisaufnahme für erheblich gehalten hat. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Und trotz alledem hat der Herr Justizminister unter Bezugnahme auf diesen Fall, der genau das Gegenteil von dem beweist, was der Herr Justizminister beweisen wollte, einen Angriff gegen Paragraph 244 unternommen und die preußische Reaktion gegen das Reich zu hetzen gesucht in einer bis jetzt selbst in Preußen unerhörten Weise!

Und, meine Herren, was wäre nach dem Standpunkt des Gerichtes das Ergebnis gewesen, wenn entsprechend der Auffassung des Justizministers verfahren worden wäre? Ein unbilliges, ein ungerechtes Urteil! („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Denn die Milderungsgründe, die das Gericht durch diese Beweiserhebung in die Hände bekommen hat, hätte es nicht in die Hände bekommen, wenn so verfahren worden wäre, wie der Justizminister es gewünscht hat. Ich meine, dass es einen unglücklicheren Anlass zu einer Attacke gegen Paragraph 244 nicht wohl geben kann wie den Moabiter Prozess.

Wenn man in diesem Hause nicht mehr davon sprechen darf, dass der Grundsatz: Lieber zehn Schuldige laufen lassen als einen Unschuldigen verurteilen! aller Strafjustiz zugrunde liegen sollte, so darf doch das eine noch gesagt werden, dass, wenn man die Richtigkeit unserer Rechtsprechung durch Rücksichten auf die Kosten der Justiz und auf Zeitersparnis beeinträchtigen möchte, das geradezu ein Sakrileg, eine Blasphemie gegen jede Justiz sein würde. Es muss Gerechtigkeit geübt werden! Und wenn die Gerechtigkeit es erfordert, dass größere Summen aufgewendet werden, dass eine größere Zahl von Richtern angestellt wird, dann muss eben dieser Anforderung genügt werden, dann darf nicht einfach durch summarisches Verfahren die Justizpflege billiger, bequemer, dafür aber auch schlechter gemacht werden. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Es ist nicht nötig, noch im Einzelnen auf Paragraph 244 einzugehen. Die durchaus törichten Angriffe auf den Paragraphen 244 und die angeblichen Sünden der Verteidigung in dieser Richtung sind von berufenster Seite genügend zurückgewiesen worden; es ist nicht notwendig, das hier zu wiederholen. Aber das möchte ich betonen: Es gäbe wahrhaftig andere Anlässe und bessere Anlässe, um hier in diesem Hause Reformen unseres Strafprozesses anzuregen. Der Herr Justizminister hätte ganz gewiss ein weites Echo in der Bevölkerung gefunden, wenn er, statt hier gegen jenes Palladium der Angeklagten und der Verteidigung in dieser Weise grundlos vorzugehen, seine Stimme erhoben hätte, um an dem Essener Prozess3 darzulegen („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.), wie notwendig es ist, die Garantien für die Wiederaufnahme des Verfahrens zu vermehren, die Wiederaufnahme zu erleichtern. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Das wäre eine Aktion gewesen, die in der Tat der Gerechtigkeit gedient hätte. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, ich hätte wohl genügend Material in den Händen, um den Herrn Minister noch auf manches andere hinzuweisen, worauf er vielleicht hätte Gewicht legen und was er an dieser Stelle im Interesse der Justiz hätte zur Sprache bringen können. Der Herr Justizminister hat das versäumt und statt dessen ausschließlich einer höchst reaktionären Tendenz zur Verschlechterung unserer Strafjustiz das Wort geredet. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, ich hätte Anlass, mich bei dieser Gelegenheit auch eingehender über jenes höchst merkwürdige und erstaunliche Urteil auszusprechen, das nicht nur bei uns und in der Anwaltschaft Aufsehen erregt hat, das vor kurzem in der Strafsache Breuer von dem höchsten deutschen Gerichtshof gefällt worden ist. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Mit dem Angeklagten kann man in diesem Falle schwerlich irgendwelche Sympathie empfinden, und mir liegt diese Sympathie absolut fern. Es würde aber frivol sein, die Frage nach Sympathie für den Angeklagten hier überhaupt aufzuwerfen und mit der Forderung nach Gerechtigkeit zu verquicken. Hier muss gefragt werden, ob der Standpunkt, den der höchste Gerichtshof in einem Falle, wo ein Menschenleben auf dem Spiele steht, wo es sich um Kopf und Kragen eines Menschen handelt, eingenommen hat, zu rechtfertigen ist; ob es nicht den schärfsten Angriff verdient, dass das Reichsgericht so weit gegangen ist, entgegen dem Antrage des Oberreichsanwalts in diesem Falle zu unterstellen, dass eine unterbliebene Fragestellung an die Geschworenen für die Entscheidung unerheblich gewesen sei, weil darauf das Urteil der Geschworenen, dessen Motive niemandem bekannt sind, nicht beruhe; und dass es der höchste Gerichtshof in diesem Falle darauf ankommen lassen will, dass ein Menschenleben auf Grund einer solchen kühnen, selbst dem Standpunkt des Oberreichsanwalts durchaus widersprechenden Deduktion vernichtet wird. Meine Herren, ich meine, das muss auch an dieser Stelle zu einem energischen Protest herausfordern („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.); das muss dazu herausfordern, auch in diesem Hause die Augen der Justizverwaltung auf die verschiedenen Appelle, die von den Verteidigern des Breuer in der Presse erhoben worden sind, zu lenken („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.), damit die Justizverwaltung in diesem Falle, wo die Möglichkeit eines Justizirrtums durchaus nicht ausgeschlossen ist, sondern naheliegt, vielleicht noch auf einem anderen Wege eingreift („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) und so der Gefahr vorbeugt, aus einem gerichtlichen Fehlspruch nicht wiedergutzumachende schwerste Konsequenzen erwachsen zu lassen. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, ich will mich nicht mit Einzelheiten befassen und deshalb nicht noch einmal auf die unwürdige Stellung des Verteidigers eingehen, die er ja gegenwärtig in unserer deutschen Gerichtsverfassung hat und die gerade durch die Praxis unserer preußischen Gerichte fast bis zur Unerträglichkeit gesteigert wird. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Ein Prozess, der vor wenigen Tagen in Berlin stattgefunden hat, in dem ein Anwalt, der freigesprochen worden ist, als Angeklagter vor den Schranken stand, hat auf diese Tendenz unserer Justizverwaltung ein Schlaglicht geworfen. Meine Herren, es war ein Staatsanwalt, der von Rechts wegen eigentlich innerhalb unseres Prozessverfahrens keine günstigere Stellung haben sollte als der Verteidiger, der sich erkühnt hat, in seiner Anklagerede zu betonen: „Mit Rücksicht darauf, dass die Verteidiger häufig in ihren Plädoyers über das erlaubte Maß hinausgehen", müsse eine höhere Geldstrafe beantragt werden! Ich meine, die Justizverwaltung – die Staatsanwaltschaft ist ja eine Verwaltungsbehörde – hätte in der Tat allen Anlass, ein wenig an die eigene Brust zu schlagen und zu fragen, ob denn die Staatsanwälte immer so vollkommen unschuldige Lämmlein sind und nicht auch exzedieren, ob nicht die Staatsanwälte den Richtern wohl gar nicht selten ebenso viele Schwierigkeiten bereiten, vielleicht oftmals noch sehr viel mehr Schwierigkeiten („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) als die unbequemen Verteidiger. Aber sie fühlen sich als Vertreter der Staatsgewalt und werden als solche geachtet. Der Verteidiger dagegen ist das fünfte Rad am Wagen und gilt jedenfalls sehr oft als durchaus überflüssig; der Standpunkt vieler Richter in dieser Beziehung ist ja bekannt. Und so werden diese unbequemen Leute vielfach – wie soll ich sagen? – en Canaille behandelt.

Meine Herren, es ist zweifellos, dass alle die Vorwürfe, die man gegen die Verteidiger richtet, einmal in Bezug auf Paragraph 244, dann in Bezug auf allzu intime Ausfragung der Zeugen, dann ebenso schließlich in Bezug auf ihr äußeres Verhalten vor Gericht, nur um deswillen so lebhaft erhoben werden, weil man in den Verteidigern dasjenige Element innerhalb unserer Strafrechtspflege erblickt, das nicht bürokratisch gebunden ist, nicht so leicht bürokratisch geschurigelt werden kann wie die anderen Organe der Rechtspflege und das oft dazu beigetragen hat, dass auch politische Missstände in einer sehr unangenehmen Weise öffentlich beleuchtet, öffentlich erörtert worden sind.

Meine Herren, gegenüber der Behauptung, dass die Verteidiger häufig zu sehr in die Intimitäten der Zeugen, in das Privatleben der Zeugen hinein zu dringen bestrebt seien, will ich daran erinnern, dass im Moabiter Prozess es gerade der Oberstaatsanwalt war, der versucht hat, einen der wichtigsten Entlastungszeugen, jenen Kaufmann aus Köln, zu diskreditieren, indem er mit großem Pomp zur Sprache brachte, dass dieser Mann, ich glaube, vor zehn oder fünfzehn Jahren, einmal wegen irgendeiner Geringfügigkeit mit fünfzehn Mark Geldstrafe belegt worden ist.

Meine Herren, es ist Sache der Justizverwaltung mehr noch als des Ministeriums des Innern, die Verfolgung derjenigen schuldigen Beamten zu veranlassen und durchzuführen, die nach Feststellung des Moabiter Urteils über ihre Amtsbefugnisse hinausgegangen sind. Aus diesem Grunde greife ich auch auf diesen Teil unserer Verhandlungen über die Moabiter Angelegenheit zurück.

Ich habe bei der ersten Lesung des Etats die Forderung gestellt, dass die Untersuchung dieser Sache nicht in den Händen der Berliner Polizei bleiben dürfe, sondern in die Hände von höheren Beamten, möglichst in die Hände von solchen Beamten gelegt werden müsste, von denen man wenigstens in einem gewissen Umfange Unparteilichkeit und Bereitschaft zu rücksichtslosem Einschreiten auch gegenüber der Berliner Polizei voraussetzen kann. Meine Herren, inwieweit das bei der tatsächlich vorgenommenen Untersuchung jener Fälle innegehalten worden ist, darüber vermag ich auch nach den Auslassungen des Herrn Ministers des Innern vom vergangenen Freitag ein klares Bild nicht zu gewinnen. Es geht allerdings aus diesen Auslassungen hervor, dass die Staatsanwaltschaft die Sache in Händen hat; aber es geht daraus auch hervor, dass die Akten immer wieder in die Hände des Polizeipräsidiums gelangt sind, das offenbar allerhand Untersuchungen und Ermittlungen angestellt hat. Meine Herren, das durfte und darf unter keinen Umständen sein („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.); das durfte am allerwenigsten geschehen, nachdem gerade der Berliner Polizeipräsident von Jagow es gewesen ist, der in seiner bekannten Kaisergeburtstagsrede erklärt hat, dass von ihm alle Fälle eingehend untersucht worden seien und dass auf Grund dieser eingehenden Untersuchungen festgestellt worden sei, dass der Schild der Polizei blank sei, dass die Polizei ein Muster von Pflichttreue usw. gebildet habe. Einem derartigen Beamten kann man naturgemäß eine solche Untersuchung nicht anvertrauen („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.); das ist die einfache selbstverständliche Folgerung, die von der Justizverwaltung gezogen werden sollte, und ich glaube nach den Auslassungen des Herrn Ministers des Innern, dass sie nicht in ausreichender Weise gezogen worden ist.

Der Herr Minister des Innern hat mir den Vorwurf gemacht, dass ich das Vorgehen der Polizei, wie es sich nach dem Moabiter Gerichtsurteil darstellt, in einer durchaus unzutreffenden Weise gewürdigt hätte, und er hat geglaubt, mich unter Bezugnahme auf das schriftliche Urteil rektifizieren zu müssen. Die Wendungen, die der Herr Minister des Innern am vergangenen Freitag hier vorgetragen hat, befinden sich in der Tat in dem schriftlichen Urteil; aber wenn Sie dieses Urteil von Anfang bis zu Ende durchlesen, so werden Sie sehen, wie hier offenbar die Richter in dem redlichsten und eifrigsten Bemühen, das wir auf das höchste anerkennen, Licht und Schatten gleich zu verteilen, sich vielfach in Widersprüche verwickelt haben, dass sie an der einen Stelle, um ihrer Pflicht nur ja recht zu genügen, den einen Punkt scharf betont haben, dass sie in einem andern Punkt etwas Entgegengesetztes energisch hervorgehoben haben, so dass beide Stellen, wenn man sie zusammenhält, nicht recht zusammenstimmen.

Jene Sätze finden sich, wie ich sagte, in dem Urteil; aber es finden sich in dem Urteile auch andere Wendungen, die, wie mir scheint, dasjenige, was ich über die Vorgänge behauptet habe, durchaus rechtfertigen. Das Urteil sagt zunächst, zugunsten der Verurteilten müsse festgestellt werden, dass die streikenden Arbeiter sowohl wie die Bevölkerung davon ausgehen konnten, der Anspruch auf Lohnerhöhung sei nach den Lebensverhältnissen, wie sie sich gebildet haben, berechtigt, eine Feststellung, die bei einem bürgerlichen Gericht aller Ehren wert ist.

Es heißt dann weiterhin: „Durch den als aufgezwungen betrachteten Streik" – hier wird in einer sehr anständigen Weise von dem Urteil ein subjektives Moment aufgenommen – „bemächtigte sich der Streikenden und ihres Anhanges eine große Erbitterung."

Hier wird also das subjektive Moment, die Erbitterung, darauf zurückgeführt, dass von dem Standpunkt der Streikenden aus der Streik durch ein unzulässiges und ungehöriges Verhalten des Unternehmertums aufgezwungen war. Dann wird fortgefahren: „Die wuchs, als die Polizei der Firma zu Hilfe kam." Das ist genau das, was wir gesagt haben. Dadurch, dass die Polizei, die nur allzu sehr geneigt ist, bei Streiks zugunsten des Unternehmertums einzugreifen, in diesem Falle, nachdem die Erbitterung schon vorher in dieser Weise, wie das Urteil schildert, entstanden war, der Firma zu Hilfe kam, ist die Erbitterung noch verstärkt worden. Das Urteil fügt hinzu, dass freilich das mindestens ebenso starke Recht der Arbeitswilligen von den streikenden Arbeitern habe geachtet werden müssen.

Dann ist die Rede von den Provokationen durch Arbeitswillige, von denen ich auch gesprochen hatte; da heißt es: „An und für sich seien Arbeitswillige ganz ordentliche Leute." Aber „anders", fährt das Urteil fort, „liegt es allerdings mit den Hintzeschen Arbeitern4, die überall eintreten, wo es Streik gibt." Von diesen Hintzeschen Arbeitern sagt das Urteil an einer anderen Stelle, dass unter ihnen sich „rauflustige" Leute befunden hätten. Hier sagt das Urteil von ihnen, „dass Leute, die sich werben und von Stadt zu Stadt führen lassen, anders geartet sein müssen und dass bei ihnen eine gewisse Abenteurerlust vorhanden sein muss". („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Dann wird fortgefahren: „Zuzugeben ist aber wieder, dass die Erregung durch diesen Zuzug sich steigert, wenn auch unberechtigterweise, da die Streikenden die Willensfreiheit anderer anzuerkennen haben." Dann fährt das Urteil fort: „Wenn einzelne Arbeitswillige von der Schusswaffe Gebrauch gemacht haben, so war dieses gewiss unzweckmäßige Vorgehen geeignet, die Menge noch mehr zu erregen." („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Und so wird eins nach dem andern von den Momenten, die ich angeführt habe und die der Herr Minister des Innern als unzutreffend glaubte bezeichnen zu können, von dem schriftlichen Urteil selbst aufgenommen und zur Motivierung und Entschuldigung der Angeklagten selbst verwertet.

Ich hatte auch Gewicht gelegt auf die Unzweckmäßigkeit der Polizeimaßnahmen und gemeint, dass das mit eine Ursache für die Erregung gebildet habe. Dazu sagt das Gericht, dass es über diese Zweckmäßigkeit nicht urteilen wolle, weil es zu schwierig, ja unmöglich sei, nachträglich ein Urteil über die Zweckmäßigkeit abzugeben. Eine ganz verständige Erwägung, gegen die ich nicht angehen will. Aber Sie sehen, dass das Gericht die Frage, ob die Polizei durch unzweckmäßiges Vorgehen zur Steigerung der Erregung beigetragen hat, durchaus nicht in einer meiner Auffassung widersprechenden Weise entschieden hat. Ich kann nur sagen, dass die Auffassung, die der Herr Minister des Innern in Bezug auf meine Ausführungen bei der zweiten Lesung des Etats gemacht hat, als durchaus abwegig zurückgewiesen werden kann. („Sein richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Dann noch ein anderes. Es wundert uns nicht, wenn es bis zum heutigen Moment nicht gelungen ist, einen von den schuldigen Beamten zu fassen, weil wir einmal an jene Rede des Herrn von Jagow denken, von der ich bereits sprach, und zweitens daran, dass der Herr Minister des Innern in diesem Hause, obwohl Vertreter selbst „staatserhaltender" Parteien – in Anführungszeichen gesetzt – ihn in dieser Hinsicht ziemlich scharf provoziert haben, sich nicht veranlasst gesehen hat, auch nur ein Wort der Missbilligung über die Polizeibeamten zu sprechen („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.), und drittens daran, dass auch der Justizminister seine Fittiche schützend gedeckt hat über alles, was die Polizei betraf, Entschuldigungen gefunden hat für alles und nicht ein Wort der Anklage. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Wenn in der Weise von den Strafverfolgungsbehörden, von den höchsten Spitzen sowohl der Kriminalpolizei wie der Justizbehörde bemäntelt und jeder klaren Stellungnahme aus dem Wege gegangen wird, dann muss bei den im Einzelnen mit der Untersuchung betrauten Beamten der Eindruck entstehen, dass an oberster Stelle eine Klarstellung und ein Eingreifen gar nicht gewünscht werden. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Wenn das nicht der Fall ist, dann möge erst einmal vom Ministertisch aus mit Nachdruck und mit der Emphase, die am Platze ist angesichts jenes gemordeten Arbeiters, betont und der feste Entschluss verkündet werden, dass mit voller Rücksichtslosigkeit und Energie eingeschritten werden soll bei diesen feigen Handlungen … („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Im Anschluss hieran habe ich noch eine andere Affäre mit Bezug auf die Strafverfolgungsfunktion der Justizverwaltung hier zu behandeln. Ich spreche jetzt von der Angelegenheit, die beim Kultusetat ausführlich erörtert worden ist; ich spreche von jenem Strafverfahren, das auf meine Anzeige gegen den Schulaufsichtsdezernenten bei der Regierung in Oppeln eingeleitet worden ist. Ich habe neulich vorgetragen, dass die Staatsanwaltschaft und die Oberstaatsanwaltschaft die Erhebung der Anklage gegen diesen Beamten abgelehnt haben, weil er, wenn er auch objektiv unrichtig gehandelt habe, jedenfalls das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit seines Tuns nicht besessen habe.

Ich muss mich mit aller Energie gegen diesen Standpunkt der Strafverfolgungsbehörde wenden und darlegen, wie unverständlich dieser Standpunkt ist. In vielen Fällen eines solchen Eingreifens der Schulaufsichtsbehörde und namentlich bei dem Vorgehen gegen unsere Turnvereine handelt es sich nicht um Personen, die besoldet sind, um Unterricht zu erteilen, um Personen, die gewerbsmäßig die Erteilung von Unterricht betreiben, sondern um einen sogenannten „Unterricht", der von den älteren Mitgliedern der Vereine an jugendliche Mitglieder erteilt wird. Es ist an und für sich ein Unfug, in welcher Weise die Schulaufsichtsbehörden und speziell der Mann, gegen den ich die Strafanzeige erstattet habe, den Begriff des Unterrichts auszulegen pflegen. Unter diesen Begriff des „Unterrichts" würde es ja selbst fallen, wenn die Jungen sich untereinander in ihren Vereinen usw. „Vorträge" halten. Es müsste ja jeder einzelne von ihnen, wenn sie sich so gegenseitig zu belehren suchen, als ein Unterricht gebender eine Schulaufsichtsgenehmigung haben, wenn diese Auslegung des Begriffes „Unterricht" zuträfe. Solche Konsequenzen werden aber wahrlich nicht gezogen, nur die Arbeiterjugend schikaniert man derart.

Aber weiter: Nach den in Frage kommenden gesetzlichen Bestimmungen, die ich der Staatsanwaltschaft mitgeteilt habe, ist es kein Zweifel, dass die Schulaufsichtsbehörde nur bei gewerbsmäßigem Unterricht einzugreifen befugt ist. Sowohl die Kabinettsorder vom 10. Juni 1834 wie der Paragraph 8, II Titel 12 des Allgemeinen Landrechts sprechen ausschließlich von Gewerbsmäßigkeit! Und trotz alledem wird ohne Rücksicht darauf, ob Gewerbsmäßigkeit vorliegt oder nicht, ohne Prüfung sogar der Frage der Entgeltlichkeit, in dieser Weise eingeschritten.

Kann man bei dem klaren Wortlaut – die Worte „gewerbsmäßig" stehen ausdrücklich im Gesetz und werden immer wieder wiederholt – noch einen guten Glauben der betreffenden höheren Beamten annehmen und aus diesem Grunde eine Strafverfolgung ablehnen wollen? Meiner Ansicht nach müsste der Herr Justizminister sogar noch erheblich weitergehen und müsste gegen die höheren und höchsten Instanzen, die diese gesetzwidrigen Verfügungen erlassen haben, die Strafverfolgung einleiten. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Bei uns besteht der Anklagezwang, und wenn solche Gesetzwidrigkeiten begangen werden, auch wenn sie von höchsten Spitzen begangen werden, dann müssen sie verfolgt werden; sonst wird mit zweierlei Maß gemessen. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich will dann noch darauf hinweisen, wie wohlbegründet meine Anzeige gewesen ist angesichts der Tatsache, dass bereits am 28. Juni die Reichsgerichtsentscheidung ergangen ist und dass die Schulaufsichtsbehörde, gegen die ich meine Strafanzeige gerichtet habe, bis in diesen Monat hinein mit ihren gesetzwidrigen Verfügungen fortgefahren hat. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Ich habe hier eine solche Verfügung in Händen von der Königlichen Regierung zu Oppeln. Derselbe Dezernent für die Schulaufsicht, gegen den ich die Strafanzeige erstattet habe, hat am 3. März 1911 wiederholt eine Verfügung dieser gesetzwidrigen Art erlassen. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Er setzt da von neuem gegen einen gewissen Suchy wegen einer Zuwiderhandlung eine Geldstrafe von 300 Mark fest, und zwar wenige Tage vor jener Rede des Herrn Kultusministers, wo dieser von einer bereits von ihm erlassenen Zirkularverfügung gesprochen hat, und droht weitere Straffestsetzungen an.

Aber es kommt noch schlimmer, meine Herren! Am 14. März dieses Jahres, also nach jener Rede des Herrn Kultusministers, ist von neuem eine entsprechende Verfügung erlassen worden in Bezug auf den Arbeiterturnverein zu Hainau in Schlesien wie kurz vorher in Bezug auf den Arbeiterturnverein in Liegnitz! Meine Herren, hier gäbe es Arbeit für die Justizverwaltung, hier könnte sie einmal zeigen, dass sie in Wahrheit Hüter des Rechtes sein will ohne Ansehen der Person. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, es ist unglaublich, dass der Herr Kultusminister glaubt, genügend getan zu haben gegenüber diesem unerhörten Vorgehen dieser Beamten, gegenüber diesen offensichtlichen Rechtswidrigkeiten der Beamten, gegenüber diesem offensichtlich bewusst rechtswidrigen Vorgehen der Beamten, gegenüber diesem bewussten Missbrauch der Beamten, dass er glaubt, dagegen genug getan zu haben, wenn er uns hier eine solche – (Glocke des Präsidenten.)

Präsident von Kröcher: Sie dürfen nicht von einem Beamten sagen, dass er bewusst Missbrauch treibt und bewusst gegen das Recht handelt. Herr Abgeordneter Liebknecht, ich rufe Sie zur Ordnung. (Unruhe bei den Sozialdemokraten. „Bravo!" rechts.)

Liebknecht: Meine Herren, um was es sich handelt, habe ich ja bereits deutlich genug gesagt; und dass das, was ich hier vorgetragen habe, Arbeit für die Staatsanwaltschaft gäbe, das habe ich auch bereits deutlich genug zum Ausdruck gebracht. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Ich brauche kein Wort hinzuzufügen, sondern nur noch die Forderung auszusprechen, dass hier die Justizverwaltung ihre Schuldigkeit tun möge. Sie versteht ja sonst in anderen Fällen, rasch zuzufassen und ihre Schuldigkeit zu tun.

Ich will noch mit wenigen Worten auf eins zurückkommen: Man sagt, die Politik sei aus dem Gerichtssaal zu verbannen. Dabei werden unsere Gerichte tagtäglich mit politischen Angelegenheiten befasst und können um die Politik gar nicht herumkommen. Wenn über die Politik nicht im Gerichtssaal, bei der Verhandlung, offen geredet wird, so wird heimlich über die Politik geredet und gedacht bei der Beratung, bei der Urteilsfällung. Es bedeutet also eine Bemäntelung, eine Verdunkelung, wenn man in solchen Fällen nicht ganz offen über Politik soll reden können.

Ich habe hier ein Beispiel in Händen über die Art, wie die Gerichte politisch judizieren. Es handelt sich um einen Anarchistenprozess. Der Termin war am 11. November vorigen Jahres vor der Lieber-Kammer – die Hauptmitglieder der Lieber-Kammer waren damals freilich in dem Moabiter Prozess beschäftigt – unter dem Vorsitz des Herrn Landgerichtsrats Gohr, eines früheren Mitgliedes jener berühmten Oppermann-Kammer, der 4. Strafkammer am Landgericht I in Berlin.

Da ist in dem schriftlichen Urteil, das übrigens aus bestimmten Gründen auf Freisprechung lautete, wenn auch eine Verurteilung auf Konfiskation stattfand, gesagt: „Infolge seiner ganzen Sprache ist der Artikel geeignet, sowohl das Gefühl, in ihren berechtigten Interessen geschützt zu sein, bei den nicht dem Arbeiterstande angehörenden Klassen der Bevölkerung in ein Gefühl der Beunruhigung zu verwandeln, als auch in Anbetracht der, wie die jüngsten Moabiter und Bremer Ereignisse5 lehren, auf das äußerste zugespitzten sozialen Gegensätze den Ausbruch von Gewalttätigkeiten seitens der Arbeiterklasse gegen die ihr nicht angehörigen Bevölkerungsklassen hervorzurufen."

Meine Herren, heißt das nicht erstens, ein politisch einseitiges Urteil abgeben, heißt das nicht außerdem, dem Urteil der Strafkammer vorgreifen, die gerade mit der eingehenden Erörterung der Moabiter Vorgänge befasst war? Ist es nicht unerhört, dass, nachdem in den Verhandlungen von den Moabiter und Bremer Vorgängen mit keinem Worte die Rede gewesen ist, das Urteil als einen wesentlichen Erwägungsgrund plötzlich diese schiefe Auffassung von den Moabiter und Bremer Vorgängen hinein zerrt? (Abgeordneter Hoffmann: „Nach berühmtem Muster!") – Natürlich sind es berühmte Muster! Man verlangt von uns immer wieder neue Belege, weil man schleunigst alles vergisst oder zu vergessen vorgibt, was wir vorgebracht haben.

Meine Herren, ich habe nun noch eine Sache, und damit will ich Schluss machen. (Zuruf rechts: „Gott sei Dank!") – Gott sei Dank, ja! (Erneute Zurufe rechts. Gegenrufe von den Sozialdemokraten.) Wir werden alles vorbringen, was wir für gut halten. Sie werden schon sehen, dass wir uns durch alle Ihre Zwischenbemerkungen nicht abhalten lassen zu reden. Ob Ihnen das angenehm ist oder nicht, ist uns so gleichgültig wie irgend etwas.

Meine Herren, ich spreche jetzt von dem Deutzer Landfriedensbruchprozess. Meine Herren, vor wenigen Tagen ist in Deutz ein Prozess gegen einige Gewerkschaftsbeamte und gegen einige organisierte oder doch an einem Streik beteiligt gewesene Arbeiter zu Ende geführt worden.6 Insgesamt ist gegen diese Leute eine Strafe von 23 Jahren und zwei Monaten Gefängnis gefällt worden. Die höchste Strafe ist über den Gewerkschaftssekretär und Vorsitzenden des Zweigvereins Köln des Bauarbeiterverbandes, Georg Fröhlich, verhängt worden; er hat zwei Jahre und sieben Monate Gefängnis bekommen. Man hat ihn verurteilt als einen Aufwiegler, als einen Rädelsführer zum Landfriedensbruch, weil er in einer Versammlung die Bemerkung gemacht haben soll: „Wer auf die Baustelle geht, tut das auf eigene Rechnung und Gefahr"; weil er weiter gesagt haben soll: „Wir werden die Baustelle schon säubern"; weiter: „In Preußen ist alles erlaubt, man soll sich nur nicht erwischen lassen"; und schließlich: „Nun ist es Zeit; auf der Baustelle wird jetzt Schicht gemacht."

Meine Herren, gegenüber diesen Bezichtigungen ist erwiesen worden, dass der Angeklagte gesagt hat: „Wer streikt, tut das auf eigene Rechnung und Gefahr, sorgt morgen früh dafür, dass die Baustelle sauber bleibt!" Also nichts weiter als eine Aufforderung in angemessener und energischer Weise, dem Streikbeschluss Nachdruck zu verleihen, ohne irgendeine Anreizung zu Ungesetzlichkeiten.

Meine Herren, in Bezug auf die zweite Äußerung ist von Zeugen bekundet worden, dass diese Worte aus der Mitte der Versammlung heraus ertönt sind und dass der Angeklagte im Gegensatz dazu erklärt hat: „So sagt man wohl, aber ich warne euch davor, Kollegen, diesem Ausspruch zu folgen." Er warnte also davor, sein Verhalten danach einzurichten, dass man nur verurteilt werden kann, wenn man erwischt ist. Das beweist zur Genüge, dass aus dieser Bemerkung eine Schlussfolgerung nicht gezogen werden kann.

Es sind Zeugen aufgetreten, die bestätigt haben, dass die Bemerkung, jetzt sei Schicht, sich auf eine andere Baustelle bezog und bedeuten sollte, dass die Arbeiter von jener Baustelle, auf der gearbeitet wurde, die nicht im Streik lag, herankämen.

Zahlreiche Personen haben bezeugt, dass Fröhlich ein ordentlicher, anständiger Mensch ist, der seinen Pflichten aufs Peinlichste nachkommt, ruhig und geordnet sein Leben führt, und trotzdem wurde der Mann wegen dieser Äußerungen, von denen ich eben sprach, zu der exorbitanten Strafe von zwei Jahren sieben Monaten verurteilt.

Meine Herren, es wurde von dem Staatsanwalt, der sich zunächst in der Verhandlung genauso wie der Vorsitzende bemühte, das Wort Politik usw. nicht auszusprechen, in dem Plädoyer doch schließlich der politische Gesichtspunkt in den Vordergrund gerückt, indem er bemerkte: Der Terrorismus des Verbandes sei es, dessen Druck, dessen Einschüchterungsversuche bis in den Gerichtssaal reichen. Immer mehr wachsender Mangel an Achtung vor der staatlichen Autorität usw. wurde von ihm gerügt und betont, dass sich jetzt solche Fälle so häufig wiederholten, dass dagegen energisch eingeschritten werden müsse.

Worum handelt es sich in diesem Falle, der in dieser Weise charakterisiert und gerächt wurde durch jenen furchtbaren Urteilsspruch? Meine Herren, einige angetrunkene Arbeiter haben an einem Montagabend auf einer Baustelle, wo Streik war, vier Arbeitswillige, die von fünf Schutzleuten beschützt waren, belästigt, ein Vorgehen, das wir an und für sich gar nicht billigen, gegen das wir uns stets mit allem Ernst wenden und gegen das die Gewerkschaftserziehung die Arbeiter mehr und mehr immun macht. Es war von diesen Arbeitern nur eine ganz geringe Zahl organisiert, also dem Einfluss der Organisation unterworfen; nur sechs Mann von den gesamten streikenden Arbeitern waren überhaupt so lange Mitglieder des Verbandes, dass sie streikunterstützungsberechtigt waren, ein Beweis dafür, wie wenig der Verband mit der ganzen Sache zu tun gehabt hatte, wie vielmehr dieser Vorgang sich aus einem nicht zu billigenden Impuls aufgeregter, unorganisierter Arbeiter ergeben hat. Dennoch wird in dem Urteil und von dem Staatsanwalt auf den Verband, auf dessen Terrorismus hingewiesen und auf ähnliche Fälle, die sich anderwärts ereignet haben sollen. Wenn das nicht bedeutet, alle sozialen Vorurteile mobilmachen und gegen die Angeklagten hetzen, dann weiß ich nicht, wie man das wirksamer machen soll.

Bedenken Sie, meine Herren, dass auch in diesem Falle unter den Geschworenen nicht ein einziger Arbeiter oder Angehöriger der unteren Stände war! Ein Geschworenengericht, ausschließlich zusammengesetzt aus Angehörigen der höheren Schichten, die hinter jedem Streik die Hydra der Revolution wittern! Sieben Kaufleute, sechs Fabrikanten, je drei Direktoren und Architekten, einige Rentner und Ingenieure, je ein Generalagent, Prokurist, Ziegeleibesitzer, Hauptmann a. D. und Landwirt! Und, meine Herren, es ist doch ganz naturgemäß, dass die sozialen Vorurteile nicht erst besonders stark angeregt zu werden brauchen, um sofort mit aller Wucht, alle Gerechtigkeit und kühle Überlegung über den Haufen rennend, hervor zu stürzen. So ist das Vorgehen der Strafverfolgungsbehörde und auch des Gerichtes in diesem Falle durchaus nicht zu billigen, sondern auf das Schroffste zurückzuweisen.

Meine Herren, es ist nicht der geringste Zweifel, dass dieses Urteil wiederum beweist, dass wir mit unserer Behauptung über die Klassenjustiz in Deutschland das Schwarze treffen. Meine Herren, alle Ausnahmen von dieser Regel bestätigen nur die Regel, und selbst das Moabiter Urteil bestätigt in dieser Beziehung die Regel. Bedenken Sie auf der einen Seite, wie man hier den Arbeitern, die durch die Lohnkämpfe, durch ihre bedauerliche wirtschaftliche Lage in menschlich begreifliche Erregung versetzt waren – wie man diesen Arbeitern ihre Exzesse scharf angekreidet hat; und dann vergleichen Sie, welche Worte des Verständnisses und der Billigung das Gerichtsurteil im Moabiter Falle gefunden hat für die exzedierenden Beamten. Da hat das Gericht verstanden, mit voller Lebhaftigkeit nachgefühlt, dass diese Beamten bis aufs Blut gepeinigt waren, dass sie erregt waren und dass sie, wenn sie auch über die Schranken des Gesetzes hinausgegangen sind, doch viele mildernde Umstände auf ihrer Seite hatten. Derartige verständnisvolle Beurteilung finden Streikende und Arbeiter außerordentlich selten. Das Moabiter Urteil in seinen anerkennenswerten Wendungen, die sich auch in die Psychologie der Streikenden zu vertiefen bemühen, wenn auch nicht so lebendig wie in die der Schutzleute, bildet in dieser Beziehung eine äußerst seltene Erscheinung.

Meine Herren, ich glaube wohl, dass alles dasjenige, was ich hier ausgeführt habe, notwendig war, mögen Sie noch so sehr ungehalten darüber sein, dass dadurch die Beratung vielleicht um einige Minuten verlängert worden ist. Ich möchte freilich die Hoffnung, dass es möglich ist, mit Hilfe der parlamentarischen Tätigkeit in diesem Hause zur Besserung unserer Justiz irgendeinen nennenswerten Erfolg zu erzielen, kaum aussprechen; ich meine, hier gilt das Wort: Wie können an diesem Dornbusch Feigen wachsen! („Sehr gut!" und Heiterkeit.) Meine Herren, wie könnte von diesem Hause jemals eine Anregung zur wirklichen Gerechtigkeit oder auch nur zu ernster Gesetzlichkeit ausgehen (Lachen rechts.), von diesem Hause, das ja doch, wie die letzten Etatverhandlungen gezeigt haben, immer und immer wieder sich nicht gescheut hat, jede Ungesetzlichkeit zu decken („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) und jeden noch so schuldigen Beamten gegenüber der Masse der Bevölkerung in Schutz zu nehmen, einem Hause, das nicht ein einziges Wort der Missbilligung gefunden hat, wenigstens nicht ein einziges Wort der energischen Missbilligung gegenüber den Exzessen, über die wir in der Lage waren, Beschwerde zu führen. Wie könnte man dergleichen hoffen angesichts einer Königlichen Staatsanwaltschaft, die nicht einmal die schwächlichen Anregungen, die selbst von reaktionärster Seite hier in diesem Hause in einigen Punkten gegeben wurden, irgendwie unterstützt und die nicht einmal daraus irgendwelche verständige Konsequenzen gezogen hat! („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, die Justizverwaltung hat gute Gelegenheit zu zeigen, ob sie der Gerechtigkeit und der Gesetzlichkeit dienen will; wir werden sehen, ob sie die Gelegenheit ausnützen wird. („Bravo!")

1 Im September 1910 streikten die Arbeiter der Firma Kupfer & Co., einer dem Stinnes-Konzern angeschlossenen Kohlengroßhandlung in Berlin-Moabit. Als Streikbrecher des Streikbrechervermittlers Hintze, geschützt durch die Polizei, provokatorisch auftraten, kam es zu blutigen Zusammenstößen zwischen der Polizei und der Bevölkerung. Die brutal vorgehende Polizei tötete zwei und verwundete zahlreiche Personen. In zwei großen Prozessen – vom 9. November 1910 bis 11. Januar 1911 vor einer Berliner Strafkammer und vom 9. bis 23. Januar 1911 vor dem Schwurgericht des Berliner Landgerichts I – wurde gegen 18 Angeklagte verhandelt, von denen 14 insgesamt 67 ½ Monate Gefängnis erhielten. Der Rest wurde freigesprochen.

2 „Die Beweisaufnahme ist auf die sämtlichen vorgeladenen Zeugen und Sachverständigen sowie auf die anderen herbeigeschafften Beweismittel zu erstrecken. Von der Erhebung einzelner Beweise kann jedoch abgesehen werden, wenn die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte hiermit einverstanden sind."

3 In einer Versammlung des Gewerkvereins christlicher Bergarbeiter am 3. Februar 1895 in Baukau bei Herne wurde der Bergarbeiter Schröder von dem Gendarmen Munter niedergeschlagen. Im Prozess (Juni 1895) gegen den Redakteur Margraf von der „Deutschen Berg- und Hüttenarbeiter-Zeitung", der über diesen Vorfall berichtete, wurden Schröder und seine Zeugen wegen „dringenden Verdachts wissentlichen Meineids" im Gerichtssaal verhaftet und unter Anklage gestellt. In dem am 14. August 1895 beginnenden Meineidsprozess vor dem Essener Schwurgericht wurden Schröder und sechs weitere Angeklagte zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt. Wiederholte Versuche des Verteidigers, das Verfahren wieder aufzunehmen, führten erst im März 1910, gestützt auf das gegen Munter im Jahre 1908 angestrengte Disziplinarverfahren, zum Freispruch und zur Zubilligung einer Entschädigung für die unschuldig Bestraften.

4 Agenten der Streikbrecher-Vermittlungsfirma Hintze. Die Red.

5 Vom 15. bis 25. Oktober 1910 standen die Bremer Straßenbahnarbeiter im Streik, der durch einen erfolgreichen Vergleich beendet wurde. Als die Streikenden sich am 18. Oktober 1910 gegen provokatorische Aktionen von Streikbrechern zur Wehr setzten, benutzte die Polizei dies als Vorwand zum Eingreifen. Anschließend hetzte die Unternehmerpresse gegen die Sozialdemokratie. Am 28. März 1911 wurde vor dem Bremer Schwurgericht wegen der Vorgänge im Oktober 1910 gegen zwei Angeklagte verhandelt. Ein Angeklagter, der schon fünf Monate in Untersuchungshaft gehalten worden war, musste freigesprochen werden.

6 Dieser Prozess fand vom 13. bis 19. März 1911 vor dem Kölner Schwurgericht statt. Die Anklage ging auf Zusammenstöße zwischen der Polizei und der Bevölkerung während eines Streiks von Bauarbeitern in Köln-Deutz Anfang Oktober 1910 zurück. Die Red.

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