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Karl Liebknecht 19120322 Gegen die Willkür der Schulaufsichtsorgane

Karl Liebknecht: Gegen die Willkür der Schulaufsichtsorgane

Begründung zweier sozialdemokratischer Anträge1 im preußischen Abgeordnetenhaus bei der Beratung des Titels Elementarunterrichtswesen des Kultusetats

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, V. Session 1912/13, 3. Bd., Berlin 1912, Sp. 3413-3432, 3388 f. und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 5, S. 140-170]

I

Politik in der Volksschule

Ich gehe zunächst auf eine Frage ein, die nicht unmittelbar mit unseren Anträgen zusammenhängt, und deren eingehendere Erörterung ich mir gleichfalls für einen späteren Titel vorbehalte, auf die Frage der Politik in der Volksschule. Meine Herren, wir haben wiederholt Klage zu führen gehabt, dass, ganz entgegen der zur Schau getragenen Absicht der Nichtpolitisierung der Jugend, von der Staatsverwaltung Politik in die Schule hineingetragen wird. In einem allgemeinen Sinne ist ja die Politisierung unserer Volksschule eine unzweifelhafte Tatsache, nämlich in dem Sinne, der von meinem Freunde Borchardt und meinem Freunde Hirsch dargelegt ist. Die ganze Auswahl der Ordnung des Stoffes, die ganze Art, in der der Stoff der Jugend unterbreitet wird, schließt bereits eine ganz bestimmte politische Tendenz in sich. Aber abgesehen davon ist auch ein unmittelbares, ganz unverhülltes Hineintragen der Parteipolitik, der parteipolitischen Agitation in die Volksschule in immer verstärktem Maße zu verzeichnen, und in Wahlzeiten tritt diese Erscheinung in besonders drastischer Weise zutage. Es liegt mir darüber eine große Menge Material vor; ich will nur einige Fälle vortragen.

So ist in der evangelischen Volksschule von Datteln im Münsterlande von dem Hauptlehrer an die Schüler der sogenannte Volkskalender des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie verteilt worden,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

meine Herren, ein von Lügen und Verleumdungen gegen die Sozialdemokratie strotzendes Buch, verteilt in einer Schule, die in der Hauptsache von Arbeiterkindern besucht wird, deren Eltern zum großen Teil Sozialdemokraten sind; ebenso in der evangelischen Schule in Weitmar bei Bochum. Serienflugblätter des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie sind von Lehrern der Bismarckschule in Langendreer unter den Kindern verteilt worden.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Im November vorigen Jahres sind von einem Lehrer in Niederstüter bei Bochum derartige Flugblätter in von der Nationalliberalen Partei gelieferten Kuverts den Kindern zur Überbringung an die Eltern mitgegeben worden.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Ein Lehrer in Bommern bei Witten, der dem Amtmann recht nahe stand, hat als nationaler Wahlmacher bei der Gemeinderatswahl von Kindern seiner Klasse bei den Witwen in der Gemeinde vorsprechen und bitten lassen, doch für ihren Herrn Lehrer die Vollmachten zur Wahl zu unterschreiben, damit der Herr Lehrer für sie alle in seinem politischen Sinne wählen könne.

Meine Herren, im Februar 1912 hat ein katholischer Lehrer in Horstermark (Kreis Recklinghausen) den Papierkorb nach Zeitungen durchsucht und dabei ein Exemplar der Bergarbeiterzeitung gefunden, in der ein Junge sein Frühstück mitgebracht hatte. Der Junge – es war ein Bergmannssohn – musste aufstehen und wurde einem hochnotpeinlichen Verhör unterzogen, als oh die Schulen Kasernen wären, in die solche „sozialdemokratische" Zeitungen nicht eingeschmuggelt werden dürfen.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Es wurden dem Jungen gehörige Vorhaltungen gemacht, und er musste die Zeitung aus der Schule tragen und weit wegwerfen.

Meine Herren, das ist noch nicht das Schlimmste. In der Antoniusschule in Brank (Kreis Recklinghausen) klärte der Lehrer die Kinder über den Sozialismus folgendermaßen auf:

In Polen bestehe bei verschiedenen Gutsherrn noch die Leibeigenschaft. Die Polen würden dort von einem Reiter mit der Peitsche zur Arbeit getrieben; wenn sie fortliefen, kämen sie nach Westfalen und würden Sozialdemokraten. Arbeiten wollten sie dann nicht, sondern die Hände in die Taschen stecken und der Arbeit zusehen. Die Sozialdemokraten wären noch nicht zufrieden, wenn sie auch 100 Mark an einem Tage verdienten. Bei den Gutsbesitzern hätten die Polen im Schweinestall gewohnt, und hier erhielten sie schöne Zechenwohnungen und wären doch nicht zufrieden. Wenn es zu machen ginge, müssten alle Sozialdemokraten an Kanonenkugeln gebunden und fort geschossen werden.

In der Almaschule zu Gelsenkirchen-Ückendorf – das ist ein Vorort von Gelsenkirchen, wie Sie wissen – hielt am 17. Oktober 1911 eine Lehrerin einen Vortrag über die Französische Revolution. Nachdem diese Dame die Ereignisse der Revolution geschildert und den „Königsmord" beleuchtet hatte, hat sie nach übereinstimmenden Bekundungen der Kinder erklärt: „So wollen es die Sozialdemokraten auch machen.“

Bei den jetzigen Reichstagswahlkämpfen sind in zahlreichen Orten Westfalens die Schüler von Lehrern zum Austragen von Flugblättern für die sogenannten nationalen Parteien angehalten worden; so in Bochum, Herne, Höntrop, Buchholz, Langenberg und Weitmar.

Meine Herren, das ist längst nicht alles; ich habe noch einen ganzen Posten von Einzelheiten, die sich nicht bloß auf jene Gegenden beziehen, von denen ich eben gesprochen habe. Ich bin gern bereit, für den Fall, dass diese Dinge noch weiteres Interesse beanspruchen, noch mehr Material mitzuteilen. Ich habe die Einzelheiten vorgebracht, weil sie nicht Einzelheiten sind, sondern typische Erscheinungen; weil wir dasselbe, was wir hier in Westfalen in diesen Fällen erlebt haben, in ganz Deutschland beobachten mussten, weil speziell zur Zeit der Reichstagswahl die Volksschüler von ihren Lehrern häufig genug in geradezu unerhörter Weise zur politischen Agitation, zum Austragen von Flugblättern usw. angehalten werden, und weil es ein sehr weit verbreiteter Brauch ist, dass die Lehrer ihrem blinden Hass gegen die Sozialdemokratie auch im Unterricht ganz ungeniert die Zügel schießen lassen. Meine Herren, es ist wichtig, diese Tatsache festzuhalten und gegenüberzustellen dem Verhalten, das die Regierung, die Schulaufsichtsbehörde und die Polizei in anderen Fällen zeigt, wo durchaus nicht etwa Unterricht vorliegt in dem Sinne, in dem ganz allein der Begriff des Unterrichts verstanden werden kann, und wo durchaus nichts Politisches erörtert wird, wie dann die Unterrichtsverwaltung und die Polizei mit Feuer und Schwert eingreifen, Unterrichtserlaubnisscheine fordern, Veranstaltungen für „politisch" erklären, während sie selbst in der allereinseitigsten Weise in der Schule Politik treiben und dulden und so zu Dissonanzen in der Familie beiträgt.

[Unterrichtsverwaltung gegen Arbeiterorganisationen]

Meine Herren, ich habe mich nun mit dem Kampf zu befassen, den die Unterrichtsverwaltung gegen die Arbeiterturnvereine, die Arbeitergesangvereine und andere Arbeiterorganisationen führt, ebenso wie gegen polnische Gesangvereine, polnische Turnvereine usw. Die polnischen Organisationen werden in dieser Beziehung ebenso behandelt wie die sozialdemokratischen Organisationen. Im vergangenen Jahre hat es sehr lebhafte Auseinandersetzungen mit dem Herrn Kultusminister über diese Angelegenheit gegeben. Der Herr Kultusminister erklärte damals, nachdem ihre die Praxis seiner Behörden in Bezug auf die Unterrichtserlaubnisscheine vorgehalten war, dass er eine Zirkularverfügung erlassen habe, die bezwecke, die Praxis der Schulaufsichtsbehörden in Einklang zu bringen mit jener, bekannten Entscheidung des Reichsgerichts in Sachen gegen Weber und Wildung vom 28. Juni 1910. Meine Herren, das war im März 1911; also etwa dreiviertel Jahr, nachdem die Reichsgerichtsentscheidung gefällt war, konnte uns der Herr Kultusminister die glückliche Geburt einer derartigen Zirkularverfügung anzeigen! Meine Herren, diese Zirkularverfügung haben wir bis zum heutigen Tage nicht kennengelernt; sie muss irgendwo in den geheimsten Akten des Kultusministeriums schlummern. Meine Herren, warum werden derartige allgemein interessierende Verfügungen nicht auch der Öffentlichkeit mitgeteilt, damit sie weiß, inwieweit die Kultusverwaltung ihrer Verpflichtung nachgekommen ist, sich an Gesetz und Recht zu kehren? Die Kultusverwaltung hätte zu einer derartigen Aufdeckung ihrer Praxis besonderen Grund gehabt, weil ja die Erörterungen, über diesen Punkt im vergangenen Jahre abschlossen mit schwersten Angriffen gegen das Kultusministerium, mit dem motivierten Vorwurf, dass es in der gröblichsten Weise und bewusst Gesetz und Recht breche.

Meine Herren, diese Erörterungen allein hätten dem Kultusminister Anlass geben müssen offenzulegen, ob und inwieweit diese Angriffe unbegründet waren und sind, und die Öffentlichkeit in die Lage zu setzen, sich ein eigenes Urteil über die Praxis der Unterrichtsverwaltung zu bilden. Aber daran denkt man in Preußen nicht. Öffentlichkeit kennt man in Preußen immer noch nicht, gleich jenem Landgerichtsdirektor, für den es den Begriff der öffentlichen Meinung nicht gab. Wir sind darauf angewiesen,uns den Inhalt dieser Zirkularverfügung mühselig zusammen zu konstruieren aus den einzelnen Bescheiden und Verfügungen, die das Kultusministerium und seine nachgeordneten Instanzen haben ergehen lassen. Der Kultusminister hat schon in der Antwort, die er mir am 13. März 1911 in diesem Hause gab, erklärt, dass er sich der Reichsgerichtsentscheidung in vollem Umfange nicht anschließen könne. Er müsse darauf beharren, dass der Unterricht in den Fortbildungsschulen als ein solcher zu betrachten sei, gegenüber dem ein Privatunterricht als Ersatz in Frage kommen könne, und dass in Preußen auch ein aus der Volksschule bereits entlassenes Kind, das aber noch die Fortbildungsschule besucht, für den Fall, dass ein entsprechender Gegenstand in den Lehrplan der Fortbildungsschule aufgenommen ist nunmehr auch privatim konkurrierend nur unterrichtet werden dürfe von dem, der einen Unterrichtserlaubnisschein beibringt. Ja, meine Herren, dieser Standpunkt des Herrn Kultusministers ist an und für sich durchaus abwegig. Meine Herren, es ist ja doch wohl ganz offenbar, dass die Fortbildungsschule einen durchaus anderen Charakter besitzt als die allgemeine Volksschule. Die allgemeine Volksschule stellt sich zur Aufgabe, die Gesamtheit der Ausbildung des Kindes in die Hand zu nehmen. Die Fortbildungsschule ist ihrem ganzen Wesen, ihrem Begriffe nach nichts anderes als ein Ergänzungsinstitut, als eine in gewissen Beziehungen die Mängel unserer Volksbildung ausgleichende Unterrichtseinrichtung, die sich aber durchaus nicht anheischig macht, das Zentrum für die gesamte Ausbildung der der Schule bereits entlassenen Jugend zu sein und die gesamte Ausbildung zu führen. Sie ist ihrem Begriffe nach nur eine Ergänzungsanstalt, nicht eine den Unterricht erschöpfende Anstalt. Gerade aus dem Wesen der Volksschule als einer Einrichtung, die bezweckt, den gesamten Unterricht, die gesamte Ausbildung der Jugend erschöpfend in die Hand zu nehmen, gerade aus diesem Wesen ganz allein kann gefolgert werden, dass ein Privatunterricht, der damit konkurriert, nunmehr auch der Schulaufsicht unterliegt, weil prinzipal dieser Unterricht dem Staate gebührt, der den Anspruch erhebt, überall in vollem Umfange seinerseits auszubilden und zu unterrichten.

Bei den Fortbildungsschulen liegt es durchaus anders: da erhebt der Staat durchaus nicht den Anspruch; er erhebt nicht nur nicht den Anspruch, in allen notwendigen Fächern das Kind weiterzubilden, sondern er erhebt nicht einmal den Anspruch in den Fächern, in denen die Kinder in den Fortbildungsschulen unterrichtet werden, sie in dieser Beziehung ausschließlich bilden zu wollen. Er will ihnen bloß eine Anleitung, eine kleine Wegweisung geben, während sie im Übrigen auf sich selbst gestellt sein sollen. Daraus allein ergibt sich bereits, dass, selbst soweit irgendwelche Lehrgegenstände in die Fortbildungsschule aufgenommen sind, keine Rede davon sein kann, dass man nunmehr diese Unterrichtsgegenstände in der gleichen Weise betrachtet wie die Unterrichtsgegenstände, die zu dem Lehrplan der allgemeinen Volksschule gehören.

Danach ist der rechtliche Standpunkt des Herrn Kultusministers meiner Überzeugung nach durchaus unhaltbar. Tatsache ist weiter, dass auch das Reichsgericht sich in der erwähnten Entscheidung auf einen Standpunkt gestellt hat, der sich nicht mit dem Standpunkt des Herrn Kultusministers deckt. Der Minister ist infolgedessen auch genötigt, von einem „Übersehen" zu sprechen, dessen sich das Reichsgericht schuldig gemacht habe.

Nun, meine Herren, ist es meines Wissens allerdings richtig, dass das Reichsgericht gegenwärtig wiederum mit der Frage befasst ist. Mir ist der Fall im Einzelnen nicht bekannt. Ich weiß aus Pressemeldungen, dass eine Plenarentscheidung herbeigeführt werden soll. Ich weiß allerdings nicht, welche spezielle Frage es ist, über die das Reichsgericht hier in pleno entscheiden will. Vielleicht ist es die Frage, die der Herr Kultusminister aufgeworfen hat, die Frage des Charakters eines mit dem Fortbildungsschulplan konkurrierenden Privatunterrichts als eines Ersatzunterrichts im Sinne jener Entscheidung des Reichsgerichts vom 28. Juni 1910. Wie dem auch sei, der Herr Kultusminister hat keine Veranlassung, sich über die bisherige Judikatur hinwegzusetzen.

(Abgeordneter Styczyriski: „ Sehr wahr!")

Meine Herren, wenn die Unterrichtsverwaltung meint, die Rechtsprechung des Reichsgerichts sei unzutreffend, dann gibt es für sie meiner Ansicht nach nur eine Möglichkeit: Sie fügt sich zunächst einmal der höchstrichterlichen Entscheidung. muss sich nicht jeder einzelne deutsche Staatsbürger auch einer Judikatur fügen, die er für noch so falsch hält? Und hat er nicht auch nur die eine Möglichkeit, gegen diese Judikatur anzugehen, indem er die Frage erneut zur Entscheidung bringt?

(„Sehr richtig!")

Diese Möglichkeit soll natürlich dem Kultusministerium nicht verschlossen sein. Wir empfinden es aber als eine große Brüskierung unserer ordentlichen Rechtsprechung, dass das Kultusministerium, wenn es mit der Entscheidung des Reichsgerichts nicht einverstanden ist, einfach sagt: Wir fügen uns der Reichsgerichtsentscheidung nicht und werden so lange entsprechend unserem Gusto, unserer Rechtsauffassung handeln, bis wir erreicht haben werden, dass das Reichsgericht seine Judikatur umgestaltet hat.

(„Hört! Hört!")

Meiner Ansicht nach muss sich das Kultusministerium so lange der Rechtsprechung fügen, gerade als eine zur Innehaltung der Gesetze berufene staatliche Instanz,

(„Sehr richtig!")

also den sogenannten Untertanen in Preußen, von denen doch ein derartiges Verhalten verlangt wird, mit gutem Beispiele vorangehen, nicht aber in der Missachtung unseres höchsten Gerichtshofes einen Rekord schlagen, den zu schlagen sich niemals eine Privatperson gestatten dürfte.

(„Sehr richtig!")

Es ist nun von dem Herrn Kultusminister in der Praxis eine Stellung eingenommen worden, die sich recht erheblich unterscheidet von den Grundsätzen, die in allgemeinen Zügen der Herr Kultusminister am 13. März 1911 hier kundgetan hat. In der Praxis geht er nämlich noch sehr viel weiter, als er dort als sein gutes Recht in Anspruch genommen hat, obwohl es sein gutes Recht nicht ist.

Meine Herren, ich habe hier in den Händen eine große Anzahl von Fällen, mit denen ich Sie meinem Versprechen gemäß im Einzelnen vorläufig nicht befassen will. Es wird sich ja vielleicht Gelegenheit finden, bei der allgemeinen Erörterung über die Jugendpflege noch einmal mit gewissen Gedankengängen herüber zu schweifen in diese Materie, die ja auch in die allgemeine Jugendpflege hineingehört.

Meine Herren, wir müssen uns die Rechtslage vergegenwärtigen, um ein klares Verständnis zu bekommen von dem unglaublichen Verhalten des Kultusministeriums in der Schulaufsichtsfrage.

Entscheidend ist, nach dem Urteil des Reichsgerichts vom 28. Juni 1910, die Allerhöchste Kabinettsorder vom 10. Juni 1834 und die daraufhin ergangene Ministerialinstruktion vom 31. Dezember 1839. Die sonst noch zitierten Verfügungen, Kabinettsorders und Regierungsinstruktionen beziehen sich nur auf die Strafbefugnis, kommen also hier nicht in Betracht.

In der Kabinettsorder von 1834 heißt es:

Da die Erfahrung ergeben hat, dass Missbräuche entstehen, hat sich der König bewogen gefunden, die Bestimmungen des Gewerbepolizeigesetzes wiederum aufzuheben und das Erfordernis der nachzuweisenden Qualifikation für diejenigen Personen, welche Privatschulen und Pensionsanstalten errichten oder",

und jetzt kommt das Wort, das sich das Kultusministerium endlich einmal blau unterstreichen sollte,

ein Gewerbe daraus machen, Lehrstunden in den Häusern zu geben usw."

und dann wird verfügt:

„… festzusetzen, dass ohne das Zeugnis der örtlichen Aufsichtsbehörde keine Schul- und Erziehungsanstalt errichtet, auch ohne dasselbe niemand zur Erteilung von Lehrstunden als einem Gewerbe zugelassen werden darf."

In der Ministerialinstruktion heißt es:

Personen, welche ein Gewerbe daraus machen, in solchen Gegenständen, die zum Kreise der verschiedenen öffentlichen Schulen gehören, Privatunterricht … zu erteilen, sollen ihre Befähigung dazu nachweisen."

Sie sehen also, meine Herren, dass hier einmal von einem Unterricht im Sinne des Allgemeinen Landrechts, im Sinne der Schule die Rede ist, und weiter davon, dass dieser Unterricht nur dann, wenn er zu einem Gewerbe gemacht wird, der Schulaufsicht unterliegen soll.

Wir müssen also zunächst erwarten, dass das Kultusministerium und die Schulaufsichtsbehörde in jedem einzelnen Falle genau prüft, ob ein Unterricht in diesem Schulsinne vorliegt oder nicht. Meine Herren, wir haben Fälle gehabt, in denen irgendeine Vorlesung, zum Beispiel aus Treitschke, irgendein Vortrag, zum Beispiel über eine Wanderung durch Afrika von unserem Parteifreunde Däumig, als Unterricht bezeichnet worden ist.

(„Hört! Hört!" links.)

Wenn ein Arbeiter, der Mitglied des Arbeiterturnvereins ist, für einen Abend den Jungens mal zeigen will, wie geturnt werden muss – Turnunterricht. Wenn irgendein Arbeiter durchaus nicht gewerbsmäßig und keineswegs im Sinne eines systematischen Unterrichts einmal eine Gesangsübung dirigiert oder dergleichen – Unterricht.

Aber, meine Herren, das ist doch alles kein Unterricht im Sinne des Schulunterrichts. Natürlich lernen wir ja überall, und insofern derartige Vorträge und Handlungen eine belehrende Wirkung ausüben, kann man sie natürlich auch als etwas Belehrendes bezeichnen. Aber nicht alles, was belehrend ist, ist darum auch schon Unterricht.

(„Sehr richtig!" bei den Polen.)

Die Schulverwaltung stellt sich einfach auf den Standpunkt, dass alles, was irgendwie den Charakter des Belehrenden trägt, als ein Unterricht betrachtet wird. Dem muss auf das Allerentschiedenste entgegengetreten werden.

(„Sehr wahr!" links.)

Mir ist besonders aus Oberschlesien in durchaus glaubhafter Weise versichert worden, dass Exekutivstrafen von 300 Mark für jeden einzelnen Fall verhängt worden sind, wo der Betreffende – ein gewisser Poniecki, von dem ich schon im vorigen Jahre sprach – zum Beispiel bei einer Feier einen Chorgesang, an dem auch Kinder teilnahmen, dirigiert hat.

(„Hört! Hört!" links.)

Ja, meine Herren, wenn das Dirigieren eines Chores unter den Begriff des Unterrichts fallen soll, dann kann eigentlich nichts mehr, was einen belehrenden Charakter trägt, nicht als Unterricht bezeichnet werden. Es ist dann ein Unterricht, wenn man den Kindern eine Zeitung in die Hand gibt; dann muss man es verbieten können, den Kindern Bücher in die Hand zu geben, denn sie üben einen belehrenden, also unterrichtlichen Einfluss aus; dann darf man mit den Kindern nicht mehr spazieren gehen und sie auf die Natur, auf das, was sie sehen, hinweisen; dann darf man überhaupt gar nicht mit ihnen reden und sich mit ihnen befassen – die ganze Erziehungstätigkeit ist damit gänzlich von der Staatsgewalt usurpiert, und zwar in einem Umfange, in dem der Staat die Erziehungsgewalt gar nicht auszuüben vermag.

(„Sehr richtig!" links.)

Meine Herren, weshalb fordert der Kultusminister nicht von jedem Vater und von jeder Mutter in Preußen einen Unterrichtserlaubnisschein?

(„Sehr wahr!" bei den Polen – Rufe bei den Sozialdemokraten: „Das kommt noch!")

Ja, natürlich, das wird auch noch kommen, davon bin ich fest überzeugt. Denn nach der Auffassung der Unterrichtsverwaltung liegt es doch so, dass für die Eltern, für jeden Bruder, jede Schwester genau dasselbe zu gelten hat wie für irgendeine fremde Person; ein Unterschied wird schlechterdings nicht gemacht.

Und, meine Herren, soll ich noch besonders betonen, wie wenig es einem verständigen Rechtsempfinden entspricht, so weit in der Auslegung des Begriffs Unterricht zu gehen, wie die Kultusverwaltung es tut? Jeder Einzelne von uns empfindet das. Ich behaupte, auch Sie auf der Rechten wissen ganz genau, dass das kein Unterricht ist in dem Sinne, wie es die Kabinettsorder gemeint hat. Und wenn trotz alledem ein anderer Standpunkt eingenommen wird, so geschieht es entweder aus politischer Verblendung oder aus politischer Schikane.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten und bei den Polen.)

Meine Herren, weiter: Es ist notwendig, dass aus dem Unterricht ein Gewerbe gemacht werde. Nun weiß die Kultusverwaltung ganz genau – weil das auch bereits in dem Reichsgerichtsurteil in Sachen Weber und Wildung hervorgehoben worden ist –, dass in der bei weitem größten Mehrzahl der Fälle ein gewerbsweiser Unterricht in den Arbeiterturnvereinen, den Arbeitergesangvereinen nicht stattfindet, selbst wenn man das als Unterricht betrachtet, was als Unterricht nicht betrachtet werden darf. Im Gegenteil ist es in den Arbeiterturnvereinen, entsprechend der Praxis in den Arbeiterorganisationen, im Allgemeinen üblich, dass irgendein älterer, erfahrener Genosse jeweils das Amt zum Beispiel eines Turnwarts unentgeltlich übernimmt und ausübt. Es ist also nicht nur von Gewerbsmäßigkeit keine Rede, sondern auch von Entgeltlichkeit keine Rede, und die Unterrichtsverwaltung, die Schulaufsichtsbehörde ist sicherlich auch von anderer Seite, aber, wie ich nachweisen kann, jedenfalls von mir in wiederholten Eingaben, die bis zum Herrn Kultusminister hinaufgegangen sind, darauf aufmerksam gemacht worden, dass gewerbsweiser Unterricht nicht vorliegt und dass doch mindestens stets erst eine Untersuchung darüber zu veranstalten wäre, inwieweit in jedem einzelnen Falle ein gewerbsweiser Unterricht vorliegt. Ich habe im vergangenen Jahre auch schon auf diesen Punkt aufmerksam gemacht, und trotz alledem häufen sich die Verfügungen gegen die Arbeiterturnvereine in einer geradezu unerhörten Weise,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

und zwar in Verfolg jenes Geheimerlasses vom 7. August 1907, der von dem Vorgänger des jetzigen Herrn Kultusministers herausgegeben worden ist und in dem zu einem systematischen Kampfe gerade gegen den Arbeiterturnerbund2 aufgefordert worden ist. Da ist insbesondere der Kampf gegen diese Arbeiterturnvereine mit Exekutivstrafen und dergleichen Dingen anbefohlen worden.

Meine Herren, bekanntlich hat ja, das möchte ich noch einmal hervorheben, dieser Erlass des Herrn Kultusministers in Anknüpfung an die Kabinettsorder vom Jahre 1834, die das Recht gibt und die Verpflichtung auferlegt, auch die Sittlichkeit und Lauterkeit der Gesinnung in religiöser und politischer Hinsicht bei Erteilung der Unterrichtserlaubnisscheine zu prüfen – da hat der Erlass vom 7. August 1907 am Schluss die wundervolle Direktive gegeben, dass selbstverständlich schon die Zugehörigkeit des Antragstellers zur Sozialdemokratischen Partei beweise, dass die nötige Befähigung und sittliche Tüchtigkeit für Unterricht und Erziehung ermangele.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, wir haben das ja wiederholt schon hier zur Sprache gebracht; aber es ist nötig, diese unglaubliche Anweisung, die allerdings leider in einer bekannten Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts eine gewisse Stütze findet, immer wieder zur Sprache zu bringen und immer wieder zu betonen, dass wir der Überzeugung sind, dass wir an Befähigung und sittlicher Tüchtigkeit für Unterricht und Erziehung turmhoch erhaben sind

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

über solche Leute, die mit derartig ungesetzlichen und kleinlichen Mitteln unausgesetzt gegen die Arbeiterbildungsbestrebungen vorgehen.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Infolgedessen können wir durch solche Erlasse und Urteile nicht im Allergeringsten in unserer Gemütsruhe gestört werden. Es wird durch sie auf das Deutlichste in Flammenschrift dokumentiert, dass unser Staat ein Klassenstaat ist, dass in unserem Staat Gerechtigkeit nicht vorhanden ist und dass man insbesondere nicht die Spur von Verständnis besitzt für das Wesen der gewaltigen Arbeiterbewegung,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

die schließlich doch unserer ganzen modernen Zeit den Stempel aufdrückt und das wichtigste Kulturelement unserer ganzen gegenwärtigen geschichtlichen Entwicklung darstellt.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Nun, meine Herren, das ist die Rechtslage, die ich zunächst einmal für die weitere Erörterung, die ich jetzt zu machen habe, voraussetzen will. Das Reichsgericht hat sich in der Entscheidung vom 28. Juni 1910 genau auf den Standpunkt gestellt, den ich eben vertreten habe. Die Verfügungen aber, die die Unterrichtsverwaltung bis zum Erlass dieses reichsgerichtlichen Urteils und noch bis in unsere Tage hinein getroffen hat, gehen dahin, dass Turn-„Unterricht" oder irgendein anderer „Unterricht", also zum Beispiel Gesangsunterricht, Vorträge oder dergleichen ganz unpolitischen Charakters – die Frage des politischen Charakters spielt, formell betrachtet, hier überhaupt nicht hinein – an solche Personen, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, bei Exekutivstrafen verboten werden soll.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, in diesen Verfügungen wird also einfach das Wort „jugendlich", das in den gesetzlichen Bestimmungen enthalten ist, mit „minderjährig" identifiziert,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

obwohl dazu nicht der geringste Anhalt vorhanden ist

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

und niemals gutgläubig auf eine solche Idee gekommen werden konnte angesichts der Tatsache, dass es sich um eine Maßregel der Schulverwaltung handelte, die ja – von Ausnahmen abgesehen – gar nicht den Anspruch erhebt, bis zum 21. Lebensjahr auf die Staatsbürger einzuwirken. Trotz alledem wurde an diesem Standpunkt dauernd festgehalten. Und auf Grund von Verfügungen, die schlechthin die Teilnahme von jugendlichen Personen unter 21 Jahren an derartigen Veranstaltungen untersagten, sind in Preußen Exekutivstrafen von geradezu ungeheuerlicher Höhe verhängt worden.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich habe Ihnen im vergangenen Jahre den Fall Cieslok, in dem es sich um Strafen handelt, die zusammen weit über 1000 Mark hinausgingen, und den Fall Poniecki dargelegt, in dem die Strafen über 6000 Mark hinausgegangen sind.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Das hat dazu geführt, dass der letztere Weib und Kind hat verlassen und ins Ausland gehen müssen, weil er nicht imstande war, diesen Betrag zu zahlen oder sich auf Monate hinaus in das Gefängnis einsperren zu lassen.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Denn, meine Herren, die Unterrichtsverwaltung hat sich herausgenommen, wenn eine derartige Exekutivstrafe nicht bezahlt wurde, wenn die Vollstreckung nicht erfolgreich verlief, die Betreffenden einzusperren.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten und Polen.)

Gerade vor kurzem ist wieder ein Mitglied des Arbeiterturnerbundes auf sechs Wochen ins Gefängnis gesperrt worden,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten und Polen.)

weil es angeblich gegen derartige infame Zwangsverfügungen der Kultusverwaltung vorgegangen war.

(Zurufe bei den Sozialdemokraten: „Das ist schlimmer als in Russland!")

Meine Herren, ich weise darauf hin, dass man doch wahrlich auch in diesem Hause das Recht haben muss, einmal seinen Gefühlen der Empörung Ausdruck zu geben, wenn es so berechtigt ist wie gerade in diesem Falle, und ich meine: Wahrlich, hier ist es notwendig, das Kind beim rechten Namen zu nennen; ich habe gar keine Veranlassung, hier irgendwie zu verschleiern oder zu beschönigen.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, so liegt es. Diese Strafen von 300 Mark für jeden Fall sind im Fall Cieslok gegen einen Mann verhängt worden, dessen Monatseinnahme etwa 70 Mark war – für jeden Fall der Zuwiderhandlung hatte er 300 Mark Geldstrafe zu zahlen, so dass er im Verlaufe weniger Tage Geldstrafen von Tausenden von Mark auf dem Weg hatte! Meine Herren, der Herr Kultusminister hat im vergangenen Jahre auf diese meine Rekriminationen wegen der Höhe der Exekutivstrafen gemeint, es handle sich bei diesen Sündern um eine besonders große Beharrlichkeit und Hartnäckigkeit, so dass es kein Wunder sei, wenn man mit schweren Strafen vorgehe.

O nein, Herr Kultusminister, es handelt sich hierbei nicht um besondere Hartnäckigkeiten, sondern es handelt sich darum, dass die Unterrichtsverwaltung derartige Arbeiterbildungsbestrebungen aus politischer Parteilichkeit mit Feuer und Schwert ausrotten möchte, gegen Gesetz und Recht ausrotten möchte.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten – Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident Dr. Porsch: Herr Abgeordneter Liebknecht, Sie können der Schulverwaltung nicht vorwerfen, dass sie gegen Gesetz und Recht handelt.

(Zurufe von den Sozialdemokraten: „Er beweist es ja!")

Liebknecht: Meine Herren, sunt certae denique fines! Es gibt gewisse Grenzen, über die man nicht hinausgehen kann, ohne dass dem Sanftmütigsten die Galle überläuft. Diese Grenzen hat die Unterrichtsverwaltung erreicht. Wir haben in Preußen auch eine Polizei, der wir schwere Vorwürfe zu machen haben. Aber die Krone in dieser Beziehung – allerdings eine Krone, um die das Kultusministerium nirgends in der Welt beneidet wird – trägt das Kultusministerium bei uns.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Nun, meine Herren, diese außerordentlich bösartigen Fälle, von denen ich gesprochen habe, sucht der Herr Kultusminister weiterhin damit zu motivieren, dass er auf die besondere Gefährlichkeit der Lieder hinwies, die da unter anderem gesungen worden seien. Er erwähnte im vergangenen Jahre, es sei ein Lied gesungen worden – ich weiß nicht, wo es gesungen sein soll –: „Wir jagen die Deutschen in wilder Flucht in das Rote Meer." Dieses Lied ist, wie mir geschrieben wird, den Leuten, die den fraglichen „Unterricht" veranstaltet haben, völlig unbekannt, und sie haben das Lied niemals gesungen!

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, wir haben ja nicht das erste Mal mit Informationen von der Ministerbank solche Erfahrungen gemacht; die Hammerstein-Akten3 seligen Angedenkens sind ja noch in unser aller Erinnerung, und die glänzende Unzuverlässigkeit des Herrn Kultusministers werden wir noch bei anderer Gelegenheit darlegen können.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Wir werden noch andere Gelegenheit haben, dem Herrn Kultusminister zu zeigen, wie wenig Anlass er hat, auf die Informationen zu vertrauen, die ihm zuteil werden, aber es ist ja bekannt, wie sehr die Zuverlässigkeit der Informationen aufhört, sobald sich die Regierung in dem antisozialdemokratischen oder dem antipolnisch-nationalistischen Fahrwasser bewegt. Und ich vermute, jenes Zitat stammt aus der Mappe irgendeines polenkämpferischen Dezernenten im Kultusministerium, der irgendeinen abgelagerten Ladenhüter ausgekramt hat. Jedenfalls wird energisch bestritten, dass dergleichen Lieder in Wirklichkeit gesungen worden sind.

Meine Herren, ich habe bereits erwähnt, dass die Frage der Gewerbsmäßigkeit des „Unterrichts" vom Kultusministerium überhaupt nicht geprüft wird und dass das Kultusministerium in vielen Fällen, besonders auch in den oberschlesischen Fällen, eingegriffen hat, ohne dass ein Unterricht im technischen Sinne überhaupt in Betracht kam.

Und nun, meine Herren, in Bezug auf das Alter der „Schüler", bei denen die Schulaufsichtsbehörde ihre Kompetenz behauptet, folgendes. Das Kultusministerium und die ihm nachgeordneten Behörden haben bis vor kurzem, wie eben dargelegt, allgemein den Unterrichtserlaubnisschein bis zum 21. Jahr gefordert. Jetzt ist es von dieser Auffassung wenigstens insofern abgegangen, als es bei Volksschulentlassenen den Schein nur noch für den Fall und für die Dauer der Konkurrenz mit dem Fortbildungsunterricht fordert. Fast alle Verfügungen aber, von denen ich hier spreche, besonders die gegen Poniecki und Cieslok haben klipp und klar die Jugend bis zum 21. Lebensjahre betroffen!

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Nun, meine Herren, auf Grund dieser Verfügungen sind die schweren Strafen verhängt! Also, selbst vom heutigen Standpunkt des Kultusministeriums, auf Grund von Verfügungen, die rechtsungültig sind, die über die Grenzen des Schulaufsichtsrechtes wesentlich hinausgegangen sind!

Nun, ich habe an den Kultusminister das Ersuchen gerichtet, wenigstens entsprechend seinem heutigen Standpunkt Remedur eintreten zu lassen und den Status quo ante herzustellen, dafür zu sorgen, dass die Leute, die auf Grund solcher auch vom Kultusministerium als rechtsungültig anerkannten Verfügungen mit Geldstrafen belegt sind, diese Geldstrafen zurückerhalten, soweit sie bezahlt oder exekutiert sind, ihnen Schadenersatz zu leisten für die Gefängnisstrafen, die sie erduldet haben, und die Strafverfügungen selbst aufzuheben.

Da bin ich beim Herrn Kultusminister allerdings schön angekommen. Der Herr Kultusminister hat mir auf eine eingehende Beschwerde schlechthin geantwortet:

dass er gar keine Veranlassung habe, einzuschreiten;

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

die Verfügungen seien rechtsgültig.

(Rufe bei den Sozialdemokraten: „Unglaublich!")

Beim Reichsgericht sei der Fortbildungsschulunterricht unberücksichtigt gelassen worden.

Das habe ich vorhin bereits erörtert.

Da nun in den gewerblichen Fortbildungsschulen des Regierungsbezirks Oppeln allgemein Gesangunterricht erteilt werde, so müsse auch der an Fortbildungsschulpflichtige erteilte Gesangunterricht als Ersatz- und Ergänzungsunterricht dieses Unterrichtszweiges angesehen werden. Da weiter unbestritten feststehe, dass unter den Teilnehmern sich jugendliche Personen befunden hätten, welche berechtigt waren, den an den gewerblichen Fortbildungsschulen eingerichteten Gesangunterricht zu besuchen, so sei dies ein Ersatzunterricht im Sinne des Reichsgerichtsentscheids vom 28. Juni 1910.“

Demgegenüber ist folgendes zu bemerken. Gesetzt den Fall, dass an den gewerblichen Fortbildungsschulen des Regierungsbezirks Oppeln allgemein Gesangunterricht erteilt wird: dann wäre zunächst die Frage aufzuwerfen, ob es sich um einen obligatorischen oder fakultativen Unterrichtsgegenstand handelt. Der Herr Kultusminister hat mir auch schon geschrieben, was jetzt aus seinem Kopfschütteln hervorgeht, dass er sich nämlich auf den Standpunkt stellt: Ob fakultativ oder obligatorisch, ist mir ganz egal. Wie soll das egal sein können! Offenbar ist dieser Standpunkt verkehrt. Das Reichsgericht spricht von dem normalen Verlauf der Dinge, aus dem heraus zu deduzieren sei, ob der betreffende in Frage kommende Jugendliche noch in dem betreffenden Gegenstand öffentlichen Unterricht erhalte. Es wird also von dem normalen Verlauf der Dinge ausgegangen. Wenn nun irgendwo irgendein fakultativer Unterrichtsgegenstand eingeführt ist, wie kann man dann sagen, dass der Besuch dieses fakultativen Unterrichtsgegenstandes, der vielleicht ein ganz minimaler ist, trotz alledem die Norm bilden soll für die Allgemeinheit!

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Hier vermag der Kultusminister sicherlich kein irgendwie schlagkräftiges Argument vorzubringen. Das Reichsgericht gestattet keineswegs mit provinziellen Verschiedenheiten zu rechnen, also zum Beispiel die ortsübliche Ausbildung in diesem oder jenem Fache zugrunde zu legen. Aber selbst wenn ich das konzedieren wollte, würde der Herr Kultusminister immer erst prüfen müssen, wie der fakultative Unterricht besucht wird, ob sich der Besuch als die Norm herausstellt, als das Regelmäßige gegenüber der Ausnahme des Nichtbesuchs. Dann allerdings könnte er sich mit einem gewissen Anschein von formalistischer Logik auf die Deduktion des Reichsgerichts stützen, nicht aber von dem Standpunkt aus, den er bisher eingenommen hat.

Im Übrigen wird aber von meinen Informationen aufs Energischste bestritten, dass in allen Orten, in denen Strafen verhängt sind, Gesangunterricht in den Fortbildungsschulen erteilt worden ist oder überhaupt nur Fortbildungsschulen eingerichtet seien.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Das ist anscheinend einfach nicht richtig. Hier habe ich das Schreiben eines in Oberschlesien ansässigen und wohl orientierten Mannes, der folgendes mitteilt:

Die Fortbildungsschulpflicht besteht wirklich, aber nur in Stadtgemeinden, nicht in Dorfgemeinden; die meisten Gesangvereine waren in Dörfern, natürlich zum Teil großen Dörfern"

ich kann die Namen nicht immer richtig aussprechen. Mein Gewährsmann behauptet: „In allen diesen Dörfern hat verbotener und bestrafter Unterricht stattgefunden, aber Fortbildungsschulen fehlen."

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich weiß nicht, ob Herr Binieskewi irrt. Ich wünsche jedenfalls von dem Herrn Minister eine präzise Antwort auf die Frage: Behauptet er noch immer, dass überall in diesen Orten Fortbildungsschulen sind, und zwar mit Gesangunterricht? Und behauptet er noch immer: Ob die Schulen oder das einzelne Fach obligatorisch sind oder nicht, sei gleichgültig?

Der Herr Kultusminister sagt: „Da weiter unbestritten feststeht, dass sich unter den Teilnehmern solche befunden haben, die berechtigt waren, an dem Fortbildungsschulunterricht und an dem Gesangunterricht teilzunehmen, …" Ja, zunächst fragt es sich: Wie weit geht die Fortbildungsschulpflicht oder das Fortbildungsschulrecht in diesen einzelnen Orten? Geht sie bis zum 18. oder bis zum 17. Lebensjahre? Darüber sind mir verschiedene Informationen zuteil geworden. Aber jedenfalls geht sie nicht bis zum 21. Lebensjahre, und jedenfalls setzen sämtliche Verfügungen des Kultusministers und seiner nachgeordneten Instanzen – ich habe sie hier zur Hand und bin bereit, sie auf den Tisch des Hauses niederzulegen – mit absoluter Regelmäßigkeit das 21. Lebensjahr als Grenze!

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Jetzt sagt der Kultusminister, es seien „unstreitig" auch Leute unter 18 Jahren anwesend gewesen. Wie kann der Kultusminister sagen, dass „unstreitig" solche Leute anwesend gewesen seien, angesichts der Tatsache, dass Poniecki in dem Schriftwechsel, den er mit der Schulaufsichtsbehörde geführt hat, gleich zu Beginn, schon nach der ersten oder zweiten Strafe, wie ich im vergangenen Jahre in extenso vorgetragen habe, erklärt hat, er füge sich von nun ab insoweit, als er Jugendliche unter 18 Jahre nicht mehr unterrichten werde, und dass Poniecki auch sofort alles getan hat, diese Erklärung zu verwirklichen.

(„Hört! Hört!")

Ich habe das schon im vorigen Jahre vorgetragen, und wenn der Herr Kultusminister die Sache eingehend geprüft hat, muss er das wissen.

Und nun, was heißt das: Da unbestritten feststeht? Auf meine Antwort, die das ganz energisch bestreitet und Klarlegung fordert, antwortet mir der Herr Kultusminister einfach: Es steht nach den getroffenen Feststellungen fest. Erst stand es fest, weil es „unbestritten" war; dann heißt es plötzlich, dass nach den getroffenen Feststellungen überall auch jugendliche Personen unter 18 Jahren teilgenommen haben. Was sind das für „getroffene Feststellungen?" Will der Herr Kultusminister uns etwa glauben machen, dass die Aufsichtsorgane, als die Verfügungen erlassen wurden, nach denen Jugendliche unter 21 Jahren nicht teilnehmen dürften, auch bereits Erhebungen darüber angestellt haben, ob Jugendliche unter 18 Jahren teilgenommen haben? Das würde ja ganz und gar der Praxis und der Erfahrung widersprechen. Es ist also anzunehmen, dass Feststellungen darüber, in welchem Umfange junge Leute über und unter 18 Jahren teilgenommen haben, gar nicht getroffen worden sind, und trotzdem spricht der Herr Kultusminister von Feststellungen.

Selbstverständlich, es wäre theoretisch möglich, dass solche Feststellungen getroffen sind. Infolgedessen habe ich, um ganz sicher zu gehen und die Rechte des Poniecki jedenfalls in keiner subtilsten Kleinigkeit zu vernachlässigen, den Herrn Minister gebeten, mir für die einzelnen Fälle, in denen Zwangsverfügungen erlassen sind, in spezialisierter Weise darzulegen, um was für eine Veranstaltung es sich gehandelt hat: ob zum Beispiel nur um die Leitung eines Konzertes oder dergleichen, ob an dem betreffenden Orte Fortbildungsschulpflicht besteht oder fakultativer Fortbildungsschulunterricht erteilt wird, ob obligatorischer oder fakultativer Gesangunterricht eingeführt ist und dergleichen und weiter, ob und inwieweit junge Leute unter 18 Jahren anwesend gewesen sind. Daraufhin bekam ich von dem Herrn Kultusminister die Antwort:

Auch muss ich es ablehnen, auf die einzelnen, teilweise mehrere Jahre zurückliegenden Strafverfügungen der Königlichen Regierung in Oppeln, über welche ich bereits auf Beschwerde entschieden habe, nochmals zurückzukommen."

Wenn der Herr Kultusminister früher entschieden hat, so hatte er formularmäßig entschieden und keineswegs irgendeine detaillierte Darstellung des einzelnen Falles mit dem Material gegeben. Vor allem aber steht es doch so: Als der Herr Kultusminister oder die anderen Instanzen die früheren Entscheidungen erlassen haben, ist dies geschehen auf Grund der früheren Praxis, die vor Erlass des Reichsgerichtsurteils und, auch nach Erlass dieses Urteils, vor jener Zirkularverfügung gehandhabt wurde, in der Zeit der Sündenblüte, als das Kultusministerium sich noch nicht einmal im Sinn jener – uns unbekannten – Zirkularverfügung in die Judikatur des Reichsgerichts geschickt hatte. Jetzt handelte es sich aber darum, von Neuem Stellung zu nehmen auf Grund einer neuen Rechtslage und den Tatbestand der neuen Rechtslage entsprechend zu subsumieren, also um eine vollkommen neue Aufgabe. Und diese neue Aufgabe zu erfüllen, lehnt der Herr Kultusminister einfach ab. Unmittelbar hinterher sagt er aber doch, „überall sei festgestellt"' worden, dass Jugendliche unter 18 Jahren teilgenommen hätten – während es ihm vorher zu weit zurückzuliegen scheint, als dass er auf die Dinge zurückkommen könne.

Nun noch etwas ganz besonders Wichtiges, und in dieser Beziehung formuliere ich wiederum einen Vorwurf ersten Grades gegen den Herrn Kultusminister. Es handelt sich bei Poniecki um Strafen von zusammen mehr als 6000 Mark, wiederhole ich 300 Mark für jeden Einzelfall –,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

mit der Wirkung der Vernichtung einer ganzen Existenz, mit der Wirkung der Vertreibung eines Mannes aus Preußen, aus Deutschland heraus. Soll man nicht bei derartigen, wahrhaftig doch gewichtigen Dingen fordern dürfen, dass das Kultusministerium seine Karten voll aufdeckt und eine Nachprüfung seiner Praxis gestattet? Ich habe, weil ich in dieser Beziehung sichergehen wollte, auch das Letzte getan, was in einem solchen Falle möglich ist. Ich habe den Herrn Kultusminister gebeten, mir das Aktenmaterial zugänglich zu machen, damit ich daraus die veranstalteten Erhebungen, die einzelnen festgestellten Fakten ersehen könne. Daraufhin hat mir der Herr Kultusminister geantwortet:

Die Einsicht in die hiesigen Akten sowie in diejenigen der Königlichen Regierung in Oppeln kann Ihnen nicht gestattet werden."

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Das Kultusministerium unterliegt keiner rechtlichen Kontrolle, es unterliegt in seinen Maßnahmen keinem Verwaltungsstreitverfahren, sondern nur der ganz unzureichenden Kontrolle, die von diesem Hause ausgeübt wird; und dass diese Kontrolle nach unseren Erfahrungen nicht geeignet ist, das Gewissen zu schärfen, darüber besteht gar kein Zweifel. Das Kultusministerium steht so als ein absolutistischer Block innerhalb unserer im Übrigen selbst in Preußen in einem gewissen Sinne etwas parlamentarisch angehauchten Zeit. Meine Herren, nun, wo das Kultusministerium bereits diese absolute Gewalt in Händen hat, wo es so auf die Öffentlichkeit pfeifen kann, weil es eben keiner Rechtskontrolle im geordneten Verfahren unterliegt, da müsste es sich meiner Ansicht nach doch wahrlich scheuen, das so bis aufs Äußerste zu fruktifizieren, indem es in dem Quasi-Instanzenzug – der doch noch gegeben ist in dem Aufsichtsbeschwerdeverfahren – dem Anwalt und Beauftragten die Akten vorenthält und damit die gesamte Tätigkeit der Schulaufsicht in die Dunkelkammer verbannt und wohlüberlegt auch der letzten Möglichkeit einer Kontrolle entzieht.

Meine Herren, ich kann den Herrn Kultusminister doch nicht im Zivilprozess verklagen. Man wird mich abweisen, weil das Zivilgericht nicht zuständig ist. Allerdings: Hört dieses gesetzlose Treiben nicht bald auf, dann wird auch versucht werden müssen, irgendwie diesen Weg energisch zu beschreiten. Für die Regel ist es jedenfalls Tatsache, dass die Ziviljustiz für solche Dinge nicht zuständig ist. Tatsache ist, dass auch die Strafjustiz dabei versagt; wenigstens ist mein Versuch, auf diesem Wege Remedur zu erzielen, bisher erfolglos geblieben, wie ich im vergangenen Jahre vorgetragen habe. Tatsache ist, dass ein Verwaltungsstreitverfahren nicht gegeben ist. Tatsache ist, dass der Herr Kultusminister auch in diesem Hause bisher niemals einen energischen Anstoß erhalten hat, sich gründlich und ernsthaft mit der Rechtsfrage zu befassen und auf den Boden des Gesetzes zu stellen. Tatsache ist, dass die Anklagen, die von unserer Seite und von Seiten der Polen in diesem Hause erhoben sind, nirgends in diesem Hause, bei keiner anderen Fraktion, bisher Unterstützung gefunden haben,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten und den Polen.)

und Tatsache ist, meine Herren, dass, wenn ich in einer solchen verzweifelten Situation, bei einer Existenzfrage – allerdings auch einer Ehrenfrage, sollte man meinen, für das Kultusministerium –, wenn ich da bitte, mir wenigstens die Akteneinsicht zu gestatten, dass ich dann ganz kaltlächelnd jenen bürokratisch ablehnenden Bescheid bekomme, den ich eben mitgeteilt habe! Ich meine wahrhaftig: Höher geht's nicht mehr und wir sehen, dass wir uns hier einer Behörde gegenüber befinden, der wir in der schärfsten Weise die Fehde ansagen müssen, die nur, wenn sie mit den schärfsten, rücksichtslosen Mitteln zur Ordnung gerufen wird, gezwungen werden kann, das zu tun, was sie schon längst hätte tun müssen.

Meine Herren, wie weit das Kultusministerium und die ihm nachgeordneten Behörden auf Anweisung des Kultusministeriums im Schulaufsichtswege gehen, das beweisen die verschiedenen Methoden, nach denen auf Grund dieser Unterrichtserlaubnisscheinusurpation verfahren wird. Einmal werden die sogenannten Lehrer damit gesegnet. Dann auch diejenigen, deren Lokale zu Veranstaltungen von Turnvereinen usw. in Anspruch genommen werden. Ich habe bereits im vergangenen Jahre solche Fälle angeführt. Der Gastwirt bekommt eine Verfügung: Sofern er Unterricht – natürlich in Anführungszeichen – in seinem Lokal fernerhin duldet, wird er einer Exekutivstrafe von 100 Mark verfallen. Auf diese Weise kann dem Gastwirt seine Existenz im Handumdrehen unmöglich gemacht werden. Auch diese Verfügungen gegen die Gastwirte werden als Schulaufsichtsverfügungen erlassen,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

auch sie unterliegen keiner Kontrolle, keinem Verwaltungsstreitverfahren; hoc volo, sic jubeo – es wird einfach verfügt, und hilflos steht man da.

Meine Herren, weiter! Auch die Stadtgemeinden hat man nicht geschont. Vielleicht wird der Herr Kultusminister Anlass nehmen, sich zu äußern über das Vorgehen der Schulverwaltung gegen den Berliner Volkschor.

(Abgeordneter Hoffmann: „Hört! Hört!")

Dieser Volkschor durfte früher Schulräume, Aulen benutzen. Dadurch ist es ihm möglich gewesen, sich materiell besser über Wasser zu halten. Denn wenn auch das Proletariat im Verhältnis zu seinem Einkommen bei weitem mehr übrig hat für Kulturaufgaben als die herrschenden Klassen, muss es selbstverständlich immer darauf bedacht sein, die Kosten möglichst mäßig zu gestalten. Nun hat das Kultusministerium den Schulbehörden in Berlin untersagt, dem Volkschor künftig noch Schulräume zu überlassen,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

während anderen Vereinigungen die Schulräume nach wie vor in der opulentesten Weise eingeräumt werden.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Sie wissen ja doch, wie sich der Deutsche Turnerbund4 vergnügt in den Turnhallen aller Berliner Schulen herum tummeln darf und wie allen „patriotischen" Vereinen die Schulen weit geöffnet werden.

(Zurufe.)

Ja, die Gesundbeter-Konventikel sind schließlich, soviel ich wenigstens weiß, hinausgeworfen worden. Aber den auf wirklich kulturelle Zwecke hin strebenden Vereinen, auch den Arbeiterturnvereinen, wird das Leben von den Schulaufsichtsbehörden nach Leibeskräften erschwert.

Nun noch ein Kuriosum, das Ihnen gewiss ebenso viel Spaß machen wird wie mir. Ich habe hier eine Verfügung des Berliner Polizeipräsidiums vom 24. Februar 1912, gerichtet an den Schankwirt Eike in Berlin; da heißt es – ich bitte, mir zu gestatten, es zu verlesen –:

Wie festgestellt worden ist, haben Sie Ihre Restaurationsräume zur Abhaltung eines Vortrages zur Verfügung gestellt, der sich als ein der staatlichen Aufsicht unterliegender Ersatz- oder Ergänzungsunterricht darstellt. Da kein Unterrichtserlaubnisschein vorliegt, wird dadurch gegen die Allerhöchste Kabinettsorder … verstoßen. Im Namen und Auftrage des Königlichen Provinzialschulkollegiums untersage ich Ihnen hiermit die Überlassung Ihrer Restaurationsräume zu dem oben gekennzeichneten Unterrichtszwecke an Personen ohne den vorgeschriebenen Unterrichtserlaubnisschein. Im Falle der Zuwiderhandlung habe ich Ihnen im Auftrage des Königlichen Provinzialschulkollegiums eine Geldstrafe von 100 Mark anzudrohen."

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, in diesem Schreiben findet sich kennzeichnenderweise nicht ein Wort des Hinweises darauf, welches Alter für die betreffenden Personen in Betracht kommt; es heißt hier einfach: ein Vortrag, der sich als ein der staatlichen Aufsicht unterliegender Ersatzunterricht darstellt usw. Also kein Wort davon, dass doch nach dem eigenen Standpunkt des Kultusministeriums bestenfalls das 18. Lebensjahr als Grenze angesehen werden könnte! Und die Verfügung beschränkt sich nicht auf den einen konkreten Fall, nicht auf die eine Person, sondern auf alle möglichen künftigen Fälle und Personen!

Und, meine Herren: ohne den vorgeschriebenen Unterrichtserlaubnisschein. Nicht ein Wort über die Frage, ob der Betreffende, der angeblich den sogenannten Unterricht, der kein Unterricht ist, erteilen wollte, gewerbsmäßigen Unterricht erteilt, wie das nach den klaren Worten der Kabinettsorder von 1834 und der Ministerialinstruktion von 1839 und der Reichsgerichtsentscheidung von 1910 der Fall sein muss. Nicht ein Wort! Einfach gesagt: Der Betreffende hat einen Vortrag angesagt usw. Nun habe ich hier, damit Sie auch näher in die Intimitäten dieses Falles eingeweiht werden, eine weitere Verfügung des Polizeipräsidiums vom 7. März 1912, die gerichtet ist an jenen Sünder, der die Absicht gehabt hatte, den „Unterricht" in Form eines Vortrages zu erteilen. Es heißt:

Nach amtlichen Feststellungen beabsichtigen Sie, ohne im Besitz eines gültigen Unterrichtserlaubnisscheines zu sein, an schulpflichtige oder fortbildungsschulpflichtige Personen Unterricht zu erteilen."

Hier kommt das nun glücklicherweise heraus!

Dieser Unterricht ist als ein der staatlichen Aufsicht unterliegender Ersatz- oder Ergänzungsunterricht anzusehen. Im Namen und im Auftrage des Königlichen Provinzialschulkollegiums untersage ich Ihnen die Erteilung dieses Unterrichts. Im Falle des Zuwiderhandelns habe ich Ihnen im Auftrage des Königlichen Provinzialschulkollegiums eine Geldstrafe von 100 Mark anzudrohen, an deren Stelle im Nichtbeitreibungsfalle eine Strafe von 10 Tagen Haft tritt."

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, wissen Sie, an wen das gerichtet gewesen ist? An unseren Kollegen und Freund Hoffmann!

(Große Heiterkeit.)

Meine Herren, er hat sich natürlich nicht daran gekehrt, sondern hat das Gesetz befolgt im Gegensatz zu der Ungesetzlichkeit, die dem Kultusministerium vorzuwerfen ist.

(Abgeordneter Hoffmann: „Sehr wahr!")

Meine Herren, das eine werden Sie doch wohl alle nicht annehmen, nicht einer von Ihnen, dass unser Freund Hoffmann gewerbsmäßig derartige Dinge treibe. Sie wissen doch so gut wie wir, dass, wenn wir derartige Vorträge halten, sie entweder ohne Ersatz auch nur der Auslagen gehalten werden, bestenfalls aber ein Ersatz der geringfügigen Auslagen stattfindet, dass insbesondere dieser hier verfolgte Vortrag selbstverständlich gänzlich unentgeltlich war und auch nicht einmal ein Ersatz der Auslagen stattgefunden hat. Meine Herren, das weiß die Regierung, das weiß das Kultusministerium ganz genau; das Kultusministerium kennt das Wort „gewerbsweise", das in den grundlegenden gesetzlichen Bestimmungen enthalten ist. Aber das Kultusministerium kümmert sich den Teufel um alle diese gesetzlichen Bestimmungen und geht einfach in der von ihm beliebten Weise weiter vor. Meine Herren, ich meine, dass angesichts dieser Tatsachen es wahrlich nicht unangebracht war, die Anträge zu stellen, die ja der Unterrichtskommission bereits überwiesen sind und dort hoffentlich einer gründlichen Prüfung unterzogen werden. Besonders hoffe ich, dass die Herren in der Unterrichtskommission sich die Akten der einzelnen Fälle kommen lassen, in denen derartige Verfügungen erlassen worden sind, damit gerade auch die Fälle, die ich hier im Landtag bereits aktenkundig gemacht habe, vor allem die aus Oberschlesien, untersucht werden können, inwieweit die Regierung da gesetzmäßig vorgegangen ist. Ich erwarte, meine Herren, dass da endlich einmal nachgeholt wird, was mir versagt worden ist, indem der Herr Kultusminister mir schlechthin die Vorlage der Akten verweigert hat.

Im Übrigen möchte ich an den Herrn Kultusminister die Frage richten, ob er auch von denjenigen Leuten, die in der Deutschen Turnerschaft sogenannten Unterricht geben, in derselben Weise Unterrichtserlaubnisscheine verlangt – natürlich, die würden sie sehr rasch bekommen –-, ob er in derselben Weise bei allen, welche „patriotische" Gesangvereine leiten, und auch von den Gelegenheitsdirigenten und in den Turnvereinen von den Gelegenheitsturnwarten, den unentgeltlichen Turnwarten – ich spreche nicht von den berufsmäßigen –, ob dort der Kultusminister auch Unterrichts-scheine fordert, ob dieses System überhaupt durchgeführt wird in allen Fällen, in denen es durchgeführt werden müsste, wenn konsequent nach dem Gesetz gehandelt würde?

Und noch eins: Nach der „Kreuz-Zeitung" vom 4. Februar dieses Jahres werden die Lehrlinge in dem Eisenbahnbetrieb auch turn-mäßig unterrichtet. Ich möchte den Herrn Kultusminister fragen, ob er diese doch sicherlich seinem geschärften Auge nicht entgangene Erscheinung auch bereits einer entsprechenden Schulaufsichtsbehandlung so freundlicher Art unterzogen hat, wie er sie den Veranstaltungen, die von Arbeiterorganisationen unternommen sind, immer hat zuteil werden lassen? Ich möchte überhaupt einmal eine klipp und klare Erklärung darüber haben, ob in genau derselben Weise wie gegen die Arbeiterturnvereine, gegen Arbeiterveranstaltungen irgendwelcher Art, gegen jeden einzelnen Vortrag, jedes einzelne Konzert, jeden einzelnen Fall, in dem jemand als freiwilliger Turnwart irgendeine kleine Veranstaltung leitet oder einmal als Gesangsleiter einen Chor dirigiert, auch gegen andere Organisationen und Veranstaltungen vorgegangen wird. Betrachtet der Herr Kultusminister diejenigen, die die Jugend in die Natur hinausführen, um sie an der Natur zu bilden, auch als Lehrer, und zieht er die entsprechenden Konsequenzen? Und hat er schon ein einziges Mal in Fällen, wo etwa kein Unterrichtserlaubnisschein vorlag, eine Zwangsverfügung gegen die Betreffenden erlassen,

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

wie er es in den von mir erörterten Fällen stets sofort auf Anhieb getan hat, und mit solchen fulminanten Strafandrohungen wie in diesen Fällen?

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Dem Herrn Kollegen Hoffmann ist nicht erst etwa vorher eine freundliche Ermahnung zuteil geworden. Allerdings ist ein Polizeibeamter bei ihm gewesen, das ist schon richtig, aber es ist ihm keineswegs vorher gesagt worden: Bitte, holen Sie sich doch einen Unterrichtserlaubnisschein, sondern es ist ohne weiteres die schwere Strafandrohung von 100 Mark gegen ihn erlassen worden. Und in den anderen Fällen, die mir bekannt geworden sind, von den Turnvereinen, von den Musiklehrern, von den Wirten, da ist stets sofort mit solchen rigorosen Verfügungen vorgegangen worden. Und so steht es in der Regel.

Ich möchte also wissen, ob die Kultusverwaltung hier ganz überlegt mit zweierlei Maß misst oder ob sie nach Gesetz und Gerechtigkeit vorgeht, wenigstens insofern, als sie auch die nichtproletarischen Organisationen und Veranstaltungen mit derselben Rute züchtigt, mit der sie die proletarischen Veranstaltungen züchtigt.

Meine Herren, selbstverständlich ist davon gar keine Rede.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Selbstverständlich weiß das Kultusministerium ganz genau, dass dieses Vorgehen gegen die Arbeiterveranstaltungen nicht diktiert ist von einem Furor nach Gesetzlichkeit, sondern dass es diktiert ist von politischer Leidenschaft und Gehässigkeit,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

dass es diktiert ist von einer vollkommenen Gewissenlosigkeit gegenüber den Gesetzen.

(Große Unruhe rechts und im Zentrum. – „Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten. – Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident: Herr Abgeordneter Liebknecht, ich rufe Sie zur Ordnung.

Liebknecht: Meine Herren, es muss das Kind beim rechten Namen genannt werden! Die Möglichkeit, das Verhalten des Kultusministeriums in einem geordneten Instanzenzuge zur Erörterung zu bringen, ist uns entzogen.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Es ist kein anderes Forum mehr für uns gegeben als dieses Forum hier, und hier und vor der ganzen Öffentlichkeit müssen wir die Anklagen erheben, die wir anderwärts nicht erheben können; und diese Anklagen sind dieselben, die wir im vergangenen Jahre erhoben haben, und wir werden sicher im nächsten Jahre dieselben Anklagen wiederum erheben müssen; denn dieses Haus wird sich schwerlich bereit finden, in der Weise energisch einzugreifen, wie es notwendig wäre, um hier endlich reinen Tisch zu machen. Ich sage, meine Herren, hier muss mit eisernem Besen ausgekehrt werden,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

denn gerade in diesen Dingen hat sich das Kultusministerium trotz des Polizeiministeriums gezeigt als das verwahrloseste aller preußischen Ministerien.

(Große Unruhe und Rufe rechts und im Zentrum „Unerhört!" – „Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten. – Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, ich rufe Sie zur Ordnung.

II

Persönliche Bemerkung

Meine Herren, der Schluss kam so plötzlich, dass ich mein Material nicht zur Hand hatte. Ich bin natürlich nicht imstande, im Rahmen einer persönlichen Bemerkung auf dasjenige zu antworten, was der Herr Minister mir entgegengehalten hat. Aber ich hoffe, bei einer späteren Gelegenheit dazu noch die Möglichkeit zu haben.

Nur auf eins möchte ich hinweisen, was nach meiner Ansicht gleichzeitig die gesamten Ausführungen des Herrn Ministers charakterisiert.

(Rufe rechts: „Persönlich!")

Der Herr Minister hat mir vorgeworfen, dass ich die Unwahrheit gesagt hätte in Bezug auf den nach dem Auslande getriebenen Poniecki; er hat behauptet, eine Remedur komme für ihn überhaupt nicht mehr in Frage, weil er inzwischen verstorben sei. Meine Herren, ich habe in meinen Händen einige Briefe von diesem Herrn, vom 14. Januar, vom 4. Februar dieses Jahres –

(Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident Dr. Porsch: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, beweisen dürfen Sie nicht.

Liebknecht: – vom 4. Februar dieses Jahres. Meine Herren, ob das Stimmen aus dem Grabe sind, das weiß ich nicht.

(Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, das ist aber nicht mehr persönlich.

Liebknecht: Ich wollte nur feststellen, dass die Behauptung des Herrn Ministers, dass ich diesen Fall unrichtig vorgetragen habe, weil der Betreffende bereits verstorben sei, durchaus unrichtig ist, und dass sich in dieser Unrichtigkeit die gesamten Behauptungen des Herrn Ministers charakterisieren.

1 Im ersten Antrag (Nr. 154) wurde die preußische Regierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch den ein ordentliches Gerichtsverfahren (Verwaltungsstreitverfahren) gegenüber den Zwangsverfügungen der Schulaufsichtsbehörden zugelassen wird. Der zweite Antrag (Nr. 155) forderte –, die bereits erlassenen Zwangsverfügungen aufzuheben und eingezogene Geldstrafen zurückzuzahlen beziehungsweise Schadenersatz für bereits verfügte Freiheitsstrafen zu leisten. Beide Anträge wurden der Unterrichtskommission überwiesen. Die Red.

2 Arbeiterturnerbund (Bis 1919, danach Arbeiter-Turn-und-Sportbund, ATSB.): Erste machtvolle Klassenorganisation des deutschen Proletariats auf dem Gebiet der Körperkultur, die erfolgreich gegen den imperialistischen Staat und den bürgerlichen Einfluss auf die Arbeiterjugend kämpfte.

In den Jahren nach dem Fall des Sozialistengesetzes trennten sich immer mehr Arbeiterturner aus den bürgerlichen Turnvereinen der Deutschen Turnerschaft und bildeten eigene Turnvereine. Auf Initiative des Märkischen Arbeiter-Turnerbundes, zu dem sich 1892 die bereits entstandenen Arbeiterturnvereine aus Brandenburg, Velten und Berlin zusammengeschlossen hatten, wurde Pfingsten 1893, am 21. und 22. Mai, auf dem ersten konstituierenden Turnertag in Gera der Arbeiterturnerbund gegründet. 1912 hatte er bereits 2222 Vereine mit insgesamt 184.000 Mitgliedern.

3 Zeitgenössische Bezeichnung für unglaubwürdige, gefälschte Polizei- und Gerichtsakten. Sie stammt aus den Jahren der Tätigkeit des preußischen Ministers des Innern Freiherr von Hammerstein-Loxten.

4 1889 gründeten besonders reaktionäre, den konservativen Parteien nahestehende Turnvereine Niederösterreichs und der Mark Brandenburg, die aus der Deutschen Turnerschaft ausgeschlossen worden waren, in Gestalt des Deutschen Turnerbundes eine selbständige Organisation.

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