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Karl Liebknecht: Staatsanwaltschaft und Essener Meineidprozess

Karl Liebknecht: Staatsanwaltschaft und Essener Meineidprozess

Reden im preußischen Abgeordnetenhaus in der zweiten Lesung des Justizetats, Kapitel 74, Titel 4

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, IV. Session 1911, 1. Bd., Berlin 1911, Sp. 1382-1384, 1385-1387, 1388-1390, 1391-1393. und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 4, S. 82-88 unter den Titel „Weiteres zum Justizetat. I Zur Rolle der Staatsanwaltschaft]

I

Präsident V. Kröcher: Zu Tit. 4 hat das Wort der Abgeordnete Dr. Liebknecht

(Unruhe)

Liebknecht: Meine Herren, ich komme jetzt zu einer vollkommen anderen Sache, zu unserer Staatsanwaltschaft. Ich habe hier nur einige wenige Spezialpunkte zu erörtern, ohne mich im Allgemeinen mit unserer Staatsanwaltschaft zu befassen; mein allgemeines Urteil habe ich besonders in politischer Beziehung bereits am vorigen Freitag abgegeben.

Meine Herren, ich möchte zunächst auf einige Vorgänge hinweisen, die sich in dem Moabit-Prozess1 abgespielt haben und die auf das Konto der Staatsanwaltschaft zu stellen sind.

Es wurde in dem Moabiter Prozess, wenn ich nicht irre, in zwei verschiedenen Fällen von dem Gerichte beschlossen, Zeugen zu vernehmen, die die Verteidigung benannt hatte. Nun stellte sich heraus, dass, bevor das Gericht zur Vernehmung kam, diese selben Zeugen inzwischen von der Polizei auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft, soviel wir orientiert sind, gehört worden waren, so dass dasjenige, was sie späterhin sagen sollten, bereits vorher in einem durchaus nicht unter genügenden Garantien aufgenommenen Protokoll festgelegt war und nun der Staatsanwalt in der Verhandlung den Zeugen allerhand Vorhaltungen aus jenem Polizeiprotokoll gegenüber den Aussagen machte, die sie als Zeugen eidlich vor Gericht abgaben.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Es ist in dem Moabit-Prozess gegen dieses Verfahren bereits mit aller Schärfe Einspruch erhoben worden. Man hat später Mittel und Wege gefunden, um die Staatsanwaltschaft zu hindern, in dieser Weise vorzugehen. Ich möchte aber den Herrn Justizminister bitten, dass er seine Ansicht auch hier dahin kundgibt, dass ein solches Verfahren mindestens dem Geiste der Strafprozessordnung durchaus widerspricht.

Meine Herren, dann möchte ich auf eine, wie mir scheint, recht bedauerliche Erscheinung hinweisen, die wir in der letzten Zeit recht häufig haben beobachten müssen; es handelt sich um die Art, wie bei der Vernehmung von Beamten verfahren zu werden pflegt, besonders wenn es sich dabei um Beamte der Polizei, um Beamte der Kriminalpolizei handelt und wenn die zu erörternden Fragen solche sind, die in das Dunkel unseres Polizeiwesens, besonders der politischen Polizei, hineinzuleuchten geeignet sind. Da hat sich bei uns mehr und mehr die Praxis herausgebildet, dass die Staatsanwaltschaft mit aller Schärfe und mit allen ihr irgendwie formal zu Gebote stehenden Mitteln auf die Zeugen einzuwirken sucht, dass sie ihr Zeugnis verweigern, mindestens in der Form, dass sie sie in eindringlicher Weise auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht und auf ihre Zeugnisverweigerungspflicht hinweist. Meine Herren, unsere Strafprozessordnung schreibt nirgends vor, in dem Paragraphen 53 insbesondere nicht, dass die beamteten Zeugen auf ihr Recht zur Amtsverschwiegenheit hingewiesen werden. Es ist allerdings vom Reichsgericht als dem Ermessen des Gerichts unterworfen bezeichnet worden, ob das Gericht die Zeugen auf ihre Amtsverschwiegenheit hinweisen will. Aber dass die Staatsanwaltschaft in dieser Beharrlichkeit wie gerade im Wedding-Prozess2, im Moabit-Prozess usw. sich bemüht zu verhindern, dass diese Zeugen vielleicht ein Wörtlein aussagen könnten, das der Polizei unangenehm sein könnte, will mir absolut nicht behagen und entspricht meiner Meinung nach nicht den Amtspflichten der Staatsanwaltschaft;

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

dazu ist die Staatsanwaltschaft als objektivste Behörde nicht da. Sie mag das den Zeugen, wie das ja nach dem Gesetz unzweifelhaft zunächst ihre Sache ist, selbst überlassen, wieweit sie von der Amtsverschwiegenheit Gebrauch machen, und im Übrigen mag sie es dem Gericht überlassen, ob es vielleicht Anregungen in dieser Richtung geben will. Es macht zweifellos den Eindruck, als ob die Staatsanwaltschaft, die sich als die objektivste Behörde ausgibt, vielfach ein lebhaftes Interesse an einer Verschleierung der Wahrheit hat,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

die ihr natürlich nicht Selbstzweck ist, durchaus nicht, aber an einer Verschleierung der Wahrheit, die sie im Interesse der ihr höher als die Wahrheit stehenden Autorität der Polizei vornimmt, und das ist es, was meiner Ansicht nach als eine ernste Erscheinung von uns gewürdigt und kritisiert werden muss.

Dann möchte ich mich auch noch mit einem Wort zu dem vor wenigen Tagen erledigten Essener Prozess3 wenden, aber nur in Bezug auf einen Punkt. Die Staatsanwälte in dem ersten Prozess aus dem Jahre 1895 haben damals nichts davon erwähnt, dass der Hauptzeuge, der alleinige Zeuge, darf ich sagen, der Anklage, der damalige Gendarm Munter, sich bereits schwerer amtlicher Verfehlungen schuldig gemacht hatte

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

und dass er als ein gewalttätiger Mensch bereits damals bekannt war

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

und auch weiterhin als ein Mensch bekannt war, der ein durchaus liederliches, unsolides Leben führte, als ein Mensch, dem man in keiner Weise trauen konnte. Der Erste Staatsanwalt und der Staatsanwalt haben damals hiervon nichts verlauten lassen. Ich möchte wissen, ob der Erste Staatsanwalt und der Staatsanwalt aus jenem ersten Prozess diese Tatsachen, die von dem jetzigen Gericht in Essen als von ausschlaggebender Bedeutung bestätigt worden sind, bereits gekannt haben und ob sie sie trotz Kenntnis damals nicht zum Gegenstande der Verhandlung gemacht haben. Es ist Ihnen ja bekannt, wie die Staatsanwälte damals aufgetreten sind, wie sie sich nicht gescheut haben, die Politik in einer Weise in den Gerichtssaal hinein zu zerren und an die Klassenvorurteile der Geschworenen in ihren Plädoyers zu appellieren, die die Empfindung der breiten Masse der Bevölkerung in der Tat auf das Unerhörteste verletzen musste.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Diese beiden Staatsanwälte, die sich damals in einer geradezu zügellosen Weise ihren politischen Stimmungen hingegeben haben, die sich nicht gescheut haben, obwohl sie das „Ehrenkleid der Staatsanwaltschaft" trugen, sich zu den Trägern einer einseitigen politischen Gehässigkeit im Gerichtssaal zu machen,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

haben es sich zu einem großen Teil mit zuzuschreiben, wenn heute in den weitesten Kreisen der Bevölkerung dieses hochgradige Misstrauen zu unserer preußischen Justiz besteht, das immer und immer wieder aus unseren Worten und aus allen Kundgebungen der Sozialdemokratischen Partei hervor tönt.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Es ist ja erfreulich, dass wir diesen Staatsanwälten jetzt einen Staatsanwalt gegenüberstellen können, der in außerordentlich anerkennenswerter Weise die begangenen Sünden preisgegeben und versucht hat, dasjenige wiedergutzumachen, was damals gesündigt worden ist. Aber das kann doch nicht so ganz ununtersucht bleiben, ob die Herren Vertreter der Staatsanwaltschaft damals bereits orientiert waren über das Wesen Münters.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Und wenn der Herr Justizminister Veranlassung genommen hat, den Herrn Landgerichtsdirektor Unger zur Verantwortung zu ziehen – wenn auch in der vorsichtigsten Form, einen richterlichen Beamten zur Verantwortung zu ziehen wegen jener richterlich-amtlichen Wendung über die Grenzen der Notwehr –, wenn der Herr Justizminister das für angezeigt gehalten hat, in dieser Weise gegen einen richterlichen Beamten vorzugehen, so glaube ich ein gutes Recht zu haben, als selbstverständlich zu erwarten, dass er diesen viel krasseren Fall, den Fall der Staatsanwälte in Essen, jetzt einmal unter die Lupe nimmt und jene Herren hört. Und jene Herren darf der Herr Justizminister hören, denn sie sind Justizverwaltungsbeamte, die ad nutum sind. Also hier kann der Herr Justizminister, hier darf der Herr Justizminister eintreten, hier ist es die Pflicht des Herrn Justizministers einzutreten, und wir erwarten, dass der Herr Justizminister seine Pflicht tun wird.4

(„Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

II

Es ist mir unbegreiflich, wie der Herr Justizminister das Verfahren billigen kann, das der Staatsanwalt im Moabiter Prozess eingeschlagen hat. Es handelt sich nicht mehr um das Stadium des Ermittlungsverfahrens, der Voruntersuchung; das Hauptverfahren ist eröffnet gewesen, die Hauptverhandlung war längst im Gange, und nun benennt die Verteidigung im Verlauf dieses Verfahrens Zeugen. Die Staatsanwaltschaft hat in solchem Fall die Pflicht abzuwarten, bis die Zeugen vor der Instanz, die in diesem Stadium dazu berufen ist, vor dem Gericht gehört werden. Statt dessen beruft sie die Zeugen zur Polizei und vernimmt sie, bevor sie richterlich vernommen werden können, noch einmal, um sie auf diese Weise festzulegen und so schließlich irgendwelches Kapital für die Anklage herauszuschlagen. Dass das zum Mindesten dem Geist unsrer Strafprozessordnung auf das schroffste widerspricht, sollte doch in der Tat unstreitig sein. Es ist für mich ein Zeichen, auf welcher Höhe die Auffassung unsrer Justizverwaltung über das Wesen unsrer Justiz steht, dass hier der Herr Justizminister nicht das zarteste Wörtchen der Missbilligung über dies Verfahren zustande gebracht hat, vielmehr sich zu einer ausdrücklichen Billigung dieses Verfahrens verstanden hat. Ich bedaure das aufs Allerlebhafteste nicht von unserem Standpunkt aus, sondern vom Standpunkt der Justizverwaltung aus.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Es ist ja doch für uns eine Sache, über die wir nicht mehr diskutieren, wie die Vernehmung des Herrn Dr. Unger aufzufassen ist. Wenn der höchste Aufsichtsbeamte, der in vieler Beziehung das Wohl und Wehe des Richters in der Hand hat, einen Richter in einer solchen Situation wie hier vernimmt, dann ist es eben ein Zur-Verantwortung-ziehen; und der Herr Justizminister hätte sicherlich die Auffassung, dass unser Richterstand von der Verwaltung unabhängig sei, viel eher stützen können, wenn er auf alle diese Anzapfungen, auch hier in diesem Hause, erklärt hätte: Meine Herren, für mich ist der amtierende Richter tabu; ich als Aufsichtsorgan habe kein Recht, irgendwie gegen den Richter, soweit er als judizierender Richter auftritt, einzuschreiten, und muss es als einen Versuch, mich zu einer pflichtwidrigen Handlung zu nötigen, auffassen, wenn Sie von mir erwarten, dass ich in dieser Beziehung gegen diesen amtierenden Richter einschreiten soll. So hätte gesprochen werden müssen, wenn die Unabhängigkeit der Richter bei uns Wahrheit wäre.

Nun aber noch eins! Der Herr Minister hat gemeint, es könne von einem politischen Übergriff der Staatsanwaltschaft im ersten Essener Prozess keine Rede sein! Ja, meine Herren, soll ich Sie an die Worte erinnern, die der Erste Staatsanwalt Peterson am 17. August 1895 in dem Essener Meineidsprozess zu den Geschworenen gesprochen hat? Er sagte:

In jenem Blatte hat jene Sozialdemokratie ihren Mund gefunden, welche ihre Ziele darin findet, die zwischen Besitz und Nichtbesitz bestehende Kluft zu erweitern, sie zu einem unüberbrückbaren Abgrunde zu gestalten, auf dessen einer Seite die Sozialdemokraten stehen, die mit Hass und Verachtung auf diejenigen blicken, die sich jenseits der Kluft befinden. Denken Sie, meine Herren Geschworenen, an so manchen Streik!

Wenn Sie, meine Herren, sich das alles vergegenwärtigen, dann werden Sie einsehen, dass Parteihass und Parteileidenschaft zu Verbrechen führen können. Diese Leute, die Angeklagten, predigen: Proletarier aller Länder, vereinigt euch! Aus diesem Grunde heraus sind die Meineide entstanden, die hier vor Ihren Augen erörtert worden sind.

Ich bitte Sie, meine Herren, die Frage nach wissentlichem Meineid zu bejahen."

Ich meine, wenn in dieser Weise an die Klasseninstinkte der zum Richteramt berufenen Geschworenen appelliert wird, so ist das eine Pflichtwidrigkeit der Staatsanwaltschaft.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Und dass ich in meiner Kritik dieser Art der Amtsausübung nicht zu weit gehe, dafür habe ich sehr gute Eideshelfer. Dafür habe ich das Zeugnis des Vorsitzenden des gegenwärtigen Schwurgerichts in Essen und ebenso das Zeugnis des gegenwärtig amtierenden Staatsanwalts. Beide Herren haben – und das möchte ich auch Herrn Dr. Röchling sagen – auch ihrerseits das Wort Klassenjustiz fallen lassen und haben davon gesprochen, dass dieses erste Urteil unter dem Einfluss dessen, was man wohl als Klassenjustiz zu bezeichnen pflegt, gestanden habe. Ich glaube, das dürfte genügen, um den Herrn Justizminister zu einem Einschreiten in der von mir geforderten Richtung zu veranlassen. Der Herr Justizminister hat bisher darauf überhaupt gar keine Antwort gegeben, ob er geneigt ist zu untersuchen, inwieweit die Vertreter der Staatsanwaltschaft im ersten Essener Prozess über die persönliche Qualifikation jenes Munter bereits unterrichtet waren und inwieweit sie es dennoch trotz ihrer Kenntnis mit ihrer Amtspflicht für vereinbar gehalten haben, nichts davon in der Verhandlung vorzubringen

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

und damit zu einer Verschleierung der Wahrheit in den wesentlichsten Punkten beizutragen, das Urteil der Geschworenen in eine ganz schiefe Richtung zu lenken, und das Gegenteil von Gerechtigkeitspflege zu üben. Hier heißt es: hic Rhodus, hic salta! Hier mag der Herr Justizminister zeigen, ob ihm wirklich daran gelegen ist, mindestens den schlimmsten Auswüchsen der Klassenjustiz vorzubeugen.

(„Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

III5

Präsident v. Kröcher: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Liebknecht.

Dr. Liebknecht, Abgeordneter (Soz.-Dem.): Meine Herren, ich danke dem Herrn Vorredner6 für den Standpunkt, den er hier eingenommen hat, einen Standpunkt, der allerdings jede genügende spezielle Sachkunde über das vermissen lässt, wovon ich gesprochen habe.

(„Sehr wahr!“ bei den Sozialdemokraten)

Es ist bekannt, meine Herren, dass das, was dem Münter vorgeworfen worden ist, nicht etwa bis dahin verborgen gewesen ist, niemandem bekannt war, sondern die Verfehlungen, insbesondere seine Amtsverfehlungen, sind ja durch seine Vorgesetzten überall bekannt gewesen.

(„Sehr wahr!“ bei den Sozialdemokraten)

Die Spatzen haben es von den Dächern gepfiffen, dass das ein lügnerischer, ein streitlustiger Mensch war. Es ist ja nicht einer seiner Kollegen und Vorgesetzten hervorgetreten, der ein günstiges Urteil über ihn abzugeben vermocht hätte. Es handelt sich also hier um Verfehlungen, die nicht verborgen und verschwiegen und erst jetzt in neuester Zeit an das Tageslicht gekommen wären, sondern um Verfehlungen, die damals bereits vor aller Augen offen lagen, die überhaupt sehen wollten, vor aller Augen, insbesondere innerhalb der Beamtenschaft, deren Mitglied der Herr Münter gewesen ist. Meine Herren, da möchte ich doch zunächst einmal betonen: Wenn der Herr Staatsanwalt Dr. Mantel, der jetzt noch am Leben ist, seinerseits sich hier nichts hätte zu schulden kommen lassen, dann hätten sich mindestens die Vorgesetzten Münters schwere Vergehen zuschulden kommen lassen,

(„Sehr wahr!“ bei den Sozialdemokraten)

indem sie nicht dazu beigetragen haben, wie es ihre Amtspflicht gewesen wäre, als Munter vernommen würde, dafür Sorge zu tragen, dass diese ernsten Dinge, die nicht in das Gebiet des Klatsches gehörten, an der richtigen Stelle bekannt wurden. Es würde also auf alle Fälle, wie ihm sei, immer eine Staatliche Behörde sein, die ihre Pflicht versäumt hätte.

Aber, meine Herren, auch die Staatsanwaltschaft kann nicht in dieser Weise verteidigt werden, wie der Herr Vorredner es versucht hat. Die Staatsanwaltschaft hat ja doch nur allzu sehr die Neigung, wenn es sich um wesentliche Entlastungszeugen in politischen Dingen handelt, dem Vorleben dieser Zeugen nachzugehen, es nach aller Möglichkeit in den Prozessen auszunutzen. Gerade die Handlung, von der ich vorher sprach, die Vorvernehmung der Zeugen im Moabiter Prozess, kennzeichnet den Standpunkt der Staatsanwaltschaft in dieser Beziehung deutlich genug. Es ist bekannt, Wie in Fällen dieser Art die Staatsanwaltschaft Gewicht darauf gelegt, rechtzeitig genug Kenntnis von den Zeugen zu bekommen, um Erhebungen über die Zeugen anzustellen. Wenn die Staatsanwaltschaft nun unterlassen haben sollte, irgendeine Erhebung zu veranstalten gerade in Bezug auf den Zeugen Münter, dann wäre gerade diese Unterlassung ein Beweis ihrer unsäglichen Einseitigkeit,

(„sehr richtig!“ bei den Sozialdemokraten)

die mit Schuld wäre an dem bösartigen Ergebnis, das damals gezeitigt worden ist. Und wenn, meine Herren, nun angesichts dieser Umstände, angesichts dieses offensichtlichen Zusammenbruchs der Anklage, angesichts der Tatsache, dass jene Anklage aus dem Jahre 1895 jetzt vom Gericht und der Staatsanwaltschaft in dem neuen Prozess so vollkommen und vorbehaltlos preisgegeben worden ist – wenn wir angesichts solcher Umstände, und nachdem das Wort von der politischen Justiz von autoritativer Stelle in diesem Prozess selbst gefallen ist, wenn wir eine Untersuchung über diesen mindestens höchst verwunderlichen Punkt verlangen, dann muss ich auf das Allerschärfste dagegen protestieren, dass sich der Herr Abgeordnete Haarmann hier hinstellt und einen Standpunkt einnimmt, als ob die Beamten so über jede Kritik und jeden Verdacht erhaben seien, dass es geradezu Majestätsbeleidigung oder Gotteslästerung sei, wenn man es wagt, eine solche Vermutung, ein solches Bedenken auszusprechen, wie ich es ausgesprochen habe. Wir urteilen noch nicht; ich habe nur gesagt, der Herr Justizminister möge untersuchen, und so gut, wie er im Fall Unger hat untersuchen können, wo er nicht hätte untersuchen dürfen, hätte er hier zu untersuchen. Es handelt sich um keinen Pappenstiel. Wenn Herr Haarmann gesagt hat, wir weisen diese Beschuldigung zurück, weil diese Richter nicht beschuldigt werden können, weil sie als Ehrenmänner vor aller Welt dastehen – ja, Herr Abgeordneter Haarmann, auch Schröder, auch Meyer und auch die anderen Essener Verurteilten, die Zuchthausstrafen von vielen Jahren abgesessen haben, auch sie waren Ehhrenmänner genau so gut wie irgendein Staatsanwalt oder irgendein Richter;

(„sehr gut!“ bei den Sozialdemokraten)

und sie sind Ehrenmänner geblieben, sie sind es heute noch. Heute kommt es nicht mehr darauf an, dass wir über die Frage, ob jene Männer, die im Zuchthaus gesessen haben, Ehrenmänner sind, entscheiden, sondern auf die Frage, ob diese Qualifikation als Ehrenmänner den Vertretern der Staatsanwaltschaft noch beigelegt werden kann, die – wenn unser Verdacht im geringsten begründet ist – in diesem Prozess ihre Amtspflicht auf das allerschwerste vernachlässigt haben.

(„Bravo!“ bei den Sozialdemokraten)

IV

Präsident v. Kröcher: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Liebknecht.

(Unruhe rechts)

Dr. Liebknecht, Abgeordneter (Soz.-Dem.): Meine Herren, ob vornehm oder nicht – in Ihre (nach rechts und zu den Nationalliberalen) Hände gebe ich das Urteil darüber nicht. Meiner Ansicht nach ist es die vornehmste Pflicht, hier mit aller Schärfe auf diejenigen Punkte in der Rechtspflege hinzuweisen, die einer Remedur bedürfen, und alle Schäden unserer Justiz mit voller Klarheit zu beleuchten. Das ist unsere Pflicht und unsere Vornehmheit. Und wenn mir dabei diesen oder jenen Beamten –

(Rufe rechts: „Vornehmheit?!“)

die Erfüllung der Pflicht ist unsere Vornehmheit. Ich weiß ja, was Sie (nach rechts) unter Vornehmheit verstehen, vor allen Dingen: die Aufrechterhaltung der Solidarität innerhalb der Bürokratie; Sie verstehen unter Vornehmheit die Durchführung jenes Grundsatzes, den das Sprichwort, der Volksmund, so fasst: Eine Krähe hackt der anderen die Augen nicht aus.

(„Sehr gut!“ bei den Sozialdemokraten)

Meine Herren, wenn der Herr Vorredner gemeint hat, dass das Ergebnis des neuen Prozesses nur darauf zurückzuführen sei, dass jetzt die Beweisaufnahme verdunkelt worden sei im Gegensatz zu früher infolge der langen inzwischen verflossenen Zeit, so betone ich demgegenüber, meine Herren: zunächst einmal waren die Protokolle über die Vernehmungen der Zeugen aus dem ersten Prozess fast alle vorhanden,

(„sehr richtig!“ bei den Sozialdemokraten)

und diese Protokolle sind den Zeugen vorgehalten worden. Es sind ihnen vorgehalten worden nicht nur die Protokolle aus der letzten Hauptverhandlung, sondern die Protokolle über alle möglichen polizeilichen Vernehmungen, über alle möglichen staatsanwaltlichen Vernehmungen usw.,

(„hört, hört!“ bei den Sozialdemokraten)

und, meine Herren, erst auf Grund aller dieser einzelnen Vorhaltungen hat sich das heutige Bild der Zeugenaussagen gestattet.

(„Sehr richtig!“ bei den Sozialdemokraten)

Es ist den Geschworenen mit einem Nachdruck, der sicherlich nichts zu wünschen übrig ließ, klargestellt, gezeigt worden, was die Zeugen früher gesagt haben, und daraus haben sich die Geschworenen als verständige Menschen natürlich ihren Vers selbst machen können Es ist also durchaus nicht wahr, dass in dieser Beziehung die neue Beweisaufnahme etwas Wesentliches hätte vermissen lassen. Der Unterschied zwischen der diesmaligen Beweisaufnahme und der Beweis aufnähme beim ersten Mal bestand nur darin, dass das Bild des Zeugen Münter dieses Mal ein anderes gewesen ist als früher.

(„Sehr wahr!“ bei den Sozialdemokraten)

Ob nun der Zeuge Munter es fertig gebracht hätte, durch eine besonders geschickte Art des Auftretens irgendjemand zu kaptivieren oder über den Löffel zu balbieren, das dürfte uns vom Standpunkt einer objektiven Justiz aus wenig interessieren. Nachdem die Beweise erbracht worden waren über das ganze Wesen seines Charakters, da konnte dieser Mann bei urteilsfähigen Personen auftreten, wie er wollte, er hätte keinen Glauben mehr gefunden.

(„Sehr richtig!“ bei den Sozialdemokraten)

Und das ist der Standpunkt gewesen, den ich – und ich nicht allein – eingenommen habe, es ist, wie gesagt, auch der Standpunkt gewesen, den der Vorsitzende im Schwurgerichtsprozess eingenommen hat, soweit es ihm überhaupt möglich war, seiner Meinung Ausdruck zu geben, das ist auch der Standpunkt gewesen, den die Staatsanwaltschaft diesmal eingenommen hat, das war der Standpunkt auch der Vorgesetzten und Kameraden Münters.

(„Hört, hört!“ bei den Sozialdemokraten)

Das dürfte doch wahrhaftig genügen.

Aber noch ein Wort: immer und immer wieder ist in der jetzigen Beweisaufnahme zutage getreten, dass damals von der Staatsanwaltschaft und Polizei – vielleicht auch von richterlicher Seite, das weiß ich nicht – Protokolle aufgenommen sind von den Zeugen, die auch diesmal vernommen worden sind, und auch von den Angeklagten, Protokolle, die nicht genehmigt worden sind,

(„hört, hört!“ bei den Sozialdemokraten)

die also von den Betreffenden ausdrücklich in ihrer Fassung bemängelt worden sind,

(„hört, hört!“)

ein Beweis dafür, wie man damals schon in den Vorstadien der Untersuchung offenbar in einer einseitigen, von den Angeklagten und auch von den Zeugen deutlich als solche empfundenen Weise aufgetreten ist. Meine Herren, wenn wir hier auf diese Einzelheiten hinweisen, darauf hinweisen. Welche Bedenken und Bezichtigungen gegen Münter schon 1895 in der Luft geschwebt haben, wie diese Bedenken von seinen Vorgesetzten als gerechtfertigt empfunden wurden, wie sie notwendig auch in seinen Personalakten einen Niederschlag gefunden haben müssen, wie es heute die allergeringsten Schwierigkeiten gemacht hat heute, nach 15 Jahren – festzustellen, wes Geistes Kind Münter damals gewesen ist,

(„hört, hört!“ bei den Sozialdemokraten) dann kann ich nicht begreifen, weshalb es nicht vor 15 Jahren bereits der Staatsanwaltschaft bei der nötigen Aufmerksamkeit möglich gewesen sein soll, zu ermitteln, was für ein Mann damals Münter gewesen ist. Und wenn ich diese offensichtlich unverständliche Tatsache hiermit hervorhebe, hervorhebe, wie die Verfehlungen Münters – wie ich nochmals betone nicht geheim, sondern ganz öffentlich begangen worden sind, mindestens allen seinen Vorgesetzten bekannt waren, dann, meine Herren, habe ich, glaube ich, genügend Gründe beigebracht für meinen Wunsch, für mein Verlangen an den Herrn Justizminister, dass er einmal untersucht, wie es denn damals möglich war, dass vor 15 Jahren von alledem der Staatsanwaltschaft entweder kein Sterbenswörtlein bekannt war oder jedenfalls nichts davon von der Staatsanwaltschaft in den Verhandlungen erwähnt worden ist. Wenn die Staatsanwaltschaft einen plausiblen Grund dafür beizubringen weiß, weshalb sie davon nichts gewusst hat und trotz pflichtmäßiger Aufmerksamkeit nichts davon hat wissen können, dann à la bonheur, dann fallen unsere Bedenken ins Wasser. Aber dass wir eine Untersuchung fordern, zu fordern berechtigt sind, dass wir verpflichtet sind, sie zu fordern, gerade darüber, glaube ich, kann ein Bedenken gar nicht obwalten. Wenn sich herausstellt, dass die Staatsanwaltschaft doch etwas gewusst hat oder hat wissen müssen, dann ergeben sich daraus die allerernstesten Konsequenzen für die Stellung, die die Justizverwaltung gegenüber diesen Beamten einzunehmen haben wird.

(„Sehr richtig!“ bei den Sozialdemokraten)

Meine Herren, Wir wollen uns doch wahrlich nicht verhehlen, dass es ein gutes Recht aller preußischen Staatsbürger, unteres ganzen preußischen Volkes ist, Rechenschaft darüber zu fordern, wie es möglich ist, dass auf Grund der Aussage eines damals in weitesten Kreisen bereits als ganz gewissenlos und suspekt bekannten Mannes doch eine Verurteilung von 6 oder 7 Ehrenmännern stattfinden konnte, eine Verurteilung zu den schwersten Strafen, eine Verurteilung, die ja auch zur Verbüßung der Strafen geführt hat, eine Verurteilung, die jetzt als ein Fehlspruch anerkannt ist, eine Verurteilung, die unserer Justiz den allerschwersten Schaden getan hat.

(„Sehr richtig!“ bei den Sozialdemokraten)

Meine Herren, der Herr Justizminister hat es bisher noch nicht für nötig gehalten, ein Wort darüber zu äußern, ob er sich für verpflichtet hält, in der Richtung, die ich angedeutet habe, vorzugehen, zu untersuchen, ob die Staatsanwaltschaft – so formuliere ich es noch einmal – und wodurch es eventuell möglich war, dass die Staatsanwaltschaft von jenen Vorgängen aus dem Vorleben des Münter keine Kenntnis gehabt hat und jedenfalls von allen diesen Vorgängen zur Hauptverhandlung, wo diese Vorgänge pflichtgemäß mitzuteilen gewesen wären, keinerlei Mitteilung gemacht hat. Hier hat der Herr Justizminister eine Amtspflicht zu erfüllen, deren Erfüllung wir auf das Allerdringendste von ihm fordern und deren Erfüllung Wir immer wieder fordern werden, mit allem Nachdruck, hier und in der Öffentlichkeit, bis Sie sehen werden, dass Sie dieser Untersuchung nicht länger werden aus dem Wege gehen können.

(„Bravo!“ bei den Sozialdemokraten – Abgeordneter Hoffmann: „Und der Herr Minister schweigt!“)

1 Im September 1910 streikten die Arbeiter der Firma Kupfer & Co., einer dem Stinnes-Konzern angeschlossenen Kohlengroßhandlung in Berlin-Moabit. Als Streikbrecher des Streikbrechervermittlers Hintze, geschützt durch die Polizei, provokatorisch auftraten, kam es zu blutigen Zusammenstößen zwischen der Polizei und der Bevölkerung. Die brutal vorgehende Polizei tötete zwei und verwundete zahlreiche Personen. In zwei großen Prozessen – vom 9. November 1910 bis 11. Januar 1911 vor einer Berliner Strafkammer und vom 9. bis 23. Januar 1911 vor dem Schwurgericht des Berliner Landgerichts I – wurde gegen 18 Angeklagte verhandelt, von denen 14 insgesamt 67 ½ Monate Gefängnis erhielten. Der Rest wurde freigesprochen.

2 Am 29. Oktober 1910 begann in der Fleisch- und Wurstfabrik Morgenstern (Berlin-Wedding) ein Streik gegen die als Maßregelung erfolgte Entlassung von zwei gewerkschaftlich organisierten Arbeitern. Als die Polizei provokatorisch eingriff, kam es zu Zusammenstößen zwischen der Polizei und der Bevölkerung. Zahlreiche Personen wurden verhaftet. In einem Prozess vor der 4. Strafkammer des Berliner Landgerichts III (16. bis 25. Januar 1911) wurden 18 Personen wegen Aufruhr, Auflauf, Landfriedensbruch, Beleidigung, Bedrohung und Widerstand gegen die Staatsgewalt angeklagt. Karl Liebknecht war einer der Verteidiger. Obwohl es der Verteidigung durch eine ausführliche Beweiserhebung (§ 244 StPO) gelang, das provokatorische Vorgehen der Polizei als wesentliche Ursache der Straßenkämpfe nachzuweisen, wurden acht Angeklagte zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen und die Mehrzahl der übrigen zu einem Monat Gefängnis verurteilt. Nur ein Angeklagter wurde freigesprochen.

3 In einer Versammlung des Gewerkvereins christlicher Bergarbeiter am 3. Februar 1895 in Baukau bei Herne wurde der Bergarbeiter Schröder von dem Gendarmen Munter niedergeschlagen. Im Prozess (Juni 1895) gegen den Redakteur Margraf von der „Deutschen Berg- und Hüttenarbeiter-Zeitung", der über diesen Vorfall berichtete, wurden Schröder und seine Zeugen wegen „dringenden Verdachts wissentlichen Meineids" im Gerichtssaal verhaftet und unter Anklage gestellt. In dem am 14. August 1895 beginnenden Meineidsprozess vor dem Essener Schwurgericht wurden Schröder und sechs weitere Angeklagte zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt. Wiederholte Versuche des Verteidigers, das Verfahren wieder aufzunehmen, führten erst im März 1910, gestützt auf das gegen Munter im Jahre 1908 angestrengte Disziplinarverfahren, zum Freispruch und zur Zubilligung einer Entschädigung für die unschuldig Bestraften.

4 Justizminister Dr. Beseler bestritt in seiner kurzen Entgegnung die Berechtigung aller von Karl Liebknecht vorgebrachten Kritiken. Die Red.

5Fehlt in den „Reden und Schriften“

6Der nationalliberale Abgeordnete Haarmann (Altona)

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