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Karl Liebknecht 19120326 Beten und Schießen

Karl Liebknecht: Beten und Schießen

Aus der Rede im preußischen Abgeordnetenhaus zur Jugendpflege in Preußen 1911

[Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, V. Session 1912/13, 3. Bd., Berlin 1912, Sp. 3568-3609. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 5, S. 171-230]

Meine Herren, Herr Abgeordneter von Goßler hat gemeint, die Bedeutung der staatlichen Jugendpflege charakterisiere sich einmal in den Zahlen der Denkschrift, etwas mehr in der Zustimmung, die diese Pflege im Lande gefunden habe, und am meisten in dem Widerspruch, der von sozialdemokratischer Seite gegen diese Jugendpflege erhoben worden sei.

Ich will mich zunächst einmal etwas mit der Denkschrift und ihrem Wesen befassen. Diese Denkschrift führt allerhand Zahlen auf, die doch wohl zu einem guten Teil Potemkinsche Dörfer darstellen. Wenn zum Beispiel von der großen Zahl von ausgebildeten Jugendpflegern die Rede ist – ausgebildet mögen sie sein, aber dass sie nun wirklich alle geeignete Kräfte wären, um das Ziel zu erreichen, das sich die staatliche Jugendpflege gestellt hat, das ist sicherlich ausgeschlossen. So rapide geht das nicht mit der Ausbildung derartiger Lehrkräfte, wie das hier in der kurzen Zeit geschehen sein soll. Im Übrigen liegt ja die Sache so, dass die Aufgabe, die in dieser Jugendpflege erfüllt werden soll, eine sehr schwierige ist, dass sie nicht weniger schwierig ist als die Quadratur des Zirkels. Infolgedessen bedarf man naturgemäß, wenn man sich überhaupt der Illusion einer Lösbarkeit der Aufgabe hingibt, einer ganz besonders gründlichen Durchbildung. Die Zahlen sind Potemkinsche Dörfer.

Das beweist unter anderem auch der Herr Recke, der in seiner Schrift über die Pflege der Schulentlassenen darauf hinwies, wie verwirrend die Zahlen sind insofern, als die Mitglieder der einzelnen Organisationen, die von der staatlichen Jugendpflege erfasst sein sollen, vielfach identisch sind, dass sie doppelt, dreifach und mehrfach gezählt werden. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Was im Übrigen diese Jugendausschüsse anlangt, die geschaffen worden sind und auf die Sie jetzt so ungeheuer stolz sind, dass Sie beinahe platzen vor Selbstgefühl, so hat dafür eine Äußerung, die auf der Jugendkonferenz der Zentralstelle für Volkswohlfahrt in Elberfeld im Jahre 1911 fiel, einen recht charakteristischen Beleg gegeben. Dort hat der Fortbildungsschuldirektor Sirks aus Schleswig, als auf die Schwierigkeit hingewiesen wurde, derartige Jugendausschüsse zu bilden, folgendes erklärt;

Ja, meine Herren, Sie sprechen so viel von den Jugendausschüssen und von den Schwierigkeiten, sie zu bilden. Ich habe das sehr einfach gemacht; ich habe ein paar Magistratssekretäre zusammengetrommelt und ein paar Lehrer, und fertig war der Jugendausschuss."

Ich glaube, nach dem Rezept ist recht oft gearbeitet worden. Dass dem so ist, dafür kann ich mich auf die Autorität desselben Herrn berufen, den der Herr Kollege Schepp erwähnt hat, nämlich des Bürgermeisters Weinreich aus Neukölln. In dem Vortrag, den er am Sonnabend im Herrenhause gehalten hat, sprach er auch davon, dass von denjenigen, die sich der Jugendpflege als Jugendpfleger widmen, wohl ein recht großer Teil dabei nach oben schiele. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Ich bin fest überzeugt, das gilt in sehr weitem Umfange.

Sehr bemerkenswert ist, wie das Geld verwendet worden ist. Zunächst ist uns in diesem Hause berichtet worden – es war wohl der Abgeordnete Kesternich – von einem Kreise, in dem das ganze Geld dazu benutzt wurde, um ein großes Kreisturn- und Kreisspielfest zu inszenieren. Da ist man versucht, auf jenes bekannte Wort zu kommen: Der Graf von Luxemburg hat all sein Geld verjuxt, an einem Tag verjuxt.

Sehr charakteristisch ist aber auch ein anderer Fall, der drüben im Herrenhause erzählt wurde von einem Jugendausschuss, der sich ad hoc bildete, um Geld zu bekommen, und, nachdem das Geld empfangen und schleunigst verausgabt war, sich sofort wieder aufgelöst hat. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Es sind doch manche Seifenblasen unter allem dem, was in der Denkschrift zusammengestellt ist.

Sehr interessant für die Art, wie die Jugendpflege gehandhabt wird, ist eine Vorlage, die der Charlottenburger Stadtverordnetenversammlung am 29. Februar 1912 unterbreitet worden ist. Danach hat sich der Regierungspräsident bereit erklärt, in Charlottenburg Aufwendungen für die Jugendpflege zu machen. Dabei ist in Betreff der Verwaltung der Jugendpflege ein ganz eigentümlicher Wunsch von ihm zum Ausdruck gebracht worden. In erster Linie wollte er die Verwaltung der Jugendpflege ausschließlich in seinen Händen behalten. Schließlich hat er aber eine gewisse Konzession gemacht, nämlich die, dass zwar der Jugendpfleger von ihm, dem Regierungspräsidenten, ernannt wird und als sein Beauftragter anzusehen ist, dass aber die Aufsicht über die Zentralstelle dem Vorsitzenden des Hauptausschusses, also einer Kommunalinstanz, gemeinsam mit dem Referenten des Regierungspräsidenten übertragen werden soll. Aber die Entscheidung bei Meinungsverschiedenheiten bleibt wiederum dem Regierungspräsidenten vorbehalten. Also, der Regierungspräsident gestattet ja gütigst, dass auch der Vorsitzende des Ausschusses ein klein wenig mit herumleitet, aber im Augenblick, wo Meinungsverschiedenheiten entstehen, ist er der allein Entscheidende, und der Pfleger ist von vornherein als sein Beauftragter anzusehen. Das ist eine societas leonina, eine Löwengesellschaft, die der Regierungspräsident vorschlägt, und das wirft ein sehr bezeichnendes Licht auf die Verwirklichung der angeblich erstrebten Beseitigung des bürokratischen Zopfes innerhalb der Jugendbewegung. Das ist ein urdicker bürokratischer Zopf, der in diesem Wunsch des Regierungspräsidenten zum Ausdruck kommt. Ich bin fest überzeugt, dass dieser Zopf nicht der einzige Zopf ist, den es auf dem Gebiet der Jugendpflege noch gibt. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Im Übrigen ist es für uns, die wir Sie überhaupt mit stillem Vergnügen an der Jugendpflege zu unserer Vernichtung arbeiten sehen, recht vergnüglich zu beobachten, wie Sie unter sich selbst nicht einig sind. Da wird von Seiten der Zentrumsorganisationen und der konfessionellen Organisationen überhaupt mit allem Nachdruck die Prävalenz der Kirche auf diesem Gebiet betont, und dann tritt im Gegensatz dazu der durch seine Partei und seine Beziehungen immerhin recht einflussreiche Herr von Kardorff auf und betont energisch, dass die Kirche ihre Schuldigkeit bisher nicht getan habe. In allererster Linie müssten interkonfessionelle Organisationen geschaffen werden, schon weil durch die konfessionellen Organisationen die große Masse des Volkes nicht erfasst werden könne wegen der weitgehenden Abkehr von der Kirche.

Dass aber der Kampf der verschiedenen Organisationen recht eigentümlich gekennzeichnet wird durch die Art, wie über die Verteilung der Geldmittel gezankt wird, dafür haben wir auf der erwähnten Konferenz in Elberfeld die köstlichsten Erfahrungen gemacht. Es war kein geringerer als der Oberbürgermeister Cuno aus Hagen, der erklärte, dass auf das Lebhafteste zu bedauern sei, wie sich die verschiedenen Organisationen um den besten Platz an der Futterkrippe herum zanken, und der schließlich in den Stoßseufzer ausbrach, diese Million1 würde der Sozialdemokratie noch viel ausgezeichnetes Agitationsmaterial schaffen. Es lässt sich nicht bestreiten, dass dieser Zank um die staatliche Subvention einen wenig angenehmen Charakter angenommen hat und dass dadurch ganz allein bereits sich dieses ganze treibhausartige Heraufpäppeln der staatlichen Jugendpflege als eine moralisch sehr minderwertige Erscheinung kennzeichnet.

Im Übrigen, welche Art Jugendpflege unter dem Einfluss der staatlichen Subvention entsteht, dafür liefert die „Deutsche Tageszeitung" vom 2. März 1912 einen Beleg. Da ist die Rede von ländlicher Wohlfahrtspflege „aus dem praktischen Leben", durch die die Dorfjugend von der Frau von Schwerin zum Patriotismus und all den großartigen Eigenschaften erzogen wird, die Sie in Ihrem Interesse so gern in der Jugend des Volkes erhalten möchten. Da werden allerhand Deklamationen von Matthias Claudius usw. vorgeführt, alles Dinge, die als ganz besonders geeignet erscheinen, die „Liebe zur Heimat" zu stärken. Dann kam auch ein fremder Gast, der Herr Pastor Schlegelmilch, der eine Vortragsreise durch Pommern begonnen hatte; der sprach dort vor der Dorfjugend, den Kindern der Tagelöhner und Landarbeiter vom „Segen der Heimatscholle" und von dem „Fluch der Heimatlosigkeit" und natürlich auch von der Berliner Stadtmission. Es war ein „wirklich erhebender Abend", wenn man den Worten der „Deutschen Tageszeitung" Glauben schenken darf.

Ja, meine Herren, es ist doch ganz eigentümlich, da vom „Fluch der Heimatlosigkeit" und vom „Segen der Heimatscholle" vor Leuten zu sprechen, die durch Ihre Wirtschaftsordnung in die Heimatlosigkeit hinausgetrieben werden und den Segen der Heimatscholle nicht genießen können, weil Sie eine Heimatscholle nicht besitzen, weil sie sie niemals besitzen können. (Zuruf.) – Wagen Sie nicht, zu widersprechen. Ich erinnere Sie nur an jene bekannten Arbeitsverträge, jene Tagelöhnerverträge, die gegenwärtig in Preußen noch Gang und Gäbe sind, und in denen sich die Bestimmung findet, dass, sofern Kinder über 14 oder 15 Jahren vorhanden sind, die nicht auf dem Gutshof arbeiten, die Eltern verpflichtet sind, sie aus dem Hause, aus der Heimat hinaus zu jagen. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Diese Bestimmungen finden sich noch überall, weil die Gutsherrschaften das Recht zu haben glauben, dass auch die Kinder ihrer Tagelöhner bei ihnen in den Frondienst eintreten.

Im Übrigen ist es ja außerordentlich lustig zu sehen, wie unter dem Einfluss der staatlichen Subvention, gefördert durch den Goldregen, der von oben herunter strömt, Geistlichkeit und Militär und alles mögliche sich zusammengefunden hat. Sehr lustig ist es, wie da zu großen Kriegsspielen ausgezogen wird und der Pastor dazu seinen Segen erteilt. („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.) Der christliche Pastor erteilt seinen Segen, und dann geht man einmal in das kleine Kirchlein hinein und betet. Dann geht es wieder durch Wald und Feld, und hierauf wird wiederum Kriegsspiel getrieben – „frisch, fromm, fröhlich, frei"2, christlich, nach dem Gebot der Nächstenliebe. Ach Gott, um alles in der Welt! Die Geschichte ist ja so lächerlich, dass im Ernst über diese Dinge wahrhaftig nicht geredet werden kann.

Es wird auch den Kindern möglichst eifrig das Schießen beigebracht, das Schießen außer dem Beten. Ja, meine Herren, mit dem Schießenlernen ist es doch etwas gefährlich. Haben Sie nicht vielleicht doch ein bisschen Angst davor, die Kinder des Proletariats das Schießen zu lehren? Ich empfehle Ihrem ängstlichen Gemüt doch die Erwägung, ob es nicht vielleicht besser ist, andere Mittel anzuwenden. Im Übrigen, das Beten und das Schießen, es passt ausgezeichnet zusammen. (Zuruf bei den Sozialdemokraten: „Echt christlich!") In dem Sinne, in dem hier die Religion praktiziert zu werden pflegt, ist es genau dasselbe; denn die ganze Art, wie von Ihnen die „Religion" gehandhabt wird, ist im Grunde doch nichts weiter als eine Vergewaltigung, genauso wie der Krieg und andere menschliche Gewalttätigkeiten. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich habe hier in meinen Händen wiederum die „Deutsche Tageszeitung" vom 2. März 1912. Da wird von einem sozialdemokratischen Schießklub berichtet, der sich in Dresden befinden soll. Es wird von der „Deutschen Tageszeitung" gerügt, dass die Sozialdemokraten auch Schießklubs hätten, und es wird angedeutet, dass das doch eigentlich eine große Gefahr bedeute; es sei von Interesse zu erfahren, ob viele solche sozialdemokratischen Vereine bestehen. Hiermit soll offenbar die Regierung, die Polizei gegen die große Gefahr der sozialdemokratischen Schießklubs mobilisiert werden.

Meine Herren, von dem „großzügigen" Essener Kriegsspiel, über das sich selbst Herr Hackenberg vorhin begeistert hat, braucht ja nicht viel gesprochen zu werden, obwohl es sehr charakteristisch ist für die ganze Art, in der die Jugendpflege gehandhabt wird. Da wird mit 5000 Kindern hinausgezogen, dann wird eifrig geschossen und alles mögliche getan in Hurrapatriotismus, und nachdem sich die Jugend genügend begeistert hat an dem Gefühl, Menschenleben vernichtet oder wenigstens nachgeahmt zu haben, wie man Menschenleben vernichten, Menschen hinschlachten kann („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.), dann ist das religiöse Gefühl erst zu allerhöchster Weihe entwickelt. Ach Gott, diese Sorte Christentum – wahrhaftig, meine Herren!

Im Übrigen darf man wohl noch darauf hinweisen: Es war kein anderer als der Generalleutnant z. D. v. Reichenau, der sich bereits 1910 im „Tag" gegen unsere deutschen Scouts3 und das Soldatchenspielen wandte. Er hat selbst von seinem militärischen Standpunkte aus mit recht scharfen Worten dagegen protestiert, dass man die Jugend in dieser soldatischen Kinderei aufwachsen lasse. Im Übrigen geben wir anheim, durch diese soldatischen Kindereien unseren Militarismus weiter lächerlich zu machen.

Wer betreibt Jugendpflege?

Meine Herren, wer macht nun diese staatliche Jugendpflege? Da wird geredet vom Zusammenwirken staatlicher und Gemeindebehörden, von geistlichen und kirchlichen Behörden, von vaterländisch gesinnten Vereinen aller Art, von Privatpersonen der verschiedensten Stände, von Gewerbe-, Medizinal-, Schul- und Gewerbeschulräten und anderen geeigneten Beamten. Drüben im Herrenhause haben wir am Sonnabend viel gehört von den ausgezeichneten Leistungen der Ärzte und der Rechtsanwälte auf diesem Gebiete, die galten als besonders geeignete Personen. Dann, meine Herren, ist die Rede davon, dass auch die von anderen Verwaltungen geschaffenen Einrichtungen nutzbar gemacht werden sollten, namentlich die staatlichen Betriebsverwaltungen, die Bergverwaltung, die Eisenbahn usw. sowie Einrichtungen, die in Verbindung mit Fortbildungsschulen, bereits vorhanden sind. Da kommen also die Herren Lehrer, die Herren Pastoren, die Herren Landräte, die spielen die große Geige, und hinterher auch noch – nach dem bekannten Liede –: Und dann der Herre Leutnant, der Leutnant, der Leutnant, Und dann der Herre Leutnant, der drückt der ganzen Geschichte schließlich den Stempel auf: Donnerwetter, tadellos!

Also, meine Herren, der Herr Leutnant zusammen mit dem Herrn Pastor und mit den. Landräten und ich weiß nicht, was alles noch, die sollen nun die große Arbeit leisten, die Jugend des Proletariats zu versöhnen mit der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung! („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.) In der Tat, meine Herren, ein ungetrübteres Vergnügen können Sie uns nicht bereiten, wenn Sie auf diesem Wege fortfahren. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Und wenn da einer der Herren gemeint hat, das Echo der Sozialdemokratie beweise, wie ernst die Sozialdemokratie diese Sache nehme – ach, da sind Sie schief gewickelt. Sie können durch solche Aktionen nur zu unserem Vorteil wirken und sich selber lächerlich machen. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Nun, meine Herren, ist ja heute schon mit recht viel gekünsteltem und gesalbtem Pathos gesprochen worden über die hohen idealen Zwecke und Motive, aus denen heraus diese Jugendpflege unternommen werde. In den, Debatten vom Sonnabend besonders donnerte und dröhnte es ja geradezu von Königstreue und Vaterlandsliebe, Gottesfurcht und all den schönen Sachen. Da hat uns Herr Heckenroth erzählt: „Freiheit und Freundschaft, Natur und Kunst, Graben im Schacht der Wissenschaft und Ausbildung technischer Fertigkeiten, die werden Verständnis und Pflege finden." Und da hat er den „hohen, echten Idealismus" gepriesen, von dem die Bestrebungen des Herrn Ministers getragen seien.

Meine Herren, dann wird wieder gesprochen von dem wagemutigen Idealismus, von dem großen Wagemut, mit dem der Herr Minister seine Tätigkeit in dieser Beziehung inszeniert habe. Es heißt: „Wir wollen nicht politisch tätig sein"; „vaterländischer Geist auf dem Boden unseres Staatswesens", „Treue zu Kaiser und Reich und König" und „nehmen Sie die Dinge, wie sie dastehen, lesen Sie nicht zwischen den Zeilen", „national", „patriotisch" und was es da noch alles an schönen Worten gibt: „religiös-sittliche Erziehung" – meine Herren, es hängt einem zum Halse heraus. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Es sollte Ihnen zum Halse heraushängen, immer und immer wieder mit diesem falschen Pathos über solche Dinge zu reden und anzuhören, wie über sie mit solchem falschen Pathos geredet wird („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.), wie eben in der Rede des Herrn, Kultusministers, die ein Musterstück war von komödiantenhafter – (Große Unruhe rechts und im Zentrum. Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident Dr. Krause-Königsberg: Herr Abgeordneter Liebknecht, es ist nicht Ihr Recht, persönlich zu verunglimpfen. Ich rufe Sie zur Ordnung.

Liebknecht: Meine Herren, nach dem Erlass des Herrn Kultusministers ist besonderes Gewicht darauf gelegt, dass vor allen Dingen nicht vergessen werde, die Rechte der Eltern an ihren Kindern zu respektieren. Das ist ein Wort, das auch der Herr Abgeordnete Kesternich sich im vergangenen Jahre erlaubt hat. Und, meine Herren, in dem Erlass des Herrn Kultusministers wird wiederholt darauf hingewiesen, wie notwendig es sei, dass zusammengearbeitet werde mit dem Haus, mit der Familie, mit den Eltern.

Meine Herren, in Wahrheit erstreben Sie ja ganz bewusst etwas ganz anderes. Soweit die Familie, die Eltern auf dem politischen Boden stehen, den Sie für den richtigen halten – und der Herr Kultusminister, insoweit denken Sie gar nicht daran, ernstliche Jugendpflege zu treiben; Ihre Neigung zur Jugendpflege entwickelt sich gerade dort, wo Sie der Überzeugung sind, dass die Eltern die Jugend anders erziehen als Sie wünschen. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Und da wollen Sie sich dann zwischen die Eltern und Kinder drängen und wollen Unfrieden in die Familien hinein säen, Sie wollen den Eltern die Seelen ihrer Kinder rauben, das ist das Ziel, das in ganz bewusster, überlegter Weise von Ihnen verfolgt wird. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten. Lachen im Zentrum.) Meine Herren, Sie wissen, dass ich die Wahrheit sage, und wenn Sie wagen, darüber zu lachen, dann stellen Sie sich selbst das allertraurigste Zeugnis aus.

Die Haltung des Zentrums

Meine Herren, es ist sicherlich ein besonders charakteristisches Zeichen, wie das Zentrum sich jetzt gegenüber der Jugendpflege verhält. Meine Herren, es ist ein Schauspiel für Götter, jetzt diese Herren reden zu hören, singen und sagen zu hören von ihrem Patriotismus, von ihrer Königstreue und ihrer Vaterlandsliebe. Es ist etwas allzu lärmend und allzu geschäftig, wie Sie diese Worte immer wieder im Munde führen. Man glaubt diesen triefenden Zentrumspatrioten nicht. Ich bin fest überzeugt, dass die Worte, mit denen der Herr Abgeordnete Kesternich vorgestern geschlossen hat: „Mit Gott für König und Vaterland!", „man würde sie stets auf Ihrer Seite finden" usw. – ich zweifle nicht, dass diese Worte von Ihnen selbst mit einem Augurenlächeln aufgenommen worden sind und dass auch bei Herrn Abgeordneten Kesternich eine kleine Mentalreservation vorhanden war, als er diese Worte aussprach.

Meine Herren, soll ich Sie an die Sünden der Zentrumspartei erinnern? Es ist recht spät, dass Sie sich zu diesem großen Patriotismus, zu der bedingungslosen Vaterlandsliebe bekehrt haben, von der Sie heute glauben machen möchten, dass Sie sie bereits mit der Muttermilch eingesogen hätten, dass sie bereits an der Wiege der Zentrumspartei gestanden hätte. Meine Herren, es ist schon wahr: „Heute gouvernemental, morgen oppositionell – so zeigt sich das Zentrum, je nachdem es sein Vorteil erheischt." („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Das ist ein Wort, das Herr Dr. Maurer vor kurzer Zeit in Düsseldorf gesprochen hat. (Abgeordneter Freiherr von Eynatten: „Dann muss es wahr sein!") – Ja, meine Herren, ich sage ja nicht, dass es deshalb wahr ist; ich sage ja nur: es ist wahr. Das weiß ja jedermann, dass es wahr ist. Meine Herren, Sie wissen es ja am allerbesten selbst. („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.) Im Jahre 1906 sah die Sache noch ein klein bisschen anders aus. Bis zum Jahre 1909 ist die große Umwälzung, die innerliche Reinigung bei Ihnen erfolgt von allen den Schlacken der Vaterlandslosigkeit. Sie waren doch einst auch vaterlandslose Gesellen („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.), sogar gefährlicher als wir. Aber heute gibt es ja keine patentierteren Patentpatrioten, als Sie es geworden sind. (Heiterkeit.) Nein, meine Herren!

Besonders lustig ist die Tatsache, wie die Herren diese ihre nationale Gesinnung begeistert preisen, während wir doch auf der anderen Seite ganz genau wissen – und Sie werden das gar nicht bestreiten –, dass Ihre eigenen Jugendorganisationen internationale Jugendorganisationen sind („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), die internationale Kongresse abhalten seit viel längerer Zeit als die Sozialdemokratie. Meine Herren, das gilt übrigens auch von den evangelischen Jünglingsbünden, auch die sind international. Im Sommer 1909 war es, dass in Elberfeld-Barmen jener große Weltkongress der evangelischen Jünglingsvereine abgehalten wurde. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) In der Stadthalle von Barmen hat er stattgefunden, meines Wissens Ende Juli 1909. Noch ausgeprägter international freilich sind die katholischen Jugendorganisationen. Meine Herren, da lese ich hier in einem Leitartikel der „Germania" vom 27. Juli 1910:

Machen wir uns doch klar, dass uns die Interessen der Kirche, wenn anders wir treue römische Katholiken sein wollen, über alle Interessen gehen müssen. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Der Kampf gegen Rom ist international, seien wir darum im gegebenen Augenblick auch international, nicht engherzig germanisch oder slawisch oder romanisch oder sonst was."

Ach, Herr Kesternich, Sie großer deutscher nationaler Patriot! (Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.) Nein, meine Herren, da lachen die Hühner, wenn Sie uns mit solchen Dingen kommen. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Heute ist das Zentrum allerdings bereits so weit gekommen, dass sich ein Herr Dr. Heß hinstellt und glaubt, einem nationalliberalen Herrn, der in sachlich einwandfreier Form gegen uns polemisiert, gegen uns Stellung genommen hat, bereits einen Vorwurf daraus machen zu können, dass der Herr überhaupt mit der Sozialdemokratie sachlich diskutiert. Und er bringt es bereits fertig zu erklären, dass kein einziger Lehrer, der jemals den Standpunkt der Trennung von Schule und Kirche eingenommen habe, jemals seines Amtes weiter walten dürfe.

Meine Herren, ich möchte sagen: Sie sind gewissermaßen Parvenüs des Patriotismus (Heiterkeit.), und deshalb sind Sie so ungeheuer eifrig und protzig in ihrem Parvenütum, viel eifriger und protziger noch als die anderen Patrioten. (Abgeordneter Hoffmann: „Patriotengigerl!") …

Nun, meine Herren, es haben sich außerordentlich viele Lehrer gemeldet, die an diesen Jugendveranstaltungen teilnehmen. Ich möchte aber den Herrn Kultusminister oder seinen Vertreter fragen, ob denn diese Lehrer sich wirklich so ganz freiwillig dieser Arbeit hingegeben haben und ob sie für diese schwere Arbeit in irgendeiner Weise entschädigt werden. Meine Herren, ich komme darauf, weil in der neuen Dienstanweisung für Kreisschulinspektoren, die von der Regierung in Köslin herausgegeben worden ist, in Paragraph 2 gesagt ist: „In dem Revisionsbericht ist besonders hervorzuheben, ob und in welchem Umfange Leibesübungen auch außerhalb der Schulzeit gepflegt werden." („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Es scheint damit eine starke Kontrolle über das Wohlverhalten der Lehrer auch auf diesem Gebiete ausgeübt zu werden, und man züchtet hier offenbar eine besondere Art der Streberei. Würde der Herr Kultusminister uns vielleicht Auskunft darüber geben, mit welchen Mitteln da gearbeitet wird, und ob den Lehrern, die materiell wahrlich nicht gerade günstig gestellt sind, wenn ihnen weitere außerordentliche Arbeitsleistungen aufgebürdet werden, irgendeine Entschädigung zuteil wird?

Meine Herren, was die sozialen Missstände anlangt, unter denen unsere Jugend gegenwärtig seufzt, und die ja sicherlich im Hintergrunde all der Erörterungen stehen, mit denen wir uns hier zu befassen haben, so sehen wir da bei Ihnen die allersonderbarsten Irrtümer und Missverständnisse.

Da sagt Herr von Kardorff: Die Beziehungen zwischen Arbeiter und Arbeitgeber werden immer unpersönlicher, und deshalb müsse der Staat einen Ersatz schaffen. Ja wodurch werden denn die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer immer unpersönlicher? Doch durch unser ganzes Wirtschaftssystem, nicht durch die Schuld einzelner Personen. Das Handwerk selbst nimmt ja mehr und mehr ab, und selbst innerhalb des Handwerks hat die Beziehung aufgehört, die früher bestand, aber nicht, weil die Jugend sie nicht haben wollte, sondern weil sie zerstampft worden ist unter dem ehernen Tritt unserer gesellschaftlichen Entwicklung.

Dann, meine Herren, bringt es der Herr Abgeordnete von Kardorff fertig zu sagen, der junge gewerbliche Arbeiter sei der freieste Mann; er sei viel freier als die Jugend der höheren Stände. Ja, um alles in der Welt, was ist das für eine Auffassung! Meine Herren, wahr ist, dass der jugendliche Arbeiter die Freiheit hat, mit dem vierzehnten Lebensjahre auf die Straße hinaus gejagt zu werden; er hat die Freiheit, mit dem vierzehnten Lebensjahre all den Versuchungen und Gefahren ausgesetzt zu werden („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), die das moderne Leben mit sich bringt; er ist vom vierzehnten Lebensjahre so frei, sich von seinem Lehrherrn prügeln und in der Fabrik ausbeuten lassen zu dürfen – eine ungeheure Freiheit, die der Arbeiter vom vierzehnten Jahre an hat! („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.) Wenn es wahr ist, dass der jugendliche Arbeiter der freieste Mann der Welt ist – nach den Worten des Herrn von Kardorff –, dann lassen Sie doch ihre Kinder freieste Männer von der Welt werden. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Warum denn nicht? Meine Herren, es ist unglaublich, von welcher Kurzsichtigkeit derartige Ausführungen getragen sind.

Der Herr Abgeordnete Kesternich hat am 14. März 1911 in seiner Rede erklärt: „Der früher das Jugendleben bestimmende Geist der Ordnung und Unterordnung ist aus weiten Volkskreisen geschwunden, und unsere heutige Jugend zeigt vielfach einen geradezu krankhaften Hang zur Selbständigkeit."

Ja, meine Herren, der krankhafte Hang zur Selbständigkeit in der arbeitenden Jugend! Ich meine: Kann überhaupt ein derartiges Wort über die Lippen eines einigermaßen nachdenkenden Menschen kommen? (Heiterkeit und „Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Wo ist denn die Freiheit dieser Leute, der Hang zur Selbständigkeit? Es ist der Hang der Wirtschaftsordnung nach jungem Menschenfleisch, der hier zum Ausdruck kommt, und nichts anderes. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Es ist das Bedürfnis unserer Kapitalisten, das Bedürfnis unserer Großgrundbesitzer nach der Jugendlichen Arbeit. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Dadurch allein werden ja doch diese Jugendlichen frühzeitig hinaus gejagt. Und es ist weiter die Tatsache, dass die Eltern der jugendlichen Arbeiter so schlecht bezahlt werden, dass sie nicht imstande sind, ihren Kindern eine länger andauernde Schulbildung zu gewähren. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Diejenigen, die hierüber zetern, möchten sich doch einmal die Frage vorlegen, wie viel Hunderttausende und Hunderttausende von Arbeitern und Arbeiterinnen, von Müttern und Vätern es gibt, die mit blutendem Herzen ihre Kinder mit dem vierzehnten Lebensjahr aus der Schule herausnehmen („Sehr richtig!"), und wie viel Arbeiterkinder es gibt, die sich in diesem Alter nur mit blutendem Herzen aus der Schule herausnehmen lassen und die um alles in der Welt gern ihre weitere Ausbildung genießen möchten, wie es den Kindern der höheren Klassen beschieden ist. Und, meine Herren, da kommt man hier mit der Redewendung vom krankhaften Hang zur Selbständigkeit. Wenn etwas krankhaft daran ist, so ist es Krankheit unserer Gesellschaftsordnung, und Sie bestätigen damit, dass unsere Auffassung zutrifft, dass diese Gesellschaft an Haupt und Gliedern reformiert werden muss. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten und im Zentrum.) – Nun ja, das wollen Sie im Zentrum aber nicht (Abgeordneter Hoffmann: „Hört! Hört!"), da sagen Sie jetzt nur im Augenblick mal ja.

Soziale Jugendpflege ist nötig

Im Übrigen ist ja keine Möglichkeit, hier auf das ganze Elend einzugehen, das die Basis bildet für all die Erscheinungen, die gelegentlich hier mit erwähnt worden sind zum Beweise der Notwendigkeit einer sozialreformerischen Jugendpflege.

Meine Herren, die Säuglingssterblichkeit bei uns ist geradezu ungeheuerlich. Deutschland steht in dieser Beziehung nur wenig hinter Russland zurück („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.), es ist nach Russland das ungünstigste Land. Es sind die entsetzlichsten Zahlen, die auch Ihnen allen wohl bekannt sein dürften. Vor kurzem sind im Reichstage von Herrn Dr. Struve einige Tabellen mitgeteilt worden, die in einer erschreckenden Weise den Grad unserer Säuglingssterblichkeit und die verschiedene Intensivierung dieser Sterblichkeit je nach der sozialen Lage der Bevölkerung in den einzelnen Teilen Deutschlands zum Ausdruck brachten. Wenn ich hier nur auf eine Zahl hinweisen darf: In Berlin – nur diese einzige Zahl will ich anführen – haben wir eine durchschnittliche Säuglingssterblichkeit von 18,1 Prozent; im Tiergartenviertel ist diese Sterblichkeit nur 5,2 Prozent, dagegen auf dem Wedding 42 Prozent („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.), das heißt also nicht weniger als achtmal größer auf dem Wedding da oben, in den Arbeiterdistrikten, als in dem reichen Tiergartenviertel!

Meine Herren, die Wohnungsnot, unter der die arbeitenden Klassen leiden, ist unzweifelhaft eine der prinzipalen Ursachen mit für vielerlei moralisches Elend, das sich in der Jugend dieser armen Schichten herausbildet. Ja, meine Herren, aber wie wollen Sie der Wohnungsfrage zu Leibe gehen? In demselben Augenblick, wo Sie dieser Frage zu Leibe gehen wollen, geschieht genau dasselbe, was in der Schulfrage geschieht: Sie müssen grundstürzende Änderungen vornehmen an unserer heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung; und Sie werden immer wieder, wenn Sie in derartige Gedankengänge kommen, schließlich gezwungen, nach den Zielen des Sozialismus hinzusteuern. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, was brauche ich Ihnen da noch viel zu sprechen von dem Familienleben, das durch die heutige Wirtschaftsordnung zerstört wird, und von den Wirkungen, die dadurch eintreten! Meine Herren, Sie sind es, es ist die herrschende Gesellschaftsordnung, die die Mütter aus dem Hause herausreißt und die Kinder ohne Fürsorge lässt. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, es sind dieselben Ursachen, die zur Kriminalität der Jugendlichen führen: sie führen auch die körperliche Schwächung der Jugendlichen, die gewaltigen Krankheitszahlen, das frühzeitige Siechtum, die großen Sterblichkeitszahlen bei dieser Jugend herbei. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Es ist das moralische Elend, es ist das körperlich-gesundheitliche Elend, die beide aus der gleichen Wurzel herauswachsen.

Da wäre es wahrlich am Platze, sich auch einmal unsere Fürsorgeerziehung etwas näher anzusehen und zu prüfen, ob sie gegenwärtig auf dem richtigen Wege ist. Leider müssen wir beobachten, dass sie eine Maßregel nahezu ausschließlich zu dem Zwecke ist, die Jugend des Proletariats unter einen sehr wenig ersprießlichen Einfluss der Staatsgewalt zu bringen. Diese Fürsorge wird bei uns ganz außerordentlich schematisch und verständnislos gehandhabt. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Darüber wird bei anderer Gelegenheit zu sprechen sein.

Die Statistik der Verwahrlosung rechtfertigt aber im Übrigen durchaus nicht die Schlussfolgerungen, die hier vielfach gezogen worden sind. Tatsache ist, dass gerade in den hochindustriellen Distrikten, in denen die Sozialdemokratie nicht herrscht – das gilt besonders von Rheinland und Westfalen, wo wir immerhin nur einen geringeren Einfluss besitzen als das Zentrum und die Nationalliberalen, und von Oberschlesien, wo die Arbeiterschaft in der Hauptsache noch der Fahne des Zentrums, der Nationalliberalen oder der Polen folgt –, die Kriminalität bei weitem höher ist als da, wo zwar genau dieselbe Hochindustrie, derselbe Hochkapitalismus herrscht, wo aber die Sozialdemokratie ihren Einfluss ausgebreitet hat. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Die Kriminalitätszahlen von Berlin und speziell von der Jugend von Berlin sind zum Beispiel weit günstiger als sogar die Zahlen von Köln, obwohl Köln doch gar nicht so überwiegend industriell ist. Aber wenn man gar die Kriminalitätszahlen von Oberschlesien und gewissen rheinisch-westfälischen Distrikten mit denen von Berlin vergleicht, dann sieht man, dass die Berliner Zahlen günstiger sind – und Berlin ist doch die rote Hauptstadt Deutschlands. Das ist die Erziehungsarbeit der Sozialdemokraten, meine Herren. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten,. Lachen rechts und im Zentrum.)

Meine Herren, ich wäre in der Lage, Ihnen gerade in dieser Beziehung eine Menge Material an Hand der kriminalstatistischen Tabellen zu unterbreiten, die vom Ministerium des Innern herausgegeben sind. Es würde aber zu weit führen, auf das Einzelne einzugehen; ich werde mir das infolgedessen, so außerordentlich leid es mir tut, auf eine andere Gelegenheit aufsparen müssen.

Interessant ist aber, dass das große Geschrei von einer Zunahme der Kriminalität der Jugendlichen durchaus nicht zutrifft. Die Kriminalität unserer Jugendlichen ist vielmehr im Allgemeinen Durchschnitt und in den einzelnen Distrikten, soweit ernstere Delikte in Frage kommen, sehr erheblich zurückgegangen. Dasselbe gilt von der Kriminalität der Jugendlichen mit Vorstrafen; diese war in der ganzen Zeit von 1892 bis zum Jahre 1907 bei weitem höher als gegenwärtig, hat also geradezu abgenommen. Im Übrigen ist es sehr wichtig festzustellen, dass die Kriminalitätszahlen der Jugendlichen vom Jahre 1889 bis zum Jahre 1909, also innerhalb von 20 Jahren, nur um 2,8 Prozent gestiegen sind. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Das ist besonders um deswillen bemerkenswert, weil bereits im Jahre 1890 die Kriminalitätszahlen um 6,8 Prozent höher waren als in dem sehr günstigen Jahre 1889; die Steigerung gegenüber dem Jahre 1889 war also im Jahre 1909 nur etwa ein Drittel so hoch als im Jahre 1890. Es ist also direkt unrichtig, wenn von einer Steigerung der Verwahrlosung, besonders von einer Steigerung der ernsteren Kriminalität der Jugendlichen gesprochen wird.

Allerdings ist das Kinderelend noch außerordentlich groß, und diejenigen, die darüber seufzen und ihr Herz in großen pathetischen Tiraden ausgießen, sollten sich doch erst einmal die Arbeiterschutzgesetze in Bezug auf den Kinderschutz ansehen und für ihre Revision Sorge tragen. Meine Herren, wir haben bisher noch kein ordentliches Kinderschutzgesetz; wir haben insbesondere noch keinerlei Schutz der auf dem Lande arbeitenden Kinder. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Da kommen Sie aber alle zusammen, auch die Herren vom Zentrum, und behaupten, die Arbeit auf dem Lande sei auch für die Kinder nützlich, sie solle um alles in der Welt nicht verboten werden. Meine Herren, diese Arbeit kann nützlich sein, wenn sie in einer kindlichen Weise ausgeübt wird, als Spiel, zum Zwecke der Schulung. Aber nicht in diesem Sinne wird die Arbeit auf dem Lande ausgeübt, gegen die wir ankämpfen, sondern es ist eine Arbeit der Ausbeutung, die in der allerbedenklichsten Weise schädigend auf die Jugend einwirkt. Darüber, dass es sich bei der Konzedierung der landwirtschaftlichen Kinderarbeit nur um eine Konzession an junkerliche Interessen handelt, kann überhaupt ein Streit gar nicht aufkommen. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Aber wenn Sie einmal sehen wollen, was das Elend der arbeitenden Kinder in Deutschland und in Berlin noch bedeutet, so lesen Sie bitte einmal durch – wenn er auch in einem sozialdemokratischen Verlage erschienen ist – den Bericht der Kinderschutzkommission der Sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaftskommission von Berlin und Umgebung für die Zeit vom Juli 1910 bis Juni 1911. Da wird Ihnen im Einzelnen gezeigt, in welchem Umfange in Berlin trotz der Kinderschutzgesetze noch die Kinderausbeutung Gang und Gäbe ist. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Da finden Sie, dass Kinder im 5. Lebensjahr in Wind und Wetter frühmorgens vor 5 Uhr zum Austragen von Frühstück, von Zeitungen und dergleichen dienen, hier in Berlin unter den Augen der Polizei. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, im fünften Lebensjahre wurden allerdings nur ein Mädchen und drei Knaben festgestellt. Es handelt sich hier aber natürlich nur um eine Enquete, die nicht alle Fälle umfasst. Aber jeder einzelne Fall dieser Art, der vorkommt, müsste Sie veranlassen, sich in ganz anderer Weise dieser Jugend anzunehmen, als es gegenwärtig der Fall ist, und ganz andere Wege zu beschreiten, als bisher von Ihnen beschritten, worden sind.

Meine Herren, 6 Jahre alt waren 8 Knaben und 5 Mädchen, 7 Jahre alt 27 Knaben und 23 Mädchen. Die Mehrzahl der Kinder steht im Alter von 8 bis 13 Jahren, also in dem zartesten Alter. Und ich appelliere an jeden, der Kinder hat oder der Kinder gehabt hat und sich der Zeit noch entsinnen kann, wo sie noch in diesem Alter standen: Was würden Sie dazu sagen, wenn Kinder aus den höheren Ständen in dieser Weise ausgebeutet würden? Denn diese gewerbliche Arbeit findet statt neben der Schularbeit, und abgesehen davon, dass diese Kinder naturgemäß, wenn sie nach Hause kommen, auch noch nicht ruhen können; sie müssen der Mutter noch im Haushalt helfen. Da gibt es, abgesehen von einer kärglichen Nachtruhe, Tag und Nacht keine Rast für diese Kinder.

Meine Herren, 8 Jahre alt sind 23 Mädchen und 112 Knaben, 9 Jahre alt 88 Mädchen und 175 Knaben, 10 Jahre alt 163 Mädchen und 293 Knaben. Und so geht es weiter: im 12. Jahre waren 269 Mädchen und 566 Knaben, im 13. Jahre 302 Mädchen und 612 Knaben. Im 14. Lebensjahre nimmt es bereits wieder ab, ein Beweis dafür, dass gerade das jugendliche Alter zu dieser Ausbeutung anreizt.

Meine Herren, diese Zahlen reden geradezu eine vernichtende Sprache gegen unsere heutige Gesellschaftsordnung und gegen ihr Pflichtgefühl auch in Bezug auf die heranwachsende Generation.

Meine Herren, die bürgerliche Jugend ist besser versorgt, sowohl zu Hause als auch in der Schule. Es wird hier darüber gehöhnt, wenn wir die Aufwendungen für die Volksschule und die Aufwendungen für die höheren Schulen vergleichen. Sie betrachten es eben als ganz selbstverständlich, dass für die höheren Schulen, höhere Beträge aufgewendet werden; Sie betrachten es auch als selbstverständlich, dass für die Töchter höherer Stände besondere Heimathäuser und dergleichen schöne Dinge eingerichtet werden. Und trotzdem, meine Herren, meine ich, dass die Verwahrlosung in der bürgerlichen Jugend, allerdings unter anderen Anreizen, am Ende doch eine recht erhebliche ist.

Dann und wann, meine Herren, liest man ja in den Zeitungen entrüstete Artikel über die Tauentzienstraßengirls und dergleichen Dinge; man hört allerlei ganz wunderbare Erzählungen über die Sittlichkeit in der Jugend unserer höheren Stände, trotz der fürsorglichen Eltern. Eine Dolly Pincus kommt allerdings nicht in Fürsorgeerziehung, obgleich sie es recht gründlich verdient hätte. Das ist etwas, was nur den Kindern der ärmeren Bevölkerung passiert.

Staatliche „Jugendpflege" gegen antimilitaristische Erziehung

Meine Herren, was unsere staatliche Jugendfürsorge, die mit so vielem Tantam und Hurra eingeleitet ist, in Wirklichkeit will, darüber brauchen wir uns wahrlich nicht lange den Kopf zu zerbrechen; die Geschichte beweist es auf das Deutlichste.

Zunächst einmal, meine Herren, sehen wir ja seit jeher, wie sich die herrschenden Klassen bereits um die Jugend des Proletariats, allerdings in einer sehr eigentümlichen Weise, gekümmert haben. Man hat in der Schule seit jeher alle Kraft darauf verwendet, um – abgesehen von der Verbreitung des notwendigen Wissens – vor allen Dingen auch Charakter und Gesinnung in Ihrem Sinne zu erziehen.

Das Militär gilt als eine Schule, die dem Hurrapatriotismus und dergleichen Dingen, vor allem der Bekämpfung der Sozialdemokratie, dienen soll. Unser Militär, unsere Volksschule sollen paritätische, politisch indifferente Institute sein? Das glaubt ja doch keiner; Sie wissen alle, dass es anders ist. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Es sind in der Tat Institute, die in ganz überlegter Weise von unserem Staat, unter Billigung der herrschenden Klassen, zur Herbeiführung einer bestimmten politischen Gesinnung geleitet werden.

Und dann sind ja seit jeher auch christliche, konfessionelle Organisationen an der Arbeit, um für die schulentlassene Jugend noch ein Übriges zu tun, soweit die Fortbildungsschule nicht bereits dazu dient.

Auch die Jugendwehren, meine Herren, sind bei uns in Deutschland schon recht alt; sie sind nicht etwa erst in den letzten Jahren, als die Scouts eingeführt wurden, bei uns begründet worden. Ich habe die Trommelschlägerei und die Soldatenspielerei schon in den 90er Jahren im Berliner Grunewald gesehen. Das ist natürlich alles in der festen, planmäßigen Absicht geschehen, die Jugend des Proletariats für Sie einzufangen und festzuhalten. Besonders die christlichen, die konfessionellen Organisationen sind uralt. Die katholischen Organisationen, können schon auf ein jahrhundertelanges Bestehen zurückblicken, und die evangelischen Organisationen sind auch schon manches Menschenalter alt. Diese Organisationen also, die durchaus keinen neutralen Charakter tragen, stehen am Beginne der Jugendpflege der herrschenden Klassen als ausgeprägte Klasseninstrumente („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) zur Hemmung des sich entwickelnden Selbstbewusstseins der unteren Schichten des Volkes, des Proletariats. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, wenn jetzt Herr von Goßler sagt: Die staatliche Jugendpflege der schulentlassenen Jugend ist nicht eine der wichtigsten, sondern die wichtigste Frage der Gegenwart – ja, meine Herren, diese Erkenntnis ist dem Staat allerdings reichlich spät gekommen.

Wie der Staat dazu gekommen ist, außer in der Schule, durch das Militär und die anderen Dinge, von denen ich eben sprach, und die er duldete und förderte, noch in dieser speziellen Weise Volldampf hinter die Jugendpflege zu machen, das ist in der „Militärisch-politischen Korrespondenz" dokumentarisch niedergelegt. Dort wird erklärt, dass den Anstoß zu diesem Vorgehen die Heeresverwaltung gegeben hat, und zwar mit Rücksicht auf die Klagen über die moralische Qualifikation des Rekrutenmaterials. Meine Herren, diese moralische Qualifikation des Rekrutenmaterials ist sicherlich nicht schlechter, als sie früher gewesen ist. Was hiermit gemeint ist, liegt klar auf der Hand: Es ist die „Durchseuchung" des Rekrutenmaterials mit dem sozialdemokratischen Gifte. Wir sind ja der Ansicht, dass dadurch erst eine wirkliche moralische Qualifikation erzeugt wird („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten. Lachen rechts und im Zentrum.); im Gegensatz zu Ihnen! Nun, meine Herren, darüber werden wir uns natürlich nicht einigen können.

Interessant ist, wie radikale Forderungen für die Jugendpflege aus diesen militärischen Gründen heraus entwickelt werden. Von militärischer Seite wird die obligatorische Fortbildungsschule bis mindestens zum achtzehnten Lebensjahre gefordert. Also die obligatorische Fortbildungsschule als eine Forderung des Militarismus, aus seinen innersten Lebensbedürfnissen heraus, das ist von außerordentlichem Interesse! („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, der Kampf gegen die sozialdemokratischen Jugendorganisationen, den dann der frühere Herr Minister Delbrück, der Herr Kultusminister und der Herr Minister des Innern in den verschiedenen Erlassen, deren Daten ich hier nicht anzuführen brauche, unternommen haben, zeigt aufs Deutlichste, wo die Wurzeln der Begeisterung für die Jugendpflege liegen: nicht in einer wirklichen idealen Sorge um die Jugend an und für sich, sondern in der Sorge um Ihre Herrschaft.

Lehrreich ist, dass es vor kurzem, im Februar dieses Jahres, auch der Deutsche Landwirtschaftsrat für nötig befunden hat, sich mit der „sozialdemokratischen" Jugendbewegung zu befassen. Dort wies der Landrat von Klitzing auf die gewaltigen Leistungen hin, die jetzt in der Richtung vollbracht würden: Es habe sich ein Arbeitsausschuss gebildet, der zur Herausgabe eines „gewaltigen deutschen Buches" geschritten sei, „Für Haus und Schule" benannt. Unter der Mitarbeit von fünfzig der hervorragendsten Personen soll dieses Buch herausgegeben werden. Es soll 800 Seiten umfassen, meine Herren! Mit einem solchen Wälzer denkt man die sozialdemokratische Jugendbewegung totschlagen zu können. Das wichtigste ist aber, dass am Schluss der Graf Rantzau-Rastorf erklärt, das ganze Übel, das jetzt zu dieser staatlichen Jugendpflege Veranlassung gebe, bestehe in dem groben Fehler und in der logischen Inkonsequenz, die dadurch begangen worden seien, dass man der Sozialdemokratie in einem Staate, dessen Umsturz ihr Ziel ist, staatsbürgerliche Rechte gegeben habe, insbesondere das aktive und passive Wahlrecht. („Hört! Hört!" und Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, es gibt in der Tat gewisse Leute, die nicht alle werden, eine solche Vogel-Strauß-Politik zu treiben! Warum benutzen Sie nicht das einfache Mittel: Beseitigen Sie das Wahlrecht, und die Sozialdemokratie ist verschwunden! (Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.) Dann ist sie doch offenbar nach der Auffassung des Herrn Grafen Rantzau weggeblasen! Die politische Naivität, die darin zum Ausdruck kommt – um nicht ein anderes Wort zu gebrauchen –, kann wahrhaftig Mitleid erregen. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, in der Tat ist die Ursache dieser plötzlichen rage d'amour für die Jugend des Proletariats, die sich in dem Staate bei den herrschenden Parteien zeigt, die Angst vor der Sozialdemokratie („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.); das wird immer und immer wieder betont in den Schriften, die von Ihren Leuten herausgegeben werden. Zuletzt ist es die Broschüre des Herrn Martin Jäger, eines Pfarrers in, Frankfurt am Main, über die neuen Bestrebungen zur Pflege der männlichen Jugend, in der der Herr ausdrücklich darauf hinweist, dass diese staatliche Jugendpflege durch die Sozialdemokratie veranlasst worden sei.

Ja, Sie müssen verschiedenes auseinanderhalten. Richtig ist, dass die kirchlichen Organisationen, die Staatsschule, das Militär schon früher gegen die Jugend ausgenutzt worden sind („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) zur Bekämpfung einer wirklich freien geistigen und moralischen Entwicklung der Jugend. Das ist schon, alles gewesen, bevor die sozialdemokratische Bewegung kam.

Aber jetzt ist etwas Neues eingetreten, jetzt sucht der Staat unter Ausnutzung der Formen, die die sozialdemokratische Jugendbewegung geschaffen hat, unter scheinbarer Annäherung an diese Bestrebungen, der sozialdemokratischen Jugendbewegung den Wind abzufangen. Das ist das Neue an der Sache.

Neu ist auch etwas anderes: eine gewisse Einsicht in die sozialen Schäden, die unsere Jugend treffen. Diese Erkenntnis mag schon theoretisch hier und da bei einem ein klein bisschen statistisch veranlagten Mitglied Ihrer Parteien vorhanden gewesen sein; aber der Gedanke, hier einzugreifen oder wenigstens mit einem größeren Brimborium den Anschein zu erwecken, als ob etwas gemacht werden sollte, ist erst hervorgerufen worden durch die sogenannte sozialdemokratische, die freie proletarische Jugendbewegung. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Es ist kein Zweifel, dass das große Feuer, das plötzlich entzündet worden ist – ich weiß nicht, wer davon gesprochen, hat, ich glaube, es war der Herr Kultusminister; er hat allerdings genug Öl vergossen, so dass das Feuer etwas aufflammen konnte –, entzündet worden ist an dem revolutionären Feuer der Sozialdemokratie („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.); es ist insofern Feuer von unserem Feuer, wenn es auch sehr eigentümlich abgewandelt worden ist.

Die Ziele, die Sie verfolgen, sind, wie wir bereits wiederholt betont haben, das Proletariat und seine Jugend bequem zu machen zur wirtschaftlichen Ausbeutung, zur Erduldung der politischen Rechtlosigkeit und zur Ausbildung als Kräfte, die Sie ausnutzen können gegen das sich aufbäumende, unruhige Proletariat; und auch dazu, dass sie Ihnen im Kriegsfall bequeme Werkzeuge sind („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), damit sie Ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen auf dem Schlachtfelde verfechten. So ist es denn ganz klar, weshalb von Ihrer Seite das große Geschrei inszeniert wird, sobald Sie denken: Jetzt geht's dem Militarismus und den militaristischen Drillgesinnungen an den Kragen.

In der Tat ist es ein reines Heulen und Zähneklappern, das sich in unsern herrschenden Klassen gezeigt hat, als sie sich der großen Gefahr plötzlich bewusst wurden, die sich in der sogenannten sozialdemokratischen Jugendbewegung entwickelte. Aber es ist ein großer Irrtum, wenn Sie meinen, dass es die sozialdemokratische Jugendbewegung sei, die den Antimilitarismus geschaffen habe. Es ist doch Tatsache, dass die Sozialdemokratie vom ersten Tage ihres Bestehens an eine prinzipielle Gegnerin des Militarismus und des militaristischen Systems gewesen ist („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) und dass sie dieses militaristische System mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln vom Tage ihrer Geburt an bekämpft hat.

Die politische Aufklärungs- und Erziehungsarbeit der Sozialdemokratie, die Erziehung des Volkes zum Selbstbewusstsein, zum Willen zur Selbstregierung allein hat es bereits dazu gebracht, dass ein Militär den Schmerzensschrei ausstieß, jetzt sei unser Rekrutenmaterial schon zu einem Drittel, zur Hälfte und bald würde es zu einem noch größeren Teil rot sein. Das war alles längst erfolgt, ehe der sogenannte Antimilitarismus in die Jugendbewegung hineingetragen worden ist.

Im Übrigen ist vor kurzem wieder von einem Fräulein Elise von Hopffgarten, der Gemeindeschullehrerin Kain und dann von einer Gemeindeschullehrerin Genrich bei der Zusammenkunft, die von dem Jugendpflegeausschuss des Berliner Lehrervereins und des Vereins Berliner Volksschullehrerinnen abgehalten worden war, ganz deutlich zum Ausdruck gebracht worden, welcherlei Ziele und Zwecke diese staatliche Jugendfürsorge verfolgt. Da heißt es: Die Kinder müssten zur Vaterlandstreue und Gottesfurcht erzogen werden, der Staat müsste sich gegen die Untergrabung seiner Autorität wehren. Das sei die Hauptsache bei dieser Jugendbewegung. Schließlich ist dann allerdings der Lehrer Rose auf den richtigen Gedanken gekommen. Er sagte: „Unsere Einwirkung auf die Jugend allein kann schließlich doch nichts nutzen; es wird uns nichts übrig bleiben, als auch die Eltern an uns zu fesseln." Ja, das ist das Richtige, Sie müssen eben auch die Eltern an sich fesseln, denn die Jugend allein den Eltern entreißen, das geht nicht. Aber die Eltern an sich fesseln, dafür haben Sie ja schon ein einfaches Rezept: Bekämpfen Sie die Sozialdemokratie, vernichten Sie die Sozialdemokratie! Also vernichten Sie die Sozialdemokratie, und Sie werden Ihre Jugendbewegung, wie Sie sie möchten, am allerbesten gefördert haben.

Dass diese Anschauungen über die Gründe Ihres Vorgehens die richtigen sind, das hat ja auch Herr von Goßler in recht unverblümter Weise zum Ausdruck gebracht, und auch der Herr Kultusminister machte ja im Grunde genommen gar kein Hehl daraus. Herr von Goßler erklärte: Auch wenn diese sogenannte sozialistische Bewegung nicht politisch wäre, würde man schließlich genötigt gewesen sein, staatliche Jugendpflege einzurichten. Mir ist das außerordentlich zweifelhaft. Ich meine, der Staat würde – um ein Wort des Herrn Kerschensteiner zu wiederholen – in der Beziehung noch lange geschlafen haben, und alle Parteien würden noch lange geschlafen haben, wenn sie nicht unsanft auf gerüttelt worden wären durch die sogenannte freie Jugendbewegung, das sogenannte Proletariat. Aber unzweifelhaft ist, meine Herren, dass Sie auch aus sich selbst heraus, aus dem Bedürfnis der Aufrechterhaltung der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung, abgesehen von dem Kampfe gegen die Sozialdemokratie, ein Bedürfnis nach Jugendpflege haben müssen. Einmal ist es das Bedürfnis, das Volk gesund und kräftig zu erhalten im Interesse der Wehrkraft, die Sie nötig haben, um Ihren Staat aufrechtzuerhalten. Und dann ist es das Interesse daran, dass auch ein Arbeiterstamm bleibt, der schließlich, je gesünder er ist, um so bessere Leistungen für Sie vollbringen kann.

Unzweifelhaft werden Sie, wenn die Ausbeutung, die gesundheitliche Depravierung des Volkes einen gewissen Grad überschritten hat, durch Ihr persönlichstes Interesse an der Aufrechterhaltung Ihrer Staats- und Gesellschaftsordnung genötigt, eine gewisse soziale Fürsorge einzuleiten; aber es hätte noch lange Wege gehabt, ehe Sie dazu übergegangen wären, wenn Sie nicht aufgerüttelt worden wären durch die Posaunenstöße der sozialdemokratischen Jugendbewegung, die Ihnen und der herrschenden Gesellschaftsordnung vorgekommen sein mögen, wie die Posaunen des jüngsten Gerichts; denn sonst könnte man es sich gar nicht vorstellen, wie alles so schreckhaft aufgefahren ist und wie nun sofort in der intensivsten Weise die staatliche Jugendpflege eingeleitet worden ist.

Im Grunde genommen ist ja dieses Erschrecken vor der sozialdemokratischen Jugendbewegung nur ein Erschrecken vor Ihren eigenen Sünden; denn die sozialdemokratische Jugendbewegung ist nichts weiter als eine Reaktion gegen die Sünden der heutigen Gesellschaftsordnung, wie ja die ganze sozialdemokratische Bewegung nichts anderes ist als eine Reaktion gegen die Schäden der heutigen Gesellschaftsordnung.

Wenn der Herr Kultusminister gesagt hat – und auch Herr Dr. Schepp hat ihm darin beigestimmt –, dass es unrichtig sei, aus der bisherigen Ausschließung der Mädchen von dieser Jugendfürsorge zu folgern, dass man mit dieser Jugendbewegung nur politische Zwecke verfolgt habe, so können alle die Argumente, die hierfür vorgebracht worden sind, nicht im Allergeringsten verschlagen. Tatsache ist, dass die Jugendpflege zum Kampf gegen die sozialdemokratische Jugend inszeniert worden ist und dass sie sich damit deutlich als eine Maßnahme gekennzeichnet hat, die in erster Linie konsequent auf die männliche Jugend gerichtet sein musste.

Und was ist es denn, was der Herr Kultusminister heute zur Rechtfertigung der staatlichen Jugendfürsorge insbesondere angeführt hat? Er hat auf den angeblich antimilitaristischen Geist in den sozialistischen Jugendorganisationen zurückgegriffen. Das ist doch ein schlagender Beweis dafür, dass es sich bei dieser Jugendbewegung darum handelt, einerseits die Wähler, die Sie zu Ihrem Leidwesen brauchen, möglichst in Ihrem Sinne zu drillen und zu erziehen und andererseits einen Anti-Antimilitarismus zu betreiben, der natürlich zuerst konsequent bei den Männern begonnen wird.

Richtig ist aber, dass Sie in weiterem Sinne auch ein Interesse daran haben, auch die Mädchen möglichst zu beeinflussen, weil diese als Erzieherinnen und als Mütter auch für Sie wichtig sind. Aber ich verweise darauf, dass in diesen ganzen Debatten, soweit es sich um die weibliche Jugend handelt, noch nicht ein Wort über das traurigste Kapitel der Verwahrlosung unserer Jugend, besonders der Jugend der unteren Schichten der Bevölkerung, gefallen ist. Es ist noch nicht ein Wort gesprochen von der Kinderprostitution, von der weiblichen Prostitution, die in dem Backfischalter und schon früher einsetzt. Haben Sie die Zahlen noch im Gedächtnis, die ich mir bei der Beratung des Justizetats Ihnen zu unterbreiten gestattet habe? Hier ist das traurigste Kapitel von allen. Wenn hier wirklich aus sozialen Gesichtspunkten, die Sie uns vortäuschen wollen, vorgegangen würde, dann hätte die Fürsorge für die weibliche Jugend nicht um einen Tag hinter der Fürsorge für die männliche Jugend zurückbleiben dürfen. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Also, meine Herren, Sie mögen sich drehen und wenden, wie Sie wollen, es ist bewiesen und festgestellt, dass Ihr plötzlicher Opfermut und alle Aufwendungen nur ein Angstprodukt und nicht aus irgendwelchen anerkennenswerten, idealen Beweggründen entstanden sind, sondern aus dem ganz außerordentlich wenig moralischen Beweggründe, Mittel zur Aufrechterhaltung Ihrer Macht und zur Aufrechterhaltung aller derjenigen politischen und sozialen Schäden zu schaffen, deren Bekämpfung die Sozialdemokratie zu ihrer Lebensaufgabe gemacht hat. Weshalb ist denn, wenn es sich darum handelt, die Jugend stark und frisch zu machen für die Wehrkraft und für das Vaterland, unsere Regierung bis zum heutigen Tage noch nicht daran gegangen, etwas in der allerbrennendsten und wichtigsten Frage, der Frage des Mutterschutzes, des Kinderschutzes, des Säuglingsschutzes zu tun? („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Da mussten wir Sozialdemokraten jetzt einen Antrag stellen, der allerdings nicht bei diesem Etat, sondern erst beim Etat des Ministeriums des Innern beraten werden soll. Er verlangt von der Staatsregierung, dass sie nun einmal Farbe bekennt, ob sie dasselbe oder noch mehr auch für die Jugend in dem Lebensalter zu tun bereit ist, wo noch keine politischen Einwirkungen erzielt werden können, was sie nur allzu bereit war für ein Lebensalter zu tun, wo sie in erster Linie hofft, politische Ernte halten zu können.

Genau dasselbe, meine Herren, gilt ja von den Bestrebungen in Bezug auf die Verhinderung der Kinderausbeutung. Auch hier vermissen wir ein Vorgehen der Staatsregierung; auch in Bezug auf das Verbot der Kinderarbeit. Wo sind denn da plötzlich die begeisterten Herolde des Kinderschutzes, wenn es sich darum handelt, nun einmal energisch einzugreifen, ohne dass die Möglichkeit gegeben ist, nebenher konfessionelle oder politische Geschäftchen zu machen? („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Im Übrigen, meine Herren, betrübt Sie keineswegs so sehr die sittliche Verlotterung an und für sich, soweit sie vorhanden ist, und noch weniger die Kriminalität an und für sich. Als das allein da war, meine Herren, da haben Sie nicht den Finger gerührt. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Erst als das Proletariat anfing, sich seiner Jugend anzunehmen, da begannen Sie, sich lebhafter zu regen. Nirgends ist so deutlich wie hier erkennbar, welche Wurzeln Ihre soziale Fürsorge hat, meine Herren. Nicht die soziale Not ist Ihnen schrecklich, sondern die Selbsthilfe des Volkes gegen diese soziale Not. Nicht so sehr die moralische Verwahrlosung und das Verbrechen sind Ihnen ein Gräuel, als vielmehr die Selbsthilfe des Volkes gegen diese Wirkungen der heutigen Zustände. Nicht die politische Rechtlosigkeit, nicht die geistige Aushungerung der Massen widerstrebt Ihnen, sondern der Kampf des Volkes gegen diese Schäden. Es ist also die Selbsthilfe des Volkes, der Kampf, der Sie schreckt und der Sie veranlasst einzugreifen, nicht aber sind es alle die Gesichtspunkte, die Sie hier mit dröhnenden Phrasen in den Vordergrund gestellt haben. Weil das so ist, darum sind Sie auch so eilig dabei; wenn es sich um soziale Reformen handelte, da könnten wir auf den Sankt-Nimmermehrstag warten. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Dass hier so prompt Millionen locker gemacht worden sind, meine Herren, das kommt daher, dass es Ihnen aus politischen Gründen auf den Fersen gebrannt hat.

Etwas anderes, was vielleicht nützlicher gewesen wäre zur Aufrechterhaltung unserer heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung als dieser Korruptionsfonds, das muss lange Zeit warten. Bis zum heutigen Tag noch müssen wir warten auf die Verwirklichung des Versprechens der Thronrede wegen Einführung eines freieren Wahlrechts. Meine Herren, das wäre zweifellos ein ausgezeichnetes Mittel, um eine Menge Quellen der Unzufriedenheit zu verstopfen. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Aber, meine Herren, an so etwas denkt man nicht, das zu verwirklichen ist zu schwer, und nur wenn es sich darum handelt, das Volk weiterhin zu bedrücken und zu bedrängen, dann allerdings sind Sie rasch bei der Hand.

Die sozialdemokratische Erziehungsarbeit, die wir hier in einem gewissen Sinne an Ihnen durch Abschreckung geleistet haben, ist immerhin nicht so ganz unbeachtlich. Besonders haben wir eine glänzende Erziehungsarbeit geleistet auf dem Gebiete des Farbensinns der patriotischen Vereine. Bis vor kurzem hat ja noch das erschreckende Faktum bestanden, dass unsere patriotischen Jugendturnbündler rote Schärpen trugen. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Da hat die Sozialdemokratie durch ihre abschreckende Wirkung endlich dafür gesorgt, dass aus diesen roten Schärpen blaue geworden sind. (Heiterkeit bei den Sozialdemokraten und Zuruf: „Gelbe wären noch richtiger!") – Es ist ja ungefähr dasselbe. Die Gelben sind die Protegierten, die Blauen sind die Protektoren. Man musste natürlich in dem Falle die Farben der Herren Protektoren nehmen …

Nun, meine Herren, die Politik in der Schule und in den Jugendvereinen ist ganz allein ein Kapitel, über das man in der Lage wäre, sehr ausführlich zu sprechen. Zunächst hat die Freisinnige Partei ebenso politische Jugendorganisationen inszeniert wie das Zentrum und andere Parteien. Wir haben Jugendorganisationen, die angegliedert sind an konservativ-politische Organisationen der Erwachsenen, „neue Wahlvereine" und dergleichen, Jugendabteilungen der politischen Organisationen.

Meine Herren, wenn Herr Kollege Schepp gemeint hat, wir Sozialdemokraten seien die ersten, die die Jugend politisierten, so möge er doch einmal an die Jugendvereine des Freisinns denken und fragen, wie es mit ihrer Politik steht. Im Übrigen – um das dem Zentrum noch zu sagen – haben ja erst vor kurzem wieder die Zentrumspriester des Kantons Mülhausen das Recht und die Pflicht für sich in Anspruch genommen, über Politik im Amte zu sprechen, ein Beweis dafür, dass die Herren vom Zentrum sich nicht damit herausreden können, dass sie nur eine konfessionell-kirchliche Beeinflussung und keine politische Beeinflussung wollten. Nein, diese konfessionell-kirchliche Beeinflussung ist stets gleichzeitig auch eine politische Beeinflussung.

Dass auch der Deutsche Wehrverein4 ein ausgeprägt politischer Verein ist, darüber brauche ich kein Wort weiter zu verlieren; es bedarf nur des Hinweises auf die Versammlung am 28. Januar dieses Jahres in Berlin, in der dieser Verein begründet worden ist. Da ist die Förderung des Nationalstolzes, der Vaterlandsliebe als eine besondere Aufgabe bezeichnet worden. Die Vernichtung des Traumes vom Weltfrieden und von der internationalen Verbrüderung gilt als eine der wichtigsten Aufgaben dieses Deutschen Wehrvereins. Also ein ganz gewöhnlicher Hurrapatriotismus, der allerdings, indem er die internationale Verbrüderung bekämpft, auch das Zentrum damit eigentlich ausscheidet und sogar die evangelischen, protestantischen Jugendorganisationen.

Aber was nun speziell die Schule anbelangt, von der ich vorhin bereits im Allgemeinen sprach, so muss noch einmal mit allem Nachdruck auf das Material hingewiesen werden, das ich vor wenigen Tagen bereits bei dem Kapitel Schulaufsicht vorgebracht habe.

Meine Herren, hier liegt mir ein Bericht vor über eine Rede gegen die Sozialdemokratie, die der Direktor der Herder-Schule – Dr. Dubislav heißt er, glaube ich – am 14. März an die Abiturienten gehalten hat. Darin heißt es:

Meine lieben Schüler! Zum ersten Male werden aus dieser Anstalt am heutigen Tage Abiturienten entlassen." – Und so weiter. Er warnt sie vor den Gefahren –: „Da sind vor allen Dingen die Sozialdemokraten, jene vaterlandslosen Gesellen, die die heiligsten Güter unserer Nation verachten und die für die Taten und das Schaffen unserer Väter nur Spott übrig haben. Schämen und verachten müsste ich mich, wenn ich mit einem Sozialdemokraten an einem Tisch sitzen würde; die Luft, die sie atmen, ist verpestet." („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, das sagt der Rektor eines Gymnasiums, auf dem man im Allgemeinen nur die Jugend der oberen Schichten vermutet. In diesem Falle waren nun aber immerhin einige Kinder sozialdemokratischer Eltern unter diesen Schülern, und die haben diese unverschämte Beleidigung, die sich dieser Herr hat zuschulden kommen lassen (Abgeordneter Hoffmann: „Sehr wahr!"), allerdings auf das Tiefste empfunden. Ich meine, wenn diese Herren sich ein solches Vorgehen herausnehmen, dann spricht das geradezu Bände über ihre Einbildung, dass sie berechtigt seien, die Schule als Staatsinstitution zum Kampfe gegen die Sozialdemokratie auszunützen.

Meine Herren, ich habe schon sehr viel einschlägiges Material beigebracht, und ich möchte mich darauf beschränken, in Bezug auf die Volksschule nur auf eines hinzuweisen. Da wird in der „Rheinisch-Westfälischen Zeitung" vom 5. März dieses Jahres aus Berlin berichtet:

Im Kampf gegen die sozialdemokratische Jugendorganisation wird jetzt auch die Hilfe der Lehrerschaft in Anspruch genommen. In verschiedenen Schulen wird durch Fragen an die Kinder festgestellt, ob ältere Geschwister im Alter von 14 bis 18 Jahren Arbeiterturnvereinen, Bildungsvereinen oder anderen sozialdemokratischen Vereinen angehören" usw.

Meine Herren, was die Leistungen auf der Fortbildungsschule anlangt, so habe ich darüber ja auch bereits neulich einiges hervorgehoben. Im Übrigen hat ja der Handelsminister bei der Erörterung über die Fortbildungsschule, die wir mit ihm hatten, zugegeben, dass mit seiner Einwilligung und seiner Billigung die „Kyffhäuser-Korrespondenz", dieses die Sozialdemokratie unausgesetzt begeifernde, ausgeprägt politische Blatt, in großer Zahl von Exemplaren allen Fortbildungsschulen zur Benutzung beim Unterricht und zur Verteilung an die Schüler zugeht. Meine Herren, ich habe ein solch ungeheuerliches Material über den Missbrauch der Fortbildungsschule zu politischen Zwecken, dass ich es mir versagen muss, auch nur annähernd alles vorzubringen. („Bravo" rechts!) Aber das möchte ich Ihnen sagen: Wenn eben der Herr Abgeordnete Heckenroth „Bravo" gerufen hat, dann weiß er offenbar, wie ungeheuer groß das Material ist, das ich habe; nur dann wäre dieser Seufzer der Erleichterung begreiflich. Ich konstatiere hiermit dieses Geständnis des Herrn Abgeordneten Heckenroth – (Zuruf: „Es war nicht der Abgeordnete Heckenroth! Ist gar nicht da!" Abgeordneter Ramdohr: „Die Erleichterung ging von mir aus!") – Ach, dann bitte ich um Verzeihung. Dann aber gilt genau dasselbe für Sie. (Heiterkeit.)

Meine Herren, wiederholt haben Lehrer Schülern, die nicht bereit waren, in irgendeinen der von den Lehrern unterstützten Vereine einzutreten, mit einem schlechten Abgangszeugnis gedroht. In den Berliner Fortbildungsschulen ist das geschehen und anderwärts auch. Meine Herren, dass das Blättchen „Der Feierabend" in den Fortbildungsschulen neben der „Kyffhäuser-Korrespondenz" verteilt wird, das ist ja eine Sache, die Ihnen allen bekannt ist und die auch hier bereits erörtert worden ist.

Besonders eigentümlich ist, wie man die Offiziere in den Dienst der Fortbildungsschule stellt. Vor kurzem ist in der Fortbildungsschule von Schöneberg ein Offizier benutzt worden, um die Schüler zu einem Kriegsspiel hinauszuführen, das von der Schule gefördert. Und, meine Herren, was die Politik anbelangt, die längst vor dem Jahre 1904 in den bürgerlichen Vereinen getrieben worden ist, so habe ich darüber gleichfalls bereits bei früheren Gelegenheiten ein erhebliches Material produziert.

Es ist vielfach die „Arbeiter-Jugend" benutzt worden, um aus ihrem Inhalt zu deduzieren, dass die Bewegung eine politische sei. Ja, meine Herren, die „Wacht" und der „Leuchtturm", diese beiden Zeitungen der katholischen und der evangelischen Jugendvereine, sind ganz ausgeprägt politische Blätter, und dennoch werden sich die Herren wahrscheinlich mit Händen und Füßen dagegen sträuben, dass aus dem politischen Charakter dieser Zeitungen auf den politischen Charakter der Organisationen geschlossen werde.

Meine Herren, ich habe hier im Winterprogramm der Marianischen Jünglingskongregationen und des Aloysiusvereins St. Stephan in Krefeld über die Unterrichtskurse für 1911/12 eine kleine Zusammenstellung von Vortragsthemen. Da wird gesprochen über Reich und Reichstag, über die politischen Parteien, über die Handelsverträge, über die Steuern in Staat und Gemeinde, über die Lebensmittelteuerung, über Tagesfragen usw., meine Herren, ganz offenbar politische Themen, und hier habe ich eine Annonce vom Christlichen Verein junger Männer in Ohligs; da ist für den 7. Januar 1912 nachmittags sechs Uhr ein Vortrag angesetzt mit anschließender Besprechung über „Die Reichstagswahl" („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.), also so politisch wie möglich. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Da sehe ich, wie der Christliche Verein junger Männer in Rixdorf einen Vortrag unseres verehrten Mitgliedes von Oertzen über politische Fragen angehört hat – meine Herren, das ist auch vor ganz kurzer Zeit geschehen – und eine ganze Menge ähnlicher Dinge. Meine Herren, damit soll es genug sein.

Und nun fordere ich den heraus, der da wagt die Behauptung aufzustellen, dass nicht Politik in der Schule getrieben werde von Staats wegen, dass nicht Politik in die Jugend hinein getragen sei durch die konfessionellen Organisationen ebenso wie durch die hurrapatriotischen Organisationen, die längst vor der sozialdemokratischen Jugendbewegung bestanden haben. Denn, meine Herren, das ist die Sache: Wollen Sie denn wirklich die Behauptung ernstlich aufrechterhalten, dass die Sozialdemokratie angefangen habe? Tatsache ist, dass es die Sozialdemokratie und das sich selbst frei organisierende Proletariat war, was Sie zu ihren sozialen Verpflichtungen auferwecken musste, wenn auch nur in dieser lächerlich verkrüppelten Form, in der jetzt diese Verpflichtungen anerkannt werden. Aber ebenso ist Tatsache, dass die Politisierung, die politische Bearbeitung der Jugend von Ihnen betrieben ist, Menschenalter, bevor die Sozialdemokratie im Geringsten daran gedacht hat, dergleichen zu tun („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Das ist die Wahrheit, meine Herren. Es ist unzweifelhaft, dass die Sozialdemokratie sich in der Abwehr befunden hat.

Der Herr Kultusminister hat bereits darauf hingewiesen, dass anfangs diese Bewegung auf Ablehnung in der Partei, in den Gewerkschaften gestoßen sei. Durchaus richtig! Im Jahre 1904 hat die Sozialdemokratie zum ersten Mal sich kurz, vorübergehend mit der Frage der Jugendbewegung befasst, und damals zuerst auch hat die proletarische Jugend in Berlin und anderwärts aus sich selbst heraus begonnen, sich in zunächst gänzlich unpolitischen, rein sozialpolitischen Zwecken und Bildungszwecken dienenden Organisationen zusammenzuschließen. Aber damals konnten jene katholischen und protestantischen Organisationen schon ihr goldenes Jubiläum, ja bereits ihren hundertjährigen Geburtstag feiern. Und die Volksschule hat den Zwecken der Politisierung bereits gedient, solange sie überhaupt existiert. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Und mit dem Militarismus ist es genau ebenso. Also, meine Herren, kein X für ein U vormachen! Sie wollen nicht etwa die Entpolitisierung der Jugend, sondern Sie wollen, dass die Jugend in Ihrem Sinne politisiert werde. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Sie kämpfen nicht dagegen, dass die Jugend überhaupt in das Parteigetriebe hineingezogen werde, sondern Sie wollen für sich das Privileg, das Monopol beanspruchen, die Jugend mit Ihrer Politik vollzufüllen. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Und weil hier die freie Jugendbewegung Ihnen entgegenwirkt, deswegen kämpfen Sie, und deswegen kämpfen Sie unter falscher Maske, unter falscher Flagge.

Meine Herren, es ist ein Kampf unter falscher Flagge, den Sie führen, wenn Sie uns hier predigen wollen von Entpolitisierung der Jugend. Es ist eine Hypokrisie allertraurigster Art, wenn Sie, die Sie die Jugend politisieren, direkt in Ihrem Sinne politisieren, nun sagen: Ach, die arme Jugend ist ja noch gar nicht imstande, Politik ohne Gefährdung ihrer Seele zu treiben. Meine Herren, es muss immer wieder diese Tartüfferie festgenagelt werden, die in diesem Ihrem Verhalten und, meine Herren, in dem Verhalten des Herrn Kultusministers, der Staatsregierung in dieser Frage liegt. Kämpfen Sie doch mit offenem Visier, wie es einst ritterlicher Grundsatz gewesen sein soll! Sagen Sie doch ganz offen: Es ist ein Machtkampf, der um die Jugend gekämpft wird; wir wollen die Jugend eben in unserem Sinne politisieren, und ihr wollt sie anders politisieren, und da wir die Macht in den Händen haben, nützen wir diese Macht rücksichtslos in unserem Sinne aus, um das Proletariat niederzuwerfen. Bekennen Sie das offen; das ist die Wahrheit, und alles andere, was da geredet wird, ist mehr oder weniger eine durch Selbsttäuschung vielleicht teilweise minder bewusst gemachte Unwahrheit.

Meine Herren, ich habe nicht nötig, den Vorwurf zurückzuweisen, dass unsere Jugendbewegung von vornherein eine politische gewesen sei. Tatsache ist, dass sie zu einer Zeit, wo sie es noch durfte, in Süddeutschland ganz ungeniert politisch war. Sobald das Reichsvereinsgesetz erlassen war, das die Politik in den Jugendorganisationen untersagte, ist alles Menschenmögliche unternommen worden, um die Parteipolitik aus der Jugendbewegung herauszubringen. Aber, meine Herren, wollen Sie etwa behaupten, dass das Proletariat nicht das Recht habe, die Jugend in seinem Sinne zu erziehen? Das nennen Sie dann bereits Politik? Dann ist es aber zehnmal richtig, wenn wir sagen, dass auch Sie unausgesetzt Politik in die Jugend hinein tragen

Wenn wir der Jugend des Volkes Wissenschaft, Naturwissenschaft beibringen, wenn wir sie lehren um sich zu sehen; wenn wir die Weltanschauungsfragen behandeln, die von dem einen so, von dem anderen anders beantwortet werden; wenn wir nicht an einen persönlichen Gott glauben und daraus die Konsequenz ziehen, dass wir unsere Kinder auch entsprechend erziehen, und Sie machen uns einen Vorwurf daraus – ja, sehen Sie denn gar nicht ein, dass Sie gegen die Kinder genau dasselbe „Unrecht" begehen, wenn Sie ihnen Ihre positiv religiösen Anschauungen beibringen wollen? („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Es ist also das gute Recht, dass man in allen diesen Fragen seine persönliche Auffassung zum Ausdruck bringt. Die Sozialdemokratie ist keine politische Partei wie andere. Wir können da an die Herren vom Zentrum appellieren, die ja auch behaupten, dass sie keine politische Partei, sondern mehr seien, dass sie eine Weltanschauungsbewegung darstellen. In gewissem Sinne trifft das in der Tat zu; es gilt zum Teil auch in einem durchaus mittelalterlichen, düsteren Sinn von den Herren auf der Rechten. Die Sozialdemokratie muss es im allerhöchsten Sinne beanspruchen, dass sie eine Weltanschauungspartei ist, die das ganze Denken und Sinnen durchdringt und erfüllt. Es ist infolgedessen durchaus nicht Politik, wenn wir fordern, dass die Jugend nicht in militaristischem Geiste gedrillt werden soll, nicht in hurrapatriotischem Geiste, nicht in dem blöden Geiste des Staunens und Starrens nach oben, im Byzantinismus, mit dem unsere Jugend heute in der Schule erfüllt wird und nach der Schule durch diese Bestrebungen, die hier von Ihnen gefördert werden, weiter erfüllt werden soll.

Meine Herren, wenn wir die Weltanschauung, die sich ganz konsequent aus der Lebenslage des Proletariats ergibt, in die Jugend zu pflanzen suchen, so treiben wir damit nicht im allergeringsten Politik. Aber die Jugend des Proletariats wird allerdings von Ihnen in ganz ausgeprägter Weise in die Politik hineingezogen. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, das möchte ich aber doch noch hervorheben. Wenn Sie es durch das Reichsvereinsgesetz und durch die Ungesetzlichkeiten, die mit dem Unterrichtserlaubnisschein getrieben werden, glücklich fertiggebracht haben, der Jugend die politische Betätigung und sogar die wissenschaftliche Betätigung nahezu unmöglich zu machen, dann begehen Sie damit ein großes Unrecht und tragen dazu bei, die Gegensätze zu verschärfen, nicht aber zu überbrücken. Darüber sollten Sie sich gar keinem Zweifel hingeben, Denn was könnte natürlicher sein, als dass die Jugend des Proletariats das Bedürfnis hat, sich politisch und sozialpolitisch zu orientieren, diese Jugend, die frühzeitig ins Leben hinausgetrieben wird und dem Leben und seinen übermächtigen Erscheinungen unausgesetzt kämpfend und abwehrend gegenübersteht. Dass diese Jugend das Bedürfnis nach einer Einsicht in das Wesen der Dinge hat und dass diese Jugend, wenn sie noch dazu von der Polizei unausgesetzt bedrückt und geprügelt wird, die Mängel unserer sozialen und politischen Gesetzgebung kennenlernen will, das Bedürfnis hat, sich auch wissenschaftlich zu orientieren und sich eine politische Anschauung zu bilden, über Politik zu diskutieren, von Erwachsenen darüber Reden zu hören, das ist an und für sich ganz selbstverständlich.

Nun aber, meine Herren, lassen wir das vollkommen sein! Sie beschränken sich ja nicht darauf, die Politik aus der freien Jugendbewegung heraus zu treiben, Sie wollen diese Jugendbewegung überhaupt gänzlich vernichten. Das zeigt der Kampf, den Sie gegen unsere Jugendorganisationen, gegen die Turnvereine, gegen die Radfahrervereine, gegen die Gesangvereine und dergleichen geführt haben, und von dem ich neulich bereits einiges vorgetragen habe. Es ist nicht nötig, noch einmal darauf zurückzukommen.

Aber, meine Herren, immerhin bin ich genötigt, dem Herrn Kultusminister ein paar Worte auf die Bemerkungen zu erwidern, mit denen er mich neulich zu erledigen gedachte.

Der Herr Kultusminister hat auf eine Frage, die ich an ihn stellte, behauptet, dass Unterrichtserlaubnisscheine auch von Unterweisern, Lehrern, Vorturnern usw. gefordert würden, die in anderen bürgerlichen Organisationen ihres Amtes walten.

Meiner Überzeugung nach ist diese Behauptung nicht richtig. Ein glänzender Beweis dafür ist die Rede des Abgeordneten Kesternich, der sich am vorigen Sonnabend bitter darüber beklagte, dass man in einem Zentrumsvereine am Rhein von einem Turnwart einen Unterrichtserlaubnisschein gefordert habe, ein Beweis dafür, wie außergewöhnlich das sein muss, dass ein solcher Schein in Zentrumskreisen gefordert wird. Dann möchte ich aber einmal fragen, ob denn die Offiziere, die jetzt zur Jugendpflege herangezogen werden, auch, bevor sie zum Unterricht zugelassen werden, erst einen Unterrichtserlaubnisschein beibringen müssen, und ob die Landräte, die hier in der Denkschrift als Jugendpfleger aufgeführt sind, die Kantoren usw. durch die Bank Unterrichtserlaubnisscheine haben? Ich bin fest überzeugt: Das ist nicht der Fall, und wenn der Herr Kultusminister meint, es sei der Fall, so ist er offenbar gar nicht orientiert…

Im Übrigen, meine Herren, wissen wir ja auch, dass das Reichsgericht durch unausgesetzte neue Anträge gepeitscht werden kann, so dass schließlich durch zähe Beharrlichkeit eine Veränderung der Judikatur zu erzielen ist. Wir bauen gewiss nicht auf die Dauer auf die Judikatur des Reichsgerichts. Wir wissen aber, dass, wenn das Reichsgericht in Sachen Weber und Wildung eine Entscheidung in unserem Sinne gefällt hat, das Reichsgericht dabei schon unter einer schweren politischen Pression gestanden und sicherlich nicht leichthin zugunsten unserer Auffassung geirrt hat. Wenn jetzt aber das Reichsgericht umfallen, umschwenken sollte, dann ist es ganz zweifellos, dass das eine Wirkung des politischen Drucks und der Hetzerei ist, die von allen Reaktionären gegen diesen Standpunkt des Reichsgerichts unternommen worden ist …

Nun aber noch ein anderes, worauf ich neulich bereits kurz eingegangen bin. Der Kultusminister erwähnte, dass in dem einen Fall die Sache ja bereits so weit zurückliege, dass der Mann bereits im Auslande verstorben sei. Ich habe neulich bereits darauf hingewiesen, dass das meiner Ansicht nach nicht der Fall sein könne, dass der Betreffende verstorben sei. Als ich an diesem Tage nach Hause kam, fand ich in meinem Büro einen Brief von dem Herrn, in dem er frisch und fröhlich mir mitteilt, wie er sich gegenwärtig in Czortkow in Galizien befinde. Aber ich dachte mir, vielleicht hat der Kultusminister telegraphisch die richtige Mitteilung von dem Tode des Poniecki bekommen; man soll an eines Ministers Wort nicht drehen und deuteln. Deshalb habe ich, um ganz sicher zu gehen, an Herrn Poniecki folgendes Telegramm geschickt: „Musiklehrer Poniecki, Czortkow, Galizien. Kultusminister behauptet, Sie seien tot. (Heiterkeit.) Drahtantwort. Liebknecht."

Meine Herren, darauf habe ich die Drahtantwort bekommen, und zwar am 24. März: „Bestätige, dass ich noch lebe und recht gesund bin. Poniecki." Ich weiß nicht, ob der Kultusminister angesichts dieses Hereinfalls wohl noch einmal wagen wird, mit einer solchen großen Bestimmtheit uns gegenüber aufzutreten, wie er das mir gegenüber getan hat. (Zuruf rechts: „Vorgestern war Sonntag!") – Gewiss, es war am Freitag, es war nicht am Sonntag. Ich bemerke zu meiner großen Freude, dass Sie bereits soweit orientiert sind, dass vorgestern Sonntag gewesen ist.

Ich habe wohl nicht nötig, Ihnen nach der positiven Seite hin Näheres über die Leistungen der proletarischen Jugendorganisationen vorzutragen. Der Kampf gegen Schmutz in Wort und Bild, der Kampf gegen den Alkoholismus, das sind einige besonders wichtige Zweige dieser freien Jugendbewegung; die Hebung der Bildung und des Selbstbewusstseins der Jugend gehören allerdings auch dazu, die soziale Fürsorge und die Hebung zu dem Gefühl der Menschlichkeit. Allerdings wird auch von unseren Jugendorganisationen immer und immer als ihr Ziel angesehen, die Weltanschauung des Altruismus zu verbreiten, die auch die Weltanschauung der Sozialdemokratie ist. Diese Weltanschauung findet naturgemäß in der Jugend sehr lebhaften Anklang und sehr viel Verständnis.

Die Jugendbildungsbestrebungen charakterisieren sich am allerbesten durch die Programme und Kataloge, die die Jugendzentrale der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften Deutschlands5 ausgibt. Diese Kataloge und Programme, die Ihnen ja zum großen Teil nicht bekannt sind, werde ich mir erlauben, am Schlusse meiner Ausführungen denjenigen, die es wünschen, in die Hände zu geben, damit Sie sich einmal aus eigener Anschauung über das orientieren, worüber Sie unausgesetzt reden, und wovon Sie gar keine Ahnung haben. (Lebhafter Widerspruch rechts und im Zentrum.)

Herr Abgeordneter Kesternich hat neulich über die „Arbeiter-Jugend" eine sehr heftige Philippika losgelassen. Wir sind ihm von Herzen dankbar für die Viertelstunde eines ungetrübten und heiteren Genusses, den er uns durch seine Ausführungen bereitet hat. Indem der Abgeordnete Kesternich Freiligrath und Heine als Monstra produziert hat, die in der „Arbeiter-Jugend" ihr Wesen treiben, hat er das Bildungsniveau, auf dem er steht, so schlagend charakterisiert, dass es dazu überhaupt eines Wortes nicht mehr bedarf. Das Allerlustigste dabei war ja, wie er von dem abstoßenden, gemeinen Gedicht, von dem kläglichen Machwerk gesprochen hat, von dem er nur eine kleine Probe hier zu geben wage und von dem er nicht wusste, woher es kam. (Abgeordneter Kesternich: „Sehr gut!") Als wir ihm nachher zuriefen, das ist ja die „Fürstengruft" von Schubart, als dann der Abgeordnete Kesternich empört uns zurief: Ob nun Schubart oder ein anderer Ihnen dieses Gedicht gemacht hat ist uns ganz gleichgültig – Herr Abgeordneter Kesternich, es gibt hier kein Herausreden, Sie haben durch diese Ausführungen Ihren Befähigungsnachweis zum Jugendbildner ausgezeichnet erbracht. (Zuruf bei den Sozialdemokraten,: „Auch als Lehrer!") Es ist diese Ihre Ausführung auch so charakteristisch gewesen für die Ziele, die Sie in dieser Beziehung anstreben, dass wir uns wahrlich nichts weiter wünschen könnten, als dass diese Ausführungen in gewaltigen Mengen in das Volk hinaus gebracht würden, damit man draußen erfährt, welche Dunkelmännerbestrebungen bei uns in Deutschland und Preußen am Werke sind in Bezug auf die Jugendbildung und Jugendpflege. So fassen Sie und Ihre Freunde die Jugendbildung und Jugenderziehung auf! Das soll die Kulturverbreitung sein, die Sie uns da zum besten gegeben haben. Es ist gut, dass Sie uns Ihre Ziele entschleiert haben und die Wege zu diesem Ziel. Es ist das Ziel der Geistesknechtung, der Finsternis, der Muckerei („Bravo!" rechts.) und der Scheinheiligkeit, die in alledem zum Ausdruck kommt.

Und wenn Herr Kesternich seine Ausführungen so pathetisch mit den Worten schloss: Der Geist des Unglaubens hebt mehr und mehr frech sein Haupt und sucht alle Bande zu lockern („Sehr richtig!" rechts und im Zentrum.), so sage ich ihnen: Der Geist der Unwissenheit und Finsternis und Muckerei hebt immer mehr und mehr sein Haupt („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) in diesem Hause, besonders aus den Reihen des Zentrums. Ja, das schaffen Sie nicht aus der Welt.

Im Übrigen hat Herr Kesternich sich besonders aufgeregt über das lebhafte Temperament der Gedichte, die da veröffentlicht werden, über den Kampfcharakter der Artikel.

Ja, meine Herren, um alles in der Welt, darüber mussten Sie sich doch klar sein: Wir können die Arbeiterjugend kein „Eia popeia" singen lassen, wir können sie kein „Schlaf Kindchen schlaf" singen lassen, wie Sie das am liebsten haben möchten (Widerspruch rechts.), ja, wir müssen aufrüttelnde und kräftigende Gedichte und kräftigende Artikel (Große Heiterkeit rechts und im Zentrum.), wir müssen ihr eine starke, aufrüttelnde Kost geben, wir müssen ihr eine Kampfeskost geben. Das Schicksal der Jugend des Proletariats ist nicht Schlaf und Träumerei, sondern ein Kampf, der dieser Jugend durch die Gesellschaftsordnung, durch Sie und Ihre gewalttätigen polizeilichen Einwirkungen unausgesetzt aufgedrängt wird. Das Geschlecht des Proletariats ist zum Kampf geboren, Kampf ist sein Schicksal, und es muss zum Kampf erzogen werden. Da gibt es kein Ausweichen. Sie möchten es erziehen zum Schlafen, zum Ausbeuten und zum politischen Helotentum. (Abgeordneter Freiherr von Reitzenstein: „Nein, zur Zufriedenheit!") Das ist die Differenz, die zwischen uns und Ihnen besteht. Wir wollen es erziehen in einem kriegerischen Geist, freilich in edlerem Sinne als Sie, nicht chauvinistisch-kriegerisch, nicht in dem Geist, der sich bereit machen soll, auf Vater und Mutter zu schießen, sondern kriegerisch in dem Sinn eines Krieges gegen alle die Rückständigkeiten unseres Gesellschaftslebens und alle die Gefahren, von denen die Jugend des Proletariats verfolgt wird, kriegerisch gegen alle Reaktion, die in Preußen und Deutschland ihr Wesen treibt und immer kühner ihr Haupt erhebt.

Es ist bemängelt worden, dass wir angeblich so viel Revolutionsgeschichte treiben. Meine Herren, es mag richtig sein, dass auch in, der „Arbeiter-Jugend" mehr über Revolution geschrieben wird als in Ihren für die Jugend bestimmten Zeitschriften. Das hat seinen sehr guten Grund darin, dass in den Schulen die Revolutionen überhaupt möglichst weg eskamotiert werden oder, wo sie überhaupt erwähnt werden, in einer persiflierten Weise, niemals aber ihrer Bedeutung und der Wahrheit entsprechend erwähnt werden, es sei denn, dass es sich um eine Revolution von oben handelt, die dann allerdings auch ad usum Delphini byzantinisch zurecht gefärbt wird. Da müssen wir die Revolutionsgeschichte im Interesse einer gleichmäßigen Bildung der Jugend fördern.

Und dann, meine Herren, wollen Sie es bestreiten, dass die Revolutionen die interessantesten Epochen sind, in denen sich das Wesen der menschlichen Gesellschaft und ihre Struktur gewissermaßen bis auf das Mark in den Knochen enthüllt, und dass infolgedessen gerade hier am ersten die Triebkräfte der ganzen menschlichen Entwicklung erkannt werden können?

Dann ist es auch das heroische Moment, das in diesen Revolutionen hervortritt und das bei der Jugend des Proletariats an diesem Teil der Geschichte ein Interesse von selbst hervorruft. Es ist dies nicht ein Heroismus der Menschenschlächterei, sondern ein Heroismus der Selbstaufopferung für die größten Ideale der Menschheit, für den Fortschritt des Menschengeschlechts, und in diesem Sinn ist gerade in der Revolutionsgeschichte etwas ungemein Großzügiges, Ideales enthalten, nach dem die Jugend des Proletariats geradezu giert.

Trotz aller Versuche, Ihre eigene Jugend in ihrem jugendlichen Wesen geistig zu tyrannisieren, begeistert sich auch Ihre eigene Jugend heute noch wie vor hundert Jahren an den großen revolutionären Gesängen, die ein Schiller gesungen hat. Und das stürmische Wort „in tyrannos", das Schiller seinem großen Jugendwerk voran gesetzt hat, lässt auch die Herzen Ihrer eigenen Jugend noch erbeben. Es liegt in dem Wesen der Jugend, dass sie für derartiges revolutionäres Feuer ein lebhaftes Empfinden hat, und Sie lassen Ihre eigene Jugend ja auch Schiller lesen und lassen sie sich in diesen „Kinderkrankheiten" austoben; denn bald kommt sie zur Krippe zurück. Aber wenn die Jugend des Proletariats im Entferntesten dasjenige Maß von politischer Bildung und Bewegungsfreiheit in dieser Richtung sich verschaffen möchte, was Ihre Jugend hat, dann kommt die Polizei, dann kommt das Kultusministerium, und dann wird ihr das Leben sauer gemacht; man möchte ihr dann am liebsten das schmerzstillende Halsband anlegen. So leicht wird Ihnen das aber nicht gelingen.

Wenn Sie im Übrigen behaupten, der Jugend des Proletariats gegenüber in Bezug auf Moral und dergleichen turmhoch erhaben zu sein, und wenn vor kurzem der Abgeordnete Gronowski sich herausgenommen hat, gegen jene Kampfesschrift, jene „Versfußtritte", von Robert Franz loszuziehen und aus einer satirisch gefassten Moritatengeschichte auf eine – wie soll ich sagen – vollkommene Verrohung des Geistes in unserer Jugendbewegung zu schlussfolgern, dann möchte ich mir gestatten, dem Herrn Abgeordneten Gronowski jenes Gedicht vorzuhalten, das in einer Zentrumsorganisation, nämlich in den Vereinigten katholischen Vereinen von Buchheim am 28. Februar 1911 gesungen worden ist, wobei die Jugendorganisationen zugezogen waren; denn in dem ersten Lied, das gesungen wurde, war auch ein Vers an die Jugend enthalten. Es ist ein Radaulied – es ist wohl auch ausdrücklich „Radaulied" überschrieben –, das die Rohheit, Gemeinheit und Niedertracht verherrlicht und damals mit Begeisterung gesungen worden ist. Es ist im kölnischen Dialekt abgefasst, für mich etwas schwer zu lesen; ich will versuchen, Ihnen einen Vers vorzutragen.

Jetz, Junge, loht flott gon,

Mer singe jetz vom Schlonn,

Et es uns ganz egal,

Mer mache jetz Schandal

Und weed och falsch dä Weet,

Schloht nor ganz ungineet,

Wat uns kütt en de Wäg,

Wet fotgefäg.

Also, meine Herren, es soll flott darauf los geschlagen werden, es ist uns ganz egal, nur Radau gemacht, wenn der Wirt auch falsch wird, schlagt nur ungeniert drauf los; alles, was uns in den Weg kommt, muss kaputt geschlagen werden. Dann geht es weiter:

Die Gläser, Flasche, Mosterpott,

De schlon mer all zoesch kapott;

Dat Kanapee, dat Klederschaaf,

Die schmieße mer die Trepp eraf.

Und dat Klavier flüg och erus,

Mer brechen av et ganze Hus,

Die Weeg mitsamt dem kleine Kind,

Erus dornet geschwind.

So denkt das Zentrum über die Jugendfürsorge! (Großes Gelächter im Zentrum.) Meine Herren, gestatten Sie mal, Sie wissen ja gar nicht, wen Sie auslachen. Sie lachen ja den Herrn Abgeordneten Gronowski aus; denn als der damals den Vers zitierte von dem Kind, das durch den Nabel gespießt wurde, da sagte er: So denkt die Sozialdemokratie über das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern! („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.) Jetzt habe ich mir gestattet, hier zu sagen: So denkt das Zentrum über die Jugendfürsorge! (Zurufe im Zentrum.)

So geht das Gedicht weiter:

Kütt üch ens einer domm,

Schloht im de Knoche kromm!

Mät hä dat Mul noch op,

Klatsch, hat hä einen drop.

Dem Kääl schloht en de Zäng

Un däut in an die Wang!

Wend hä dann noch jett en:

Klatsch, noch ein dren.

Meine Herren, das ist so ein begeisterndes Lied, das in Zentrumsjugendorganisationen gesungen worden ist. (Erneutes großes Gelächter im Zentrum.)

Meine Herren, wollen Sie das bestreiten? Ich mache Ihnen zum Vorwurf, dass Sie genau wissen, dass es wahr ist, was ich sage; denn dieses Gedicht hat eine Rolle gespielt im Wahlkampf in Westfalen, als der Abgeordnete Gronowski mit genau denselben lächerlichen Anschuldigungen gegen unsere Partei vorging, die er uns hier noch einmal aufgewärmt hat. Es ist Ihnen auch wohl bekannt, meine Herren, dass 1911 in der Dortmunder „Arbeiterzeitung" vom 22. November ein offener Brief an den Herrn Abgeordneten Gronowski erschienen ist, der ihn auffordert, sich auf seine unwahrhaftigen Anschuldigungen zu erklären.

Aber dann kann ich es mir nicht versagen, noch auf eins hinzuweisen. Wenn Sie den Mund so voll nehmen über die Jugendorganisationen des Proletariats, so erinnere ich Sie an ein Jugendliederbuch, das speziell für die Bourgeoisie zusammengestellt ist, nämlich an das „Allgemeine Deutsche Kommersbuch", das uns allen ein lieber Freund ist. Meine Herren, ich bin natürlich weit davon entfernt, irgendwie der Prüderie oder Muckerei das Wort reden zu wollen, im Gegenteil, ich habe meine Freude an diesem Kommersbuch trotz der gelegentlichen Ruppigkeiten, die darin enthalten sind. Aber, meine Herren, es ist notwendig, Ihnen vorzuhalten, wie die Liederbücher für Ihre eigene Jugend beschaffen sein dürfen, ohne dass jemand die Nase rümpft, und wie sofort Zeter und Mordio geschrien wird, wenn auch nur der zehnte Teil davon sich vielleicht einmal in ein proletarisches Liederbuch einschleichen möchte. Meine Herren, das ist ein Jugendbuch, von dem es im Vorwort heißt: „Es soll ein Stück akademischer Fröhlichkeit und Besonderheit als herzbefreiendes köstliches Gut in breite Schichten des Publikums tragen", es sei „ein reich quillender Born der Studentenlust und frischer tüchtiger Jugendart", ein „behaglicher und stimmungsreicher Begleiter". Ja, meine Herren, manche der Lieder in dem Kommersbuch würde man, wenn sie in Liederbüchern der Arbeiterjugend ständen, als roh und gemein bezeichnen. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), genauso wie man das Laterneneinschlagen, wenn es ein Arbeiterbursche macht, als eine unerhörte Rohheit bezeichnet, aber als studentischen Übermut, wenn es einmal Studenten tun; das wissen wir ja alle.

Meine Herren, was das Kommersbuch in dieser Beziehung bietet, das zeigt zunächst das Lied Nummer 682:

Es war einmal ein Kandidat,

Der ganz entsetzlich saufen tat

(Heiterkeit.);

Die Kehle hing ihm in den Bauch

Wie ein Hamburger Spritzenschlauch.

(Zuruf rechts: „Steht aber nicht mehr drin!") Doch, das steht noch drin!

Das ganze Konsistorium

Und selbst den Bischof soff er um.

(Rufe rechts: „Wird nicht mehr abgedruckt!")

Als Missionar in Hindostan

Da pflanzt er Malz und –

ich weiß nicht, was noch – (Zuruf.)

und Hopfen an.

(Lebhafte Rufe: „Kennen wir noch!") – Meine Herren, Sie kennen das Gedicht! –

Die Rede floss ihm reichlich süß

Von Herrn Gambrin und Cerevis.

Verpasst darob in Seligkeit

Examina und Christenheit.

Meine Herren, so denkt die bürgerliche Jugend über das Christentum und den Alkohol! (Lebhafte Rufe im Zentrum, rechts und bei den Nationalliberalen: „Nein! Nein!") – Ja, ja, so denkt die christliche Jugend darüber! Und, meine Herren, von dem „Studio in Jene, der besoffen Tag und Nacht" – haben Sie das nicht auch gelegentlich gesungen? (Zuruf rechts: „Nein!") Sie nicht; nun, dann ist das ein Zufall; dann kennen Sie das Lied wahrscheinlich nicht. Aber kennen Sie das schöne Gedicht „O Academia" ? Meine Herren, in diesem Liede heißt es:

Geschwungen hab' ich meinen Speer,

Stand meinen Mann auf der Mensur.

Jetzt hab' ich keine Nase mehr!

(Heiterkeit.)

O academia!

Auch manch' Dukaten gab ich her,

Bei Würfelspiel und Becherklang;

Jetzt hab' ich keinen Heller mehr,

O academia!

- So wird im Kommersbuch das Würfelspiel gepriesen – (Lachen und Heiterkeit.) und das Saufen gepriesen, meine Herren, und die Gewalttätigkeiten der Mensur. Schrecklich doch, nicht wahr, meine Herren: Und dann geht es weiter über das Familienleben, das intime Familienleben:

Vater und Mutter starb' zu Haus,

Vergessen ist ihr einz'ger Sohn,

Jetzt weiß ich nicht, wo ein und aus,

O academia!

- Das Heiligste in den Schmutz gezogen, meine Herren: Vater und Mutter! Und noch weiter:

Nur eine ist, die weint um mich,

Die wohnt im fernen Heimatland,

Und ihren Ring versetzte ich,

O academia!

Meine Herren, das ist nun wirklich eine moralische Gemeinheit. (Große Heiterkeit.) Was in diesem Verse drin steckt, ist eine moralische Gemeinheit! – Aber ich will gar keine pathetischen Töne aufsetzen; ich lasse es nur einmal in den Wald zurück schallen, wie es aus dem Walde neulich heraus geschallt ist.

Und dann denken Sie an „Eduard und Kunigunde" (Heiterkeit.), was Sie auch gesungen haben, meine Herren, und all die traurigen Berliner Geschichten! (Zuruf bei den Sozialdemokraten: „Jugendbildung!")

- Ja, meine Herren, das ist Jugendbildung; natürlich, es sind ja Jugendgedichte!

Und dann vor allen Dingen denken Sie an die schreckliche Erscheinung, wie die Religion verhöhnt wird und der Patriotismus in einem anderen Gedicht, die Religion vor allen Dingen, das Allerheiligste.

Wenn der Engel mit dem Teufel

Auf dem Schneegebirg' der Eifel

Mit der Schnapsflasch' sich ergötzt,

(Heiterkeit.)

Meine Herren, der Engel mit dem Teufel und die Schnapsflasche schwingend! –

Und Sankt Petrus in dem Himmel

Wie ein Erzphilisterlümmel

(Abgeordneter Hoffmann: „Hört! Hört!")

Hunde auf die Jungfrau'n hetzt!

(Abgeordneter Hoffmann: „Hört! Hört!") Meine Herren, das ist ja grässlich, das ist ja furchtbar! – Und dann, damit der Patriotismus auch einmal Nahrung erhalte:

Wenn das Krokodil mit Freuden,

Ob der christ-kathol'schen Leiden,

Abdel Kadern harangiert,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

jetzt kommt der Patriotismus:

Und der Floh mit zweien Läusen,

Nebst zwei anglisierten Mäusen,

Der Walhalla Fronten ziert.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, das ist ja entsetzlich! Mich wundert, dass Sie noch leben alle zusammen, nachdem ich diese entsetzlichen Beleidigungen Ihrer Empfindungen hier vorgetragen habe.

Meine Herren, ich könnte da noch manches erzählen. Ich habe Ihnen das in vollem Bewusstsein vorgetragen, dass manch einer von Ihnen das kennt, was ich sage, in vollem Bewusstsein dessen, dass Sie diese Lieder zum großen Teil mitgesungen haben, wie ich das als Student mitgesungen habe (Zuruf rechts: „Pfui, pfui, Herr Liebknecht!"), dass Sie das getan haben, ohne sich dabei etwas Böses zu denken! („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Ich sage das zum Zwecke der Feststellung dessen, wie perfid eine Kampfesweise ist, die, wenn einmal ähnliche Moritatengeschichten oder dergleichen Derbheiten sich in unseren Jugendbüchern finden, nicht genug der Worte des Tadels und der Entrüstung finden kann, um über die verrottete proletarische Jugend herzufallen. Das ist der Zweck, weshalb ich Ihnen das vorgetragen habe, und nun mag der edle Herr Gronowski noch einmal auftreten mit derartigem Zeug, wie er das neulich getan hat.

Die Verfolgungen, denen die proletarischen Jugendorganisationen ganz ohne Grund ausgesetzt sind, sind besonders um deswillen so außerordentlich empfindlich und bedauerlich, weil diese Verfolgungen in durchaus einseitig parteiischer Weise erfolgen. Die Organisationen des Bürgertums und der Kirche, die durchaus politischen Charakter tragen, sie werden geduldet, niemand kümmert sich darum. Die Organisationen des Proletariats können gänzlich unpolitisch sein und sie werden doch zertrümmert, und wenn sie idealste Zwecke verfolgen. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Die Jugendvereine werden vernichtet, die Jugendausschüsse werden aufgelöst, eine ausdehnende Interpretation des Vereinsgesetzes greift Platz, die uns die Bewegungsfreiheit rauben soll, und der Herr Kultusminister gibt seinen Senf dazu. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Wenn man neben diesem Verhalten gegenüber den proletarischen Organisationen die Staatspäppelei betrachtet, die gerade durch den hier fraglichen Fonds mit den bürgerlichen Organisationen, diesen bürgerlich protegierten Schoßkindlein vorgenommen wird, und wenn man dann, meine Herren, zum Beispiel in der Ausstellung „Die Frau in Haus und Beruf" diese wohl gepflegten und gehegten Abteilungen der bürgerlichen Jugendvereine betrachtet, dann, meine Herren, wird man allerdings von einem Gefühl der tiefsten Bitterkeit erfüllt.

Aber nicht nur von einem Gefühl der Bitterkeit, sondern der tiefsten Empörung und Entrüstung über diesen Mangel an jeglichem Gerechtigkeitssinn und jedem Gesetzlichkeitssinn, der in dieser Art des Verhaltens zum Ausdruck kommt.

Meine Herren, es sind von gar mancher Seite, auch aus bürgerlichen Kreisen, der proletarischen Jugendbewegung die denkbar günstigsten Urteile ausgestellt worden und gerade auch den idealen Zwecken, die die proletarische Bewegung verfolgt. Meine Herren, das ist Ihnen schon ganz gleichgültig, ob Sie ideale Werte von geradezu unergründlicher Bedeutung durch dieses brutale Eingreifen vernichten. Sie wollen ja eben keine idealen Werte schaffen, sondern Ihr Ziel ist zu vernichten, was das Proletariat sich aus eigener Kraft geschaffen hat, damit Sie in den Stand gesetzt werden, das Proletariat nach Ihrem Willen zu knebeln und zu seinem eigenen Schaden und zu Ihrem Vorteile weiter auszunützen. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, es ist in der Tat richtig; Sie kennen nur ein Gebet, und dieses Gebet heißt: Herr, erlöse uns von der Sozialdemokratie! („Sehr richtig!" rechts und im Zentrum.) Und alle die anderen Gebete, die Sie sonst noch gelegentlich beten, lassen sich zurückführen auf dieses eine Grundgebet, das Ihre Seelen völlig erfüllt.

Meine Herren, wenn Sie wirklich Ernst machen wollten, dann müssten Sie ganz woanders den Hebel einsetzen, das haben wir Ihnen gezeigt. Wenn es Ihnen Ernst ist mit der Beseitigung der sozialen Misere, der großen Not unserer Jugend, dann haben Sie unsere Anträge anzunehmen (Lachen rechts und im Zentrum.) – unsere Anträge anzunehmen, die auf eine systematische Förderung der Jugend hinausgehen!

Es heißt ja doch das Pferd am Schwanze aufzäumen, meine Herren, wenn Sie das Kind im Mutterleibe leiden lassen, das Kind im Säuglingsalter sterben und verderben lassen, das Kind in der Schule nicht im geringsten in Ihre Fürsorge nehmen, wenn Sie es vor Misshandlungen durch Lehrherren usw. nicht schützen, wenn Sie die Kinderarbeit nicht weiter einschränken wollen, aber dann plötzlich Ihr soziales Herz schlagen fühlen, wenn es sich darum handelt, antimilitaristische Gefahren von sich abzuwälzen.

Ist's Ihnen ehrlich, so fangen Sie es systematisch an, fangen Sie an der Wurzel an, dann fangen Sie an bei den Anträgen, die von uns beim Ministerium des Innern und hier gestellt sind!

Sie werden natürlich die Anträge nicht annehmen, die darauf hinzielen, dass eine paritätische Verteilung der Mittel stattfände.6 Wir wollen Sie nur zwingen, durch einen ausdrücklichen Beschluss das abzulehnen, damit Sie sich einmal auf den parteipolitischen Charakter dieser staatlichen Jugendfürsorge förmlich festlegen. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, wir wollen einmal Musterung halten und hier im Hause ein klares Bekenntnis von den einzelnen Parteien fordern, wie Sie sich bei dieser Abstimmung zu dieser Frage stellen. Wir wollen einmal sehen, wie die Herren Nationalliberalen und die Herren Freisinnigen sich stellen. (Heiterkeit im Zentrum. „Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Die Herren Nationalliberalen werden natürlich unseren Antrag auf paritätische Verteilung der Mittel glatt ablehnen; das ergibt sich aus dem ganzen Verhalten der Partei. Auch die Auslassungen des Herrn Abgeordneten Dr. Schepp beweisen, dass die Fortschrittliche Volkspartei anscheinend diesen Antrag nicht annehmen will. Es ist für uns politisch von allergrößter Wichtigkeit (Heiterkeit im Zentrum.), das festzunageln und damit von Neuem scharf die Grenze zu ziehen, auch gegen die Fortschrittliche Volkspartei. (Zuruf im Zentrum: „Schreckliche Drohung!") Schreckliche Drohung ? – Es ist eine Aufklärung, meine Herren, so liegt es, und jede Aufklärung ist uns nützlich.

Aber, meine Herren, den Antrag, den wir in Bezug auf die Kinderfürsorge7 gestellt haben, den dürfen Sie nicht ablehnen. Die Argumente, die Herr von Goßler, die Herr von Kardorff vorgebracht haben und die vom Zentrum vorgebracht sind, sind nichts als Spiegelfechtereien. (Große Heiterkeit im Zentrum und rechts.) Denn darüber ist doch gar kein Zweifel: Woher ein Antrag kommt, ist gleichgültig. Wenn der Gedanke richtig ist, wie Sie anerkannt haben und nicht bestreiten konnten, dann müssen Sie eben einfach auch dem Gedanken entsprechend handeln. Aber Sie benutzen die Tatsache, dass wir diesen Antrag eingebracht haben, als Vorwand, um diesen Antrag abzulehnen, der Ihnen unbequem ist, wenn Sie auch mit Worten behaupten, dass er an und für sich Ihrer Tendenz entspräche. Das ist uns außerordentlich wichtig, dass man in diesem Hause zwar bereit ist, Millionen für die Jugend aufzuwenden, die man politisch beeinflussen kann, dass man aber für die Jugend im früheren Alter, die es mindestens ebenso nötig hat, der Fürsorge teilhaftig zu werden, nicht einen Pfennig übrig hat und unter den fadenscheinigsten Vorwänden unsere Anträge in dieser Beziehung abweist.

Ich bekenne Ihnen ganz offen: Wir wussten, wie es kommen wird; wir wussten, dass Sie unsere Anträge ablehnen werden; wir haben aber diese Anträge trotz alledem gestellt, um für den Fall, dass sie nicht angenommen werden, Sie wenigstens vor aller Öffentlichkeit auf die wirkliche Tendenz Ihrer Jugendpflege festgenagelt und damit den Schleier von all diesen scheinheiligen Redensarten heruntergerissen zu haben, mit denen diese staatliche Jugendpflege, die ein Jugendtrutz und kein Jugendschutz ist, verbrämt worden ist. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, Sie mögen sagen, was Sie wollen, der Fuchs zappelt im Eisen. In dem Augenblick, wo Sie unsere Anträge ablehnen, sind Sie vor aller Welt gebrandmarkt (Lachen rechts und im Zentrum.), vor aller Welt gebrandmarkt! Und das Wesen Ihrer Bestrebungen ist so deutlich durch Ihre eigene Abstimmung festgelegt, dass Sie nicht mehr darum herum können.

Meine Herren, der Herr Minister hat davon gesprochen und ebenso Herr Hackenberg, dass die Sozialdemokratie die Jugend niemals auf die Dauer werde befriedigen können, weil sie nur Hass und nicht Liebe säe, weil sie den Kindern nichts für das Gemüt gebe.

Meine Herren, das ist ein Zeugnis vollkommenster Unkenntnis des Wesens der Sozialdemokratie. Tatsache ist, dass die Sozialdemokratie in der Jugend des Volkes eine gewaltige, reine Liebe entzündet, eine gewaltige, reine Liebe für alles Große, Edle und Ideale, für die Gesamtheit, für die Volkswohlfahrt, für die großen Ziele des Menschengeschlechts. Und der Hass, der in der Jugend allerdings vorhanden ist, das ist derselbe Hass, von dem einst Friedrich Schiller entbrannt war, als er sein „in tyrannos" schrieb und als er von seinem Talisman sprach, der die Tyrannen vernichten müsse. Meine Herren, das ist der Hass gegen das Schädliche und das Volksfeindliche in unserer Gesellschaftsordnung. Also, indem das Volk dieses Volksfeindliche hasst, drückt es seine Liebe aus für das Volk selbst („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.), darum allein handelt es sich schließlich.

Sollen wir denn etwa das Volk erziehen zur Liebe für die Knute, die das Volk züchtigt? Nein, die Knute soll gehasst werden, und die Unterdrückung, die von Ihnen (nach rechts) propagiert wird, soll gehasst werden; die Rechtsungleichheit soll gehasst werden von der Jugend. Die Ausbeutung soll gehasst werden; unsere Gesellschaftsordnung, soweit sie Not und Elend in das Volk hinein trägt, soll gehasst werden. Geliebt werden aber soll alles dasjenige, was wirklich der Volkswohlfahrt dient.

Es ist auch Ihnen (nach rechts) nicht möglich, nur „Liebe" zu verbreiten, denn bei Ihnen liegt es umgekehrt: Sie beglücken mit Ihrer Liebe die Knute, die das Volk schlägt („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.), den Kürassierstiefel, der das Volk treten soll, und die Flinten und Säbel, die bei Streiks und ähnlichen Gelegenheiten auf Vater und Mutter schießen und schlagen sollen. Und Sie, meine Herren, Sie hassen das Volk in seiner Gesamtheit, Sie betrachten es als das Ihnen feindliche Objekt Ihrer Gesetzgebung und Verwaltung. Also, Ihr Hass richtet sich gegen die Volksgesamtheit und Ihre Liebe auf dasjenige, was das Volk unterdrückt und schädigt. Meine Herren, auch Sie also lieben nicht nur, sondern Sie hassen, Sie hassen die Sozialdemokratie und alle freien Regungen des Proletariats!

Meine Herren, ich stelle jedem die Wahl: Was ist besser, mit seinem Hass zu verfolgen die Masse des Volkes und zu lieben die Unterdrückung oder zu hassen die Unterdrückung und zu lieben die große Masse des Volkes? („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.) Ich glaube, die Wahl kann nicht schwerfallen. Und das ist das große Ideal, das die Jugend des Proletariats gerade durch die Sozialdemokratie beschert bekommt. Die Jugend des Proletariats, die bisher nicht von der Sozialdemokratie erfüllt worden ist, sie hat allerdings das Paradies verloren durch die Schuld unserer Gesellschaftsordnung; aber sie erhält von der Sozialdemokratie ein Paradies zurück; denn die sozialdemokratische Weltanschauung ist es, die die Begeisterung für große Ziele und für alles Große, was die Menschheit geleistet hat, erweckt und systematisch fördert. Meine Herren! Von dem dunklen Hintergrunde unserer heutigen Gesellschaftsordnung hebt sich die proletarische Jugendbewegung leuchtend ab. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Sie mögen gegen diese Jugendbewegung alle Hunde hetzen, alle Polizeihunde und alle sonstigen Hunde, Sie werden mit ihr nicht fertig werden! („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, Sie denken, wir haben Angst vor Ihnen? Das ist eine Selbsttäuschung. Sie können des einen versichert sein: Nichts hat so sehr gerade die Wirkung beschleunigt, die der Herr Kultusminister vorhin beklagt hat, nämlich die Förderung der Jugendbewegung durch die Sozialdemokratische Partei und durch die Gewerkschaften, wie der unbarmherzige, rücksichtslose und zum großen Teil ungesetzliche Kampf, der von Regierungs wegen gegen sie geführt worden ist. Diese Jugendbewegung wäre niemals so rasch vorangeschritten, wenn, nicht in dieser Weise gegen sie gearbeitet worden wäre. Unsere Jugend lässt sich – dessen können Sie sicher sein - mit Gewalt ihre Ideale nicht austreiben. (Abgeordneter Hoffmann: „Sehr richtig!")

In der Denkschrift ist die Rede von der riesigen Werbekraft, die unter anderem die große Jahn-Feier in Berlin8 entfaltet habe, die eine große Summe Geld verschlungen hat. Ja, meine Herren, damit Sie sehen, was es mit dieser Werbekraft für Berlin und Umgegend auf sich hat, gestatte ich mir doch, darauf hinzuweisen, dass die Sozialdemokratie in Berlin von den Wahlen 1907 bis 1912 zugenommen hat von 66,2 auf 74,9 Prozent. (Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, Sie dürfen die Geduld des Hauses nicht zu sehr in Anspruch nehmen. (Lebhafte Zustimmung rechts und im Zentrum.) Diese Dinge gehören nicht in die Erörterung über die Jugendpflege. („Sehr richtig!" „Bravo!")

Liebknecht: Meine Herren, ich bin zwar anderer Ansicht (Lachen rechts, im Zentrum und bei den Nationalliberalen.) – Gott, meine Herren, seien Sie doch nur mal ganz ruhig. Der Zweck, den Sie mit der Jugendbewegung verfolgen, ist doch die Schwächung der Sozialdemokratie. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Wenn ich Ihnen also nun beweise, dass die Sozialdemokratie durch Ihr Vorgehen nicht geschwächt, sondern gestärkt wird, und Sie damit mit Ihrer Politik ad absurdum führe, dann gehört das wohl zur Sache. (Widerspruch. Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident: Herr Dr. Liebknecht, das gehört nicht zur Sache. Sie könnten sonst die ganze Politik gegenüber der Sozialdemokratie aufrollen. Das dürfen Sie in diesem Zusammenhang nicht.

Liebknecht: Meine Herren, ich rede ja gar nicht für Sie; das wissen Sie.

Meine Herren, dass Sie keine großen Ideale mehr vertreten, dass es alles Talmiideale und Pseudoideale sind, die Sie hier auch in der Jugendbewegung dem Volke vorsetzen möchten, darüber sind Sie sich selbst wohl klar. Aber, meine Herren, Ihr Bemühen ist vergeblich, mit derartigen Talmiidealen und mit derartigen Gewaltmitteln irgendwie Eindruck auf die Jugendbewegung des Proletariats zu machen. Der Kampf, den Sie da führen, das ist ein Peitschen des Meeres (Unruhe.), so wie es jener Perserkönig getan hat. (Andauernde Unruhe. Wiederholte Zurufe: „Drei Stunden!" und „Schluss!" Glocke des Präsidenten.) – Ich sehe zu meiner Freude, dass der Herr Präsident mich in Schutz nimmt gegen den Lärm, den dieses Haus macht. Aber, meine Herren, lärmen Sie nur ruhig weiter, unterhalten Sie sich ruhig über den Gestütetat und über ähnliche, Sie lebhaft interessierende Dinge. Ich bin fest überzeugt, dass es durchaus nicht meines Amtes ist, Sie von diesen Sie interessierenden, weltbewegenden Dingen abzulenken. („Sehr richtig!" rechts.)

Meine Herren, ich sage Ihnen das eine: Es ist eine Sisyphusarbeit, die Sie hier leisten; Sie mögen noch so viel Geld auf diese Sorte von Jugendpflege verwenden, es ist ein Danaidenfass, in das Sie es hineinschütten. Was Sie schließlich der Jugend an Wissen beibringen werden, was davon hängen bleibt, das wird für uns nutzbar gemacht werden, dank dem gesunden Geiste, von dem die Jugend erfüllt ist, und dank der Tatsache, dass die Jugend nicht nötig hat, erst durch „sozialdemokratische Jugenderziehung" zu uns zu kommen, sondern zu uns gebracht wird durch die gesamte politische Entwicklung, dass sie zu uns kommt zugleich mit der Gesamtentwicklung der Sozialdemokratischen Partei und dass sie ebenso untrennbar wie diese verbunden ist mit den persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen jedes einzelnen, mit der Entwicklung unseres gesamten gesellschaftlichen Lebens.

Meine Herren, Sie könnten unter Umständen im Kampfe gegen die sozialistische Jugendbewegung und in Ihrem Kampfe gegen die Verrohung der Jugend und die vielen sozialen Missstände, die hier bestehen, Erfolg haben. Aber nur, wenn Sie sich dazu entschließen, in energischer und rücksichtsloser Weise unter politischer Unparteilichkeit soziale Fürsorge größten Stiles zu treiben, dem Volke politische Freiheit zu geben und das Volk zu befreien von der ökonomischen Ausbeutung, von den Schäden des Kapitalismus.

Kurzum, meine Herren, Sie können Erfolg haben, aber nur dann, wenn Sie in Ihrer Arbeit die Wege verfolgen, die die Sozialdemokratie verfolgt. Die einzige Möglichkeit die Sozialdemokratie zu überwinden ist, ihre Bestrebungen zu erfüllen. Aber dergleichen von Ihnen hier zu erwarten, das ginge viel zu weit. Sie, meine Herren, werden Ihren Kampf in der von Ihnen verstandenen beschränkten Weise weiterführen, mit Mitteln der Verdummung und Irreführung und Vergewaltigung. Meine Herren, wir gratulieren Ihnen zu dem Erfolge, den Sie dabei haben werden. Wir können Ihnen schon heute versichern: Der Erfolg wird sein eine gewaltige weitere Stärkung der Jugendbewegung des Proletariats, die ebenso unüberwindlich ist wie die gesamte proletarische Bewegung, wie die Sozialdemokratie, die einstens Ihr Totengräber sein wird, mögen Sie sich noch so sehr mit Händen und Füßen sträuben.

1 Im Jahre 1911 stellte die preußische Regierung erstmalig eine Million Mark zur Finanzierung der staatlichen „Jugendpflege" zur Verfügung. Die Red.

2 Wahlspruch der Deutschen Turnerschaft. Sie war eine bürgerliche Turnerorganisation, gegründet 1860 in Coburg. Die bürgerliche Turnbewegung, die anfänglich noch teilweise Trägerin bürgerlich-liberaler Ideen war, wurde mit der Entwicklung des Imperialismus immer mehr zu einem reaktionären Hilfsinstrument des deutschen Militarismus. 1912 schloss sich die Deutsche Turnerjungdeutschlandbund an, und seit 1913 gab sie gemeinsam mit dem Jungdeutschlandbund die Zeitung „Jungdeutschlandpost" heraus.

3 Gemeint ist die bürgerliche Pfadfinderbewegung. Die Red.

4 Eine im Januar 1912 gegründete militaristische und chauvinistische Propagandaorganisation des deutschen Monopolkapitals. Es handelt sich wie beim Deutschen Flottenverein um eine Tochterorganisation des Alldeutschen Verbandes, der Haupt- und Dachorganisation des deutschen Imperialismus zur systematischen ideologischen Kriegsvorbereitung. Sein besonderes Ziel war es, für die Verstärkung des Landheeres und dessen Erfüllung mit aggressivem Geiste einzutreten. Die beiden Heeresvorlagen der Jahre 1912 und 1913 sind unmittelbar mit d.. Entstehung und der Tätigkeit des Deutschen Wehrvereins verknüpft. Die Leitung hatte der Militarist General Keim, der sich bereits als Propagandist und langjähriger Vorsitzender des Deutschen Flottenvereins und als führendes Mitglied im Alldeutschen Verband hervorgetan hatte. Weitere führende Mitglieder des Wehrvereins waren General Lietzmann, Otto Fürst zu Salm, General Liebert, der gleichzeitig Leiter des „Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie" war, der Historiker der Alldeutschen Schule Dietrich Schäfer, der 1912 zweiter Vorsitzender des Wehrvereins wurde, der sogenannte Kathedersozialist Prof. Dr. Adolf Wagner, der reaktionäre Germanist an der Berliner Universität Prof. Rötke, der Historiker Friedrich Meinecke, der Massenschreiber bei den Alldeutschen Prof. Schiemann, der Historiker Georg von Below und Graf von der Goltz, Generalmajor a. D. und Vorsitzender der Vereinigten Vaterländischen Verbände (denen sowohl der Alldeutsche Verband, der Ostmarken-Verein, der Flottenverein, der Wehrverein und zahlreiche andere Organisationen dieser Art angehörten).

5 Gemeint ist die im Dezember 1908 gebildete Zentralstelle für die arbeitende Jugend Deutschlands, die sich zu gleichen Teilen aus Vertretern der Partei, der Gewerkschaften und der Jugend zusammensetzte und in der die opportunistischen Partei- und Gewerkschaftsvertreter das Übergewicht hatten. Vorsitzender dieser Jugendzentralstelle war der Opportunist Friedrich Ebert.

6 Dieser Antrag (Nr. 159) forderte, künftig den staatlichen Fonds zur „Jugendpflege" „ohne Rücksicht auf das religiöse oder politische Bekenntnis der Veranstalter paritätisch zu verteilen, insbesondere auch an die Organisationen und Veranstaltungen der freien Jugendbewegung". Weiter sollte über die Verwendung des Fonds im einzelnen jährlich zugleich mit dem Etat Rechnung gelegt werden, und zwar „unter genauer Bezeichnung der Empfänger der einzelnen Beträge". Die Red,

7 Dieser Antrag (Nr. 158) enthielt die Forderung, in den Etat des nächsten Jahres einen Betrag von 1,5 Millionen Mark einzusetzen, der zu Beihilfen zum Schutz von Kindern „vor Missbrauch, Ausbeutung und Misshandlung" zu verwenden sei. Dieser Betrag sei „ohne Rücksicht auf die religiöse oder politische Gesinnung der Veranstalter paritätisch zu verteilen und über die Verwendung des Fonds im Einzelnen alljährlich zugleich mit dem Etat Rechnung zu legen, und zwar unter genauer Bezeichnung der Empfänger der einzelnen Beträge". Die Red.

8 Es handelt sich um die Hundertjahrfeier der Eröffnung des ersten Turnplatzes in der Berliner Hasenheide durch Friedrich Ludwig Jahn am 17. und 18. Juni 1811. Die Red.

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