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Karl Liebknecht 19110215 Das Willkürregime des Berliner Polizeipräsidiums

Karl Liebknecht: Das Willkürregime des Berliner Polizeipräsidiums

Reden im preußischen Abgeordnetenhaus zum Etat des Ministeriums des Innern

[Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, IV. Session 1911, 2. Bd., Berlin 1911, Sp. 2029-2052b, 2104/2105. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 4, S. 96-136]

I

15. Februar 1911

Meine Herren, der Herr Minister des Innern mag bei der Anklagerede meines Freundes Hirsch, soweit sie sich auf das Thema Berliner Polizeipräsidium bezog, im Innersten seines Herzens wohl gedacht haben: Quid sum miser tunc dicturus – was soll ich Armer darauf sagen können? Allerdings die zweite Frage hat er sich schwerlich gestellt: Quem patronem rogaturus? Darüber dürfte er in keiner Verlegenheit sein. Er hat ja so viele Patrone für alle diejenigen Akte, die dem Angriff unterlegen waren, in diesem Hause, dass er nicht nötig hatte, seinen Scharfsinn anzustrengen. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Es ist dem Herrn Minister kaum möglich gewesen, irgendein kleines Zufallswörtchen mühselig heraus zu schwitzen gegenüber den Ausführungen meines Freundes Hirsch. Ich sehe mich infolgedessen genötigt, den Herrn Minister, wenn es möglich ist, noch stärker zu beschwören, um doch vielleicht aus ihm ein klares Bekenntnis herauszubekommen zu den einzelnen Vorgängen, die Gegenstand unserer Beschwerden in Bezug auf das Berliner Polizeipräsidium gewesen sind.

Nur mit einem Wort will ich davon reden, dass der Herr Minister die Ausweisung meines Parteifreundes Halbwachs aus Berlin damit rechtfertigen zu dürfen geglaubt hat, dass Halbwachs den Reichskanzler angegriffen habe. Wenn das Wort jenes Weisen aus dem Morgenlande, dass alles schon einmal dagewesen sei, irgendwo zutrifft, so trifft es für Berlin und die preußische Reaktion allenthalben zu.

Auch dieser Fall ist nicht der erste. Ich greife zurück auf das Jahr 1904, wo vierzehn russische Studenten ausgewiesen wurden1 aus keinem anderen Grunde, als weil sie dem Reichskanzler, damals dem Fürsten Bülow, der sie in der schmählichsten Weise angegriffen hatte, in einer öffentlichen Erklärung würdig und energisch geantwortet haben. Es scheint mir doch nicht gerade ein Akt der Würde und Selbstsicherheit zu sein, dass sich ein so hoher Beamter wie der Reichskanzler des Deutschen Reiches oder preußische Ministerpräsident an hilflosen und in Deutschland als rechtlos behandelten Ausländern, wenn er in unliebsamer Weise kritisiert wird, rächt, indem er sie über die Grenze jagt. Ich glaube, das ist ein Akt der Kleinlichkeit, der eines großen Staates unwürdig ist und unwürdig eines Reichskanzlers, des höchsten Staatsbeamten. Man kann doch wohl an der Gottähnlichkeit des deutschen Reichskanzlers zweifeln, auch wenn man Ausländer ist. Muss man denn immer die Hände zum Gebet erheben, wenn man von einer so erhabenen Persönlichkeit in Deutschland zu sprechen wagt? Natürlich, in freien Ländern hat man für diese bigott-bürokratische Vorstellung kein Verständnis, und deshalb ist es kein Wunder, wenn unser französischer Parteifreund dem preußischen Normalmaße nicht ganz entsprach.

Dann ein Wort zur Frage der Selbstverwaltung. Der Minister hat gegenüber der Berliner Selbstverwaltung und ihren Ansprüchen eine sehr böse Kritik geübt, einen sehr unerfreulichen Standpunkt eingenommen. Er hat aber doch gelegentlich eine gewisse Begeisterung für die Selbstverwaltung gezeigt, nämlich dann, wenn es sich um die Selbstverwaltung in den Kreisen und Provinzen handelt, um die Selbstverwaltung jener sogenannten Selbstverwaltungsorgane, die nichts anderes sind als Feigenblätter des Landratsabsolutismus. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Dann Herr von Jagow und der Verkehr in Berlin! Sie alle entsinnen sich ja jenes gewaltigen Wortes, das Herr von Jagow vor ungefähr Jahresfrist in die Welt hinaus gesandt hat, gebieterisch und prophezeiend zugleich, jenes Wortes: Die Straße gehört dem Verkehr! Sie wissen, wie Herr von Jagow diese seine eignen Worte befolgt. Wo er nun schon irgendwo zwischen greift, fördert er nicht den Verkehr, sondern stört er den Verkehr. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich habe es nicht nötig, zurückzukommen auf die Beschwerden wegen der Nord-Südbahn, die bereits Gegenstand der Verhandlung waren; aber ich möchte auf das geniale Kunststück des Polizeipräsidenten in Bezug auf die Absperrung der Friedrichstraße hinweisen. („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.) Wenn so etwas in Posemuckel oder Schöppenstedt geschehen wäre, dann würde man sich sagen: Nun, das gehört in die Anekdotenfibel hinein. Dass das aber ausgerechnet in Berlin passieren muss und dass das von Herrn von Jagow ausgeübt werden muss, das – passt zu Herrn von Jagow sehr gut. („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Die sämtlichen Funktionen des Polizeipräsidenten von Berlin, die uns bisher ständigen Anlass zu bitterer Kritik gegeben haben, sind aber von einer „hohen, einsichtsvollen" Königlichen Staatsregierung noch nicht für ausreichend erachtet worden. Sie meint, dass dem Polizeipräsidenten von Berlin, nachdem er schon so vieles so höchst mangelhaft und schlecht vollführt hat, nun auch noch etwas weiteres übertragen werden könne, auf dass er es ebenso verschandeln möge. Und deshalb ist ihm nun – höchst charakteristisch! – durch den Herrn Minister gewissermaßen die Generalzensur für ganz Preußen anvertraut worden. Das fehlte uns gerade noch! Wir können unsere Dankbarkeit gegenüber dem Herrn Minister des Innern auch hier wieder gar nicht in Worte kleiden. Es ist wiederum ein so genialer Streich, der das ganze preußische Wesen so vor aller Augen offenlegt, der es wieder so zu einem Spielball, zu einem unerschöpflichen Objekt für alle Witzblätter machen wird, der sich vor aller Welt als eine so bequeme Zielscheibe des Spottes aufstellt, dass man gar nicht vorbeischießen kann – so groß ist diese Zielscheibe.

Man stelle sich vor: Der Berliner Polizeipräsident Generalzensor für ganz Preußen! Den Befähigungsnachweis hierfür hat er schon erbracht. Unser Freund Hirsch hat ja schon einige kleine Exempel für seine Fähigkeit auf diesem Gebiet vorgetragen, die die Heiterkeit des Hauses erregt haben. Man geht offenbar mit der verschwörerischen Absicht um, Preußen in aller Welt noch mehr lächerlich zu machen, als es schon gegenwärtig der Fall ist. Es scheint diese Verfügung dem Herrn Minister des Innern von irgendeinem Mephisto in die Hand gedrückt zu sein; jedenfalls von einem Freunde des preußischen Wesens oder vielmehr von einem Freunde des Fortbestehens der gegenwärtigen Zustände kann das nicht geschehen sein.

Die Zensur ist nun dem Berliner Polizeipräsidenten nicht etwa übertragen worden, um dadurch in die Provinzen einen freieren Geist, wie er im Vergleich mit der Provinz an und für sich in der Hauptstadt wachsen könnte, hinein zu tragen, sondern – wie ja die Ausführungen des Zentrumsredners, des Herrn Abgeordneten Linz, ergeben haben, auf die der Herr Minister zustimmend geantwortet hat – es ist geschehen, um im Gegenteil von Berlin aus jede Spur eines etwaigen freieren Geistes in der Provinz draußen fernzuhalten, also zu ausgeprägt reaktionären Zwecken, um die Berliner konzentrierte Reaktion auch auf die Provinz hinaus zu übertragen.

Da Herr von Jagow in unmittelbarster Fühlung mit dem Herrn Polizeiminister steht, so ist im Grunde genommen der Polizeiminister selbst der Generalzensor in ganz Preußen geworden, wozu es eine gesetzliche Legitimation vorläufig überhaupt noch nicht gibt.

Meine Herren, Sie entsinnen sich vielleicht der Ausführungen, die der Herr Abgeordnete Linz in Bezug auf die Zensur gemacht hat, wie er von dem Sexualbazillus sprach, den er gern bekämpfen möchte. Nachdem dieser Sexualbazillus entdeckt worden ist, ist nun auch Aussicht vorhanden, dass endlich einmal die menschliche Unsittlichkeit ganz gründlich beseitigt wird. Man wird mit diesem Bazillus doch nun dank Koch, Pasteur, Behring oder Ehrlich auch bald fertig werden; und dann wird man es wohl erreichen, dass die Menschheit sich künftig in einer weniger anstößigen Weise fortpflanzen wird. Ich fürchte allerdings, dass das so wenig gelingen wird, wie es in Immermanns „Münchhausen" dem bekannten Käferzüchter gelungen ist, die Käfer, die er züchtete, zu einer wohlanständigeren, heiligeren Lebensweise zu erziehen.

Es ist demjenigen, der sich mit der Bekämpfung des Schmutzes beschäftigen will, wahrlich genug Gelegenheit gegeben, gegen den Schmutz zu arbeiten, und er wird uns Sozialdemokraten überall an seiner Seite finden, wenn wir auch jede Muckerei und die preußisch-polizeilichen Methoden energisch ablehnen. Und, meine Herren, die Mucker mögen sich dann doch auch einmal an die berühmten Vorgänge erinnern, die sich im Jahre 1908 in Donaueschingen abgespielt haben, an jene berühmte Madame Granier und vielleicht auch an jene berühmten Hofbälle, die ja nicht so sehr bei der Sozialdemokratie, als bei manchen rechtsstehenden Kreisen recht häufig bösen Anstoß erregt haben.

Meine Herren, es ist Ihnen bekannt, dass in Heines „Buch Le Grand" das 12. Kapitel also lautet:

Die deutschen Zensoren …………………………………………………………………

Dummköpfe.…………………………………………………………………………“

Meine Herren, diese köstliche Verspottung und Verhöhnung der deutschen Zensur ist auch heute noch durchaus am Platze, wie die Ausführungen meines Freundes Hirsch bewiesen haben, und wenn sich nun das Polizeipräsidium von Berlin noch in weiterem Umfange auf den Boden begeben würde, der vom Zentrum gewünscht wird und der vom Herrn Abgeordneten Linz näher bezeichnet worden ist, dann würde das allerdings nur noch schlimmer werden können, als es in jenen vormärzlichen Zeiten gewesen ist.

Meine Herren, was es mit dem Zentrum und der geistigen Freiheit auf sich hat, dafür haben wir ja die allerbesten Belege in den Händen. Es hat sich ja gestern der Herr Abgeordnete Gronowski herausgenommen, die deutsche Sozialdemokratie als zelotisch, als nicht genügend geistesfrei, nicht genügend duldsam den Meinungen etwas anders Denkender gegenüber zu brandmarken. Nun, meine Herren, das war ausgerechnet der Herr Abgeordnete Gronowski, ein Zentrumsabgeordneter in den Tagen des Modernisteneides2 – (Glocke des Präsidenten.)

Präsident von Kröcher: Herr Abgeordneter, das gehört doch nicht in die Polizei von Berlin hinein. Sie kommen auf eine andere Debatte zurück, auf Materien, die hier gar nicht hineingehören. Hier ist doch von der Polizeiverwaltung von Berlin die Rede.

Liebknecht: Meine Absicht bestand nur darin darzulegen, unter welchen Einflüssen nach dem uns bisher bekannt gewordenen Material die von dem Herrn Polizeiminister jetzt in Berlin eingerichtete Generalzensurbehörde – (Glocke des Präsidenten.)

Präsident von Kröcher: Der Titel des Herrn Ministers, um dessen Etat es sich jetzt handelt, ist „Minister des Innern" und nicht „Polizeiminister".

Liebknecht: Der Polizeiminister – (Glocke des Präsidenten.)

Präsident von Kröcher: Ich nehme an, dass Ihnen das bloß entfahren ist. Ich wünsche nicht, dass Sie künftig „Polizeiminister" sagen; denn der Herr ist nicht „Polizeiminister", sondern „Königlicher Staats- und Minister des Innern". („Bravo!")

Liebknecht: Also, meine Herren, der Herr Polizeipräsident von Berlin ist von dem Herrn Minister des Innern nach seiner ausdrücklichen Erklärung als Generalzensurbehörde installiert worden, und das ist der Grund, aus dem ich hier bei dem Titel dieser Generalzensurbehörde auf die Fragen glaubte eingehen zu können, die die künftige Gestaltung dieses Zensurwesens in Preußen zu beeinflussen und zu bestimmen geeignet sind. Ich will mich jedoch dem Wunsche des Herrn Präsidenten fügen und will auch nicht mehr darauf eingehen nachzuweisen, dass jeder Versuch des Zentrums, uns etwa Vorwürfe der Art zu machen, wie ich sie vorhin charakterisiert habe, durchaus abwegig ist und dass jeder Vorwurf dieser Art überall, vor allem aber dem Zentrum von uns dreifach zurückgegeben werden könnte.

Ich möchte aber noch mit einem Wort auf eine Leistung dieser Zensurbehörde eingehen, die von meinem Freunde Hirsch bereits hervorgehoben worden ist: auf die Erklärung der Freien Volksbühne zu einer nicht geschlossenen Organisation3. Mein Parteifreund Hirsch bat in dieser Beziehung den schärfsten Angriff gegen das Polizeipräsidium von Berlin und damit gegen den Herrn Minister des Innern gerichtet, und dieser hat hier auch nicht ein einziges Wort gefunden, um das Einschreiten gegen dieses hervorragende Bildungsinstitut irgendwie zu rechtfertigen. Meine Herren, man hat gerade in diesem Augenblick, wo man dem Polizeipräsidium diese einschneidenden Generalzensurbefugnisse für ganz Preußen übertragen will, alle Veranlassung, auf Anschuldigungen, die die Ausübung dieser Zensur betreffen, sich eingehend auszulassen.

Meine Herren, Sie wissen, dass der Schlag gegen die Freie Volksbühne Tausende, Abertausende, Zehntausende von bildungsbedürftigen und bildungsgierigen Berliner Bürgern und Bürgerinnen trifft, und Sie wissen, was Ihnen mein Freund Hirsch des Näheren vorgehalten hat, dass die Bildungsbestrebungen der Freien Volksbühne so ideal sind, dass auch Sie nicht in der Lage sein werden, ihnen dieses Prädikat zu versagen. Trotz alledem, meine Herren, dieses Vorgehen, trotz alledem diese Bedrückung einer solch wundervollen Bildungsorganisation, trotz alledem diese kleinliche, engherzige Behandlung einer großartigen Unternehmung! Und keine Antwort vom Herrn Minister des Innern!

Gegen die Verfolgung und Auflösung freier Jugendorganisationen

Meine Herren, wenn der Herr Minister des Innern hierauf nicht geantwortet hat, wird er mir wenigstens vielleicht in der Frage der Jugendbewegung, der Jugendorganisation, Rede und Antwort stehen.

Meine Herren, wie Ihnen bekannt ist, hat der Herr Polizeipräsident von Berlin am 10. Januar 1910 die Berliner freie Jugendorganisation für politisch erklärt und aufgelöst. Diese Entscheidung ist vom Oberverwaltungsgericht bestätigt worden, und damit ist sie in Kraft getreten.

Diese Entscheidung gibt nun sowohl dem Herrn Kultusminister wie dem Herrn Minister des Innern Veranlassung, weitere Anweisungen an die einzelnen Polizeipräsidien und Polizeibehörden zu geben, auch an den Berliner Polizeipräsidenten Anweisungen zu geben, die dahin gehen, dass man von jeder sich bietenden Handhabe zur Eindämmung der sogenannten freien Jugendbewegung den schärfsten Gebrauch machen solle und dass – wie es an einer anderen Stelle heißt – man allen diesen Veranstaltungen die ernsteste Aufmerksamkeit beizumessen habe. Es ist weiterhin Anweisung erteilt, in allen Fällen, in denen strafrechtlich oder auf polizeilichem, exekutivem Wege gegen die sogenannte Jugendbewegung eingeschritten wird, zu berichten.

Meine Herren, diese Verordnungen, die das künftige Verhalten des Berliner Polizeipräsidenten zu bestimmen haben, sind das Ergebnis einer Konferenz, die einen Erlass4 vom 18. Januar 1911 gezeitigt hat, in dem es unter anderem heißt, dass Aufgabe der Jugendpflege, die vom Staate nunmehr zu inszenieren sei, sein müsse, die Mitarbeit an der Heranbildung einer frohen, körperlich leistungsfähigen, sittlich-tüchtigen, von Gemeinsinn und Gottesfurcht, Heimat- und Vaterlandsliebe erfüllten Jugend und dass zu dieser Aufgabe alle heranzuziehen seien, die ein Herz für die Jugend haben und deren Erziehung im vaterländischen Geiste zu fördern bereit und in der Lage sind.

Meine Herren, die Konferenz, deren Ergebnis die beiden Erlasse waren, bestand aus dem Herrn Kultusminister, dem Herrn Landwirtschaftsminister, dem Herrn Handelsminister und dem Herrn Kriegsminister („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.); dann aus dem Zentralausschuss für Volks- und Jugendspiele und verschiedenen bürgerlichen Jugendorganisationen und Sportvereinen.

Meine Herren, was hat der Herr Landwirtschaftsminister hiermit anderes zu tun, als dass man Besorgnisse hegt, der Landwirtschaft könnten durch die freie Jugendbewegung am Ende billige Arbeitskräfte verlorengehen! Und was hat das Kriegsministerium damit zu tun? Die Frage werde ich Ihnen nachher beantworten. Aber, meine Herren, dass man alle möglichen Jugendorganisationen und Sportvereine eingeladen hat – wozu natürlich auch die christlichen Jugendorganisationen gehört haben, auch die katholischen Jugendorganisationen –, das ist für die preußischen Verhältnisse ebenso selbstverständlich, wie dass man an die Hinzuziehung irgendwelcher Vertreter der freien Jugendbewegung nicht gedacht hat, obwohl die freie Jugendbewegung die am weitesten verbreitete Bewegung dieser Art darstellt und obwohl die Regierung alle Veranlassung hätte, mit den berufensten Kennern der Bedürfnisse des Volkes in dieser Frage Fühlung zu nehmen. Aber selbstverständlich kann davon keine Rede sein, da die Regierung nicht den Zweck der Jugendbildung, der Jugenderziehung verfolgt, sondern dem ausgeprägt politischen Zweck dienen soll: dem Kampfe gegen die Sozialdemokratie. Da wird man natürlich die Sozialdemokratie nicht zuziehen.

Meine Herren, die Konferenz, die im Ministerium abgehalten worden ist, war ein hochpolitischer Akt. Der Erlass des Kultusministers und des Ministers des Innern an den Berliner Polizeipräsidenten war ein hochpolitischer Akt, und es ist unzweifelhaft alles, was in Ausführung dieses Aktes geschehen soll und wird, als hochpolitisch anzusehen. Wir werden uns doch kein X für ein U machen lassen, meine Herren! Eine Organisation, deren Zweck die Bekämpfung der Sozialdemokratie, die Förderung des „vaterländischen Geistes" und die Erziehung zu Gottesfurcht, Heimat- und Vaterlandsliebe ist, das ist eine ausgeprägt politische Organisation; nur Spiegelfechterei, böser Wille und Heuchelei können das bestreiten.

Es ist also unzweifelhaft, dass alle Organisationen sportlicher und anderer Art, die sich an dieser Konferenz beteiligt haben und die nunmehr den Anweisungen des Ministeriums folgen, als politische Organisationen anzusehen sind; denn sie erblicken ihre Aufgabe nicht darin, eine „voraussetzungslose" Bildung zu verbreiten, sondern darin, eine ganz bestimmt geartete politische und wirtschaftlich-soziale Anschauung zu fördern.

Meine Herren, diese meine Argumentation ist genau die gleiche, mit der das Berliner Polizeipräsidium die Auflösung der freien Jugendorganisation begründet hat. Das Berliner Polizeipräsidium hat ausgeführt, dass die freie Jugendorganisation die Jugend, wenn sie sie auch nicht politisch-agitatorisch bearbeite, doch in sozialdemokratischem Geiste zu erziehen versuche; das sei ein politischer Geist, und die Erziehung in einem solchen Geiste sei als eine politische Tätigkeit zu betrachten. Genauso ist die Erziehung in vaterländischem Geiste, in Ihrem Sinne, eine politische Aktion. Meine Herren, wenn Sie das bestreiten wollen, dann liefern Sie sich ja selbst der Lächerlichkeit aus. Sie betonen ja immer wieder, dass der Kampf gegen die Sozialdemokratie von Ihnen als die wichtigste Aufgabe empfunden werde, dass die Zerstörung des sozialistischen Geistes und die Züchtung des patriotischen Geistes von Ihnen als die wichtigste politische Aufgabe angesehen werde, die die Staatsregierung zu erfüllen habe. Wie kann man sich da erdreisten zu sagen: das ist unpolitisch!

Es ist also unzweifelhaft nach allen Gesetzen der Logik dargetan, dass alle diejenigen Organisationen, die sich in dieser Weise an den politischen Bestrebungen des Kultusministeriums beteiligt haben, mindestens mit demselben Recht als politische Organisationen stigmatisiert sind, mit dem die freie Jugendorganisation als solche stigmatisiert worden ist.

Meine Herren, was hat man ständig gerade in dem Machtbereich des Berliner Polizeipräsidiums als politisch betrachtet! Da sollte zum Beispiel von meinem Parteifreunde Graf in Lichtenberg-Friedrichsfelde – das gehört auch zu diesem Titel – ein Lichtbildervortrag abgehalten werden. Da wird ihm ein Lehrschein abverlangt auf Grund der bekannten Bestimmung aus dem Jahre 1854. Schließlich werden die Leute verhaftet und auf die Wache geführt, als sie sich nicht ohne weiteres den polizeilichen Anordnungen fügen. Ein Vortrag über Naturerkenntnis wird als politisch betrachtet („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) und verfolgt.

Dann schließlich wird durch Verfügung vom 4. November 1910 die Jugendorganisation in Lichterberg vom Lichtenberger Polizeipräsidenten aufgelöst, und zwar mit der Begründung: Der Verein ist mit Rücksicht darauf, dass er für die Bestrebungen der Sozialdemokratie Propaganda macht, als ein solcher anzusehen, der eine Einwirkung auf politische Angelegenheiten bezweckt. Der Verein stehe unter der geistigen Leitung zielbewusster Sozialdemokraten und suche die schulentlassene Jugend in die Anschauungen und Bestrebungen der Sozialdemokratie einzuführen, um sie für die politische Partei der Sozialdemokratie später als Mitglieder zu gewinnen.

Ja, meine Herren, stellen Sie die Worte einfach um und fragen Sie, wie viel katholische Jugendorganisationen unter der Leitung zielbewusster Zentrumsleute stehen („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), wie viel andere Jugendorganisationen evangelischer Art unter der Führung zielbewusster Nationalliberaler, Konservativer, Freikonservativer stehen! Fragen Sie, wie viel von den neuen staatlich protegierten nicht konfessionellen Jugendorganisationen unter der Führung von politischen Beamten, die ausgeprägte Anhänger einer der Parteien der Rechten dieses Hauses sind, stehen! Und dann, auch die anderen Worte können Sie hier einfach umstellen: Der Zweck ist, die schulentlassene Jugend in die Anschauungen dieser Parteien, des Zentrums usw., einzuführen, um sie später für die politische Partei des Zentrums oder für die politische Partei der Konservativen zu gewinnen. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Es ist also nicht der geringste Zweifel, dass diese Verfügung überall auch alle die Organisationen trifft, die von der Regierung protegiert werden, von denen die Regierung durchaus nicht alle die Nachweise über Lehrbefähigung usw. verlangt, die vielmehr von der Regierung – wenn dieser Standpunkt gegenüber den sogenannten sozialdemokratischen Jugendorganisationen zutreffend wäre – in schlechthin gesetzwidriger Weise geduldet werden. Denn die Regierung ist verpflichtet, Ungesetzlichkeiten, wo immer sie sie findet, zu ahnden und zu verhindern. Es gibt nach dem Gesetz kein Mit-verschiedenem-Maß-Messen; aber wenn es das nach dem Gesetze nicht gibt – in Preußen gibt es das allerdings („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), und in Preußen ist es jeden Tag an der Tagesordnung –, so erleben wir es eben auch hier.

Ich will noch erwähnen, dass in genau derselben Weise auch die Charlottenburger Jugendorganisation aufgelöst worden ist, und zwar auf Grund eines ebenso nichtssagenden, in allgemeinen Redensarten gehaltenen Bescheides, der zurückzuführen ist auf die allgemeine Verfügung des Ministers des Innern, die die Polizeiorgane anweist, mit allen Mitteln vorzugehen. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Wenn unsere Polizeiverwaltungen, die an und für sich schon oftmals die Grenze zwischen Gesetz und Ungesetzlichkeit nur mit Schwierigkeiten innezuhalten wissen, durch einen solchen Erlass geradezu gehetzt werden, wie die Hunde gehetzt werden, gegen die sogenannten sozialdemokratischen Jugendorganisationen, dann soll man sich noch wundern, wenn sich dann dieses Eingreifen in einer noch ungesetzlicheren Weise vollzieht, als wir es in Preußen bereits sonst gewöhnt sind. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Vor kurzem, am 8. Januar dieses Jahres erst, hat das Berliner Polizeipräsidium fünf Versammlungen, unpolitische öffentliche Jugendversammlungen, aufgelöst und mit Waffengewalt auseinandergetrieben („Hört! Hört!"); fünf Versammlungen, in denen durchaus unpolitische Themata erörtert wurden. („Hört! Hört!") In einer dieser Versammlungen – das will ich Ihnen als Kuriosum mitteilen, damit Sie nicht denken, dass derartige Unsinnigkeiten, wie sie der Herr Abgeordnete Korfanty hier berichtet hat, gerade nur in Oberschlesien vorkommen und nicht auch im Berliner Polizeipräsidium –, in einer dieser Versammlungen sollte eine Vorlesung aus Treitschkes Bildern aus der deutschen Geschichte stattfinden. Meine Herren, Treitschke ist nun wahrhaftig doch wohl kein Sozialdemokrat, und dieser temperamentvolle Herr würde sich, glaube ich, im Grabe ein Dutzendmal umwälzen, wenn er hören würde, dass er irgendwie mit der Sozialdemokratie in Beziehung gebracht wird; und nun ausgerechnet die Vorlesung aus einem seiner Werke wird als politische Veranstaltung betrachtet und nicht als eine belehrende Veranstaltung, und eine Versammlung mit diesem Thema wird aufgelöst.

Meine Herren, in Bezug auf die Organisationen anderer Parteien, die man ruhig duldet, möchte ich hier nur noch ein besonders krasses Beispiel anführen. Ich spreche von dem nationalen Jugendbund, der auch in Berlin unter den Fittichen des Polizeipräsidiums sein Dasein fristet und von dem unter anderem eine Filiale in Potsdam ist. In dieser hat der Gymnasiallehrer Dr. Rassow im Januar vorigen Jahres einen Vortrag über Weltpolitik gehalten. Meine Herren, dass Weltpolitik Politik ist, dürfte wohl ziemlich klar sein. Es ist also klar, dass diese Organisation, die auch im Bereiche des Berliner Polizeipräsidenten ihre Filialen hat, mindestens in der Potsdamer Filiale, die ja doch mit der Gesamtorganisation eine Einheit bildet, zweifellos eine politische Aktion vorgenommen hat, so klar politisch wie irgend etwas sein kann. Hier gäbe es Arbeit für den Herrn Polizeipräsidenten und für den Herrn Minister. Aber wir sehen nicht, dass eingegriffen wird, da drückt man nicht ein Auge zu, da drückt man beide Augen zu, und wenn man noch mehr als zwei Augen hätte, würde man die auch noch zudrücken. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten. – Zuruf: „Hühneraugen!")

Meine Herren, welchem Zwecke nun dieses Vorgehen gegen die Jugendorganisation dient, darüber ist uns ja nicht der allergeringste Zweifel. Einmal ist ja der Herr Kriegsminister an den Verhandlungen beteiligt gewesen, und da wusste man schon, woher gerufen wurde. Der Herr Kriegsminister hat ja bekanntlich im Sommer des vergangenen Jahres nach einer zuverlässigen Berliner Korrespondenz erklärt, dass er an das Staatsministerium eine Vorstellung gerichtet habe, nach deren Inhalt er die Verantwortung für die Schlagfertigkeit der Armee für die Dauer nicht auf sich nehmen könne, wenn der antimilitaristischen Agitation unter der Jugend vor ihrer Aushebung namentlich in bestimmten Landesteilen nicht mit aller Energie gesteuert werde. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Die „Deutsche Tageszeitung" hat den wesentlichen Inhalt der Korrespondenznotiz bestätigt und nur behauptet, dass von einer Vorstellung im eigentlichen Sinne des Wortes im vorliegenden Falle nicht die Rede gewesen sei.

Und nun, meine Herren, erinnere ich weiterhin daran, dass die „Deutsche Tageszeitung" gelegentlich – es ist erst im Januar dieses Jahres gewesen – die sogenannte sozialistische Jugenderziehung um deswillen als besonders gefährlich bezeichnet hat, weil junge Burschen, die schon einmal aller Zügel ledig gewesen sind, nur knirschend wieder Gehorsam üben.

Meine Herren, wenn man also daraus sieht, wie der Kampf gegen die Jugendorganisationen nicht nur der Erhaltung der sogenannten Disziplin in unserer Armee, sondern auch dem Zwecke dienen soll, billige und bequem auszunutzende Arbeitssklaven für das Unternehmertum in der Industrie und auf dem Lande zu schaffen und zu erhalten, dann ist einem wahrlich klar genug, von wie wenig idealen Gesichtspunkten all diese Jugendbestrebungen ausgehen, die hier die staatliche Unterstützung finden, die hier, gerade in diesem Etat, ja mit einer besonderen Zuwendung5, mit der wir uns noch näher zu beschäftigen haben werden, bedacht werden sollen.

Zweifellos wird der Polizeikampf gegen die sogenannte freie Jugendbewegung nicht zu dem Resultat führen, das man sich auf Seiten der Regierung einbildet. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Ich habe in diesem Hause bereits darauf hingewiesen, dass es kein besseres Mittel gibt, um die Jugend, wie sie nun einmal bei uns beschaffen ist, die nicht bereit ist, Schindluder mit sich spielen und sich einfach willenlos wie ostelbische Leibeigene traktieren zu lassen – dass man nichts Besseres tun kann, um diese Jugend zu erregen und der Sozialdemokratie und der freien Jugendbewegung zuzuführen, als eine derartige Sorte von Bekämpfung, als eine solche offene und geradezu schamlose Proklamation des Grundsatzes, dass gleiches Recht nicht für alle gilt („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), dass im Gegenteil gegenüber der Jugendbewegung mit verschiedenem Maße gemessen werden müsse. (Erneute Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)

Es gibt nichts, was uns unsere Agitation so erleichtert – das möchte ich Ihnen, meine Herren, sagen –, als dass man das natürliche Gerechtigkeitsgefühl des Volkes mit Füßen tritt, und indem wir dem Volke nur einfach die verschiedenartige Behandlung der der Staatsregierung und der Rechten dieses Hauses genehmen Organisationen und alles dessen zeigen, was mit der Sozialdemokratie im Entferntesten etwas zu tun hat. Nichts kann aufreizender und aufregender wirken als dieser Angriff auf die Jugendbewegung. (Zuruf rechts: „Seien Sie doch zufrieden!" – Abgeordneter Hoffmann: „Ja, wir müssen Sie noch mehr reizen!" Lachen rechts.)

Meine Herren, wenn ich empört bin über das Verhalten, das ich hier charakterisiert habe, so bin ich von genau demselben Gefühl getragen wie diejenigen, die durch diese Maßnahmen zu uns geführt werden. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Natürlich sind wir von derselben Empörung beseelt. Wir sind innerlich sehr zufrieden mit der Maßnahme – aber eben nur deshalb zufrieden, weil wir an uns selbst empfinden, welche Empörung es auslösen muss, wenn man sich auf den Standpunkt des zweierlei Rechtes in Preußen stellt. – Ach, meine Herren, in der Agitation sind wir Ihnen, wenn sich's nicht gerade um gewisse Arten von Versammlungen handelt, denn schließlich doch noch über. (Lebhafte Zustimmung bei den Konservativen und Sozialdemokraten. Abgeordneter von Pappenheim: „In der skrupellosen Agitation!") In der skrupellosen Agitation? (Wiederholte Zustimmung rechts.) Gott, Herr von Pappenheim, ist es nicht von Ihnen selbst hier bei der letzten Debatte proklamiert worden, dass zweierlei Recht in Preußen gilt? („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Haben Sie nicht in der offensichtlichsten Weise Ungesetzlichkeiten zu beschönigen gesucht durch alle Ihre Freunde, durch allen Ihren Einfluss? Hat sich nicht auch der Herr Minister dahinter gestellt? („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Herr von Pappenheim, wenn Sie uns irgendwo in dem, was unsere Empörung in dieser Beziehung hervorruft, eine Unwahrhaftigkeit, eine Skrupellosigkeit nachweisen können, dann bin ich jeden Augenblick bereit, pater, peccavi zu sagen (Lachen und Zuruf des Abgeordneten von Pappenheim: „Nicht pater!"); aber das wird Ihnen beileibe nicht gelingen. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten. Lachen rechts.)

Ihre Sorte von Argumentation kennen wir schon, und ein Beispiel, wie unserer Jugendbewegung gegenüber argumentiert wird, haben wir ja gestern kennengelernt. Was hat da der Herr Abgeordnete Gronowski gegen unsere Jugendbewegung zu sagen sich erkühnt! Dabei will ich über den Geschmack gar nicht streiten, dass der Herr Abgeordnete Gronowski als ein Arbeitervertreter des Zentrums es für angezeigt gehalten hat, gegen diese schwer angefeindeten, auf einer so gefährdeten Position stehenden Organisationen nun obenein noch in so denunziatorischer Weise loszugehen. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Ich beneide ihn nicht um die christliche Tat, die er da begangen hat. (Unruhe im Zentrum. Zustimmung bei den Sozialdemokraten. Glocke des Präsidenten.)

Präsident von Kröcher: Herr Abgeordneter Liebknecht, durch den Zuruf des Herrn von Pappenheim kommen Sie ein bisschen vom Thema ab. (Heiterkeit. Abgeordneter von Pappenheim: „Ich bitte um Entschuldigung!") Ich bitte Sie, wieder zum Polizeipräsidenten oder der Polizeiverwaltung von Berlin zurückzukehren.

Liebknecht: Da ich von den Angriffen gegen die Jugendbewegung gesprochen habe, will ich nur noch betonen, dass alle derartigen Angriffe von uns nur gebucht werden als Zeichen der unverwüstlichen und Ihnen gefährlichen und verderblichen Kraft unserer Jugendbewegung. („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.) Darum reagieren Sie so prompt; aber ein Resultat werden Sie, wie gesagt, nicht haben.

Die Selbstdisziplin der Arbeiter

Mein Parteifreund Hirsch hat von Misshandlungen auf den Polizeiwachen gesprochen; der Herr Minister ist darauf nicht eingegangen. Wenn der Herr Minister sich über Fälle orientieren will, in denen das gerichtlich festgestellt worden ist, so empfehle ich ihm, sich einmal von dem Berliner Landgericht II – jetzt wird es wohl III sein – die Akten über den Prozess gegen Hippa aus dem Jahre 1902 geben zu lassen, in dem ein Spandauer Fall verhandelt worden ist und in dem das Gericht zu dem Ergebnis kam, dass entgegen den eidlichen Bekundungen der vernommenen Polizeibeamten der Beweis für eine gröbliche Misshandlung eines Arbeiters auf der Wache erbracht worden sei. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Fälle ähnlicher Art haben wir in Hülle und Fülle, und wenn die Absicht bestände, solchen Fällen ernstlich nachzugehen, wären wir gern bereit, dem Herrn Minister dieses Material ausgearbeitet auf seinem Tisch niederzulegen.

Meine Herren, nun frage ich Sie: Wozu ist denn die Polizei da, und wozu ist das Berliner Polizeipräsidium da? Doch wohl als ein Organ, das den Interessen der Allgemeinheit zu dienen hat, als ein Organ, das nicht dazu bestimmt ist, die Interessen einer gewissen kleinen Schicht der Bevölkerung ausschließlich wahrzunehmen.

Meine Herren, wie stellt sich die Polizei in Berlin gegenüber dem Volke? Man kann sich in der Tat nichts Engherzigeres denken als das Verhalten unserer Polizei gegenüber großen Volksbewegungen. Man sollte denken, der angeblich so starke preußische Staat geriete bei den geringsten Bewegungen des Volkes in die stärksten Erschütterungen und in die äußerste Gefahr, und deshalb müsse sich dieser große Staat nun auf das peinlichste und ängstlichste vor jedem freien Luftzug hüten, weil er sonst sofort den Schnupfen bekommen könnte. („Sehr gut!" und Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, Sie nehmen ja genauso wie der Herr Polizeipräsident von Berlin gegenüber jeder Demonstration des Volkswillens den Standpunkt ein, den ich bereits einmal an einer anderen Stelle dahin charakterisiert habe: „Der Löwe ist los." Wenn Ihnen das Bild mit diesem Namen bekannt ist – und das darf ich voraussetzen –, so werden Sie begreifen, was ich damit meine. „Der Löwe ist los" – das Volk ist auf der Straße! Was kann da für ein Unheil geschehen! Das Volk ist auf der Straße – das heißt: Mord und Totschlag, Umsturz der Ordnung usw. Gott, meine Herren, ist es nicht lächerlich, unsere Berliner Arbeiterschaft in dieser Weise zu beurteilen, unsere Berliner Arbeiterschaft, die bewiesen hat als die größte politische Organisation, die es in Deutschland gibt und jemals in Deutschland gegeben hat, dass sie versteht, in allen Fragen Disziplin zu halten! („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Denken Sie an die Demonstrationen, die von diesen Organisationen ausgeführt worden sind, denken Sie an den glänzenden Verlauf dieser Demonstrationen und an ihren friedlichen Verlauf! Denken Sie daran, wie am Sonntag vor acht Tagen in den Straßen von Berlin sich die sozialdemokratischen Arbeiter und Arbeiterinnen gezeigt haben in einem Massenaufgebot, wie Sie es bei allen Ihren patriotischen Veranstaltungen, bei allen Ihren Fürstenempfängen und dergleichen Sachen nie und nimmer auf die Beine zu bringen vermögen („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.), wie sich das Volk dort um die Fahne der Sozialdemokratie geschart hat, um einem toten Führer zu folgen, und wie die Leute stundenlang von morgens gegen zehn Uhr bis in den späten Abend hinein auf einer Stelle gestanden haben und von irgendeiner Ausschreitung auch nicht das allergeringste gemeldet werden kann. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Was ist das für eine Selbstdisziplin! Denken Sie einmal an offizielle Veranstaltungen mit annähernd ähnlichen Massen: Was dort der Regel nach geschieht an Unglücksfällen, was dort geschieht an Unbesonnenheiten und an Ausschreitungen! Und vergleichen Sie das damit! Die Polizei hat uns dabei nicht zu helfen nötig gehabt (Abgeordneter Hoffmann: „Weil sie nicht da war!"), wir haben uns selbst geholfen. Ich will anerkennen, dass, soweit Polizeibeamte da waren, sie verständig gehandelt haben; aber wenn mehr dagewesen wären, wäre es wahrscheinlich vom Übel gewesen. So ist es uns allein gelungen, das Volk in seiner Selbstdisziplin sich glänzend vor aller Welt bewähren zu lassen.

Dieses Volk wird nun von der Berliner Polizei bei jeder möglichen Gelegenheit behandelt, als ob es aus lauter wilden Tieren bestünde, die, wenn sie einmal aus dem Käfig herausgelassen sind, eine gemeine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellen. („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, ist denn die Sozialdemokratie so beschaffen, dass sie auf Rohheiten ausgeht? Hat die Sozialdemokratie nicht vielmehr Sitten und Gewohnheiten, auch in ihren Versammlungen, die auf das Allerdeutlichste erweisen, dass sie nicht daran denkt, in der Weise, wie das bei den polizeilichen Maßregeln unterstellt wird, zu exzedieren?

Meine Herren, ich darf hier bei dieser Gelegenheit Herrn Abgeordneten Gronowski, der gegen unsere Versammlungen so schwere Beschuldigungen erhoben hat, wie Sie alle gestern gehört haben, eine kleine Gegengabe, ein kleines Xenion, für diese Beschuldigungen stiften. Meine Herren, der Ton in unseren Versammlungen in Berlin und anderwärts ist in der Tat immer noch erheblich besser als der Ton, den man in Zentrumsversammlungen usancemäßig zu hören pflegt. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten. „Oho!" im Zentrum.) Meine Herren, ich könnte Ihnen in dieser Beziehung ein ganzes langes Sündenregister des Zentrums ausbreiten; ich habe nur die Besorgnis, dass es mir bei diesem Titel nicht möglich ist. Gestern hätten Ihnen die Ohren geklungen, wenn es mir möglich gewesen wäre. (Lachen im Zentrum.) – Nun, dann sind Sie vielleicht taub; Sie sind ja in gewissem Sinne für alle verständigen Vorstellungen taub. („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, denken Sie an die prügelnden Zentrumsbauern von Rhade; denken Sie an die Misshandlungen sozialdemokratischer Flugblattverteiler in Friesheim, die erst vor wenigen Jahren stattgefunden haben, ohne von dem nicht zum Zentrum gehörenden, aber den Mehrheitsparteien auf das Konto zu schreibenden Pfarrer Iskraut und ähnlichen Elementen zu reden. Diese katholischen Knüppelprinzipien sind ja in neuester Zeit in besonders drastischer Weise, nach einer Notiz der „Bonner Zeitung", in einer nationalliberalen Versammlung zum Ausdruck gekommen, die anfangs Dezember des vergangenen Jahres stattgefunden hat. Da wird ja – (Unruhe und Rufe rechts: „Zur Sache!") Ja, jetzt rufen Sie wieder: Zur Sache!

Meine Herren, da Sie wünschen, dass ich darüber nicht reden soll, und ich weiß, dass Ihr Wunsch hier Befehl ist, so füge ich mich darein. Es wird Ihnen jedenfalls noch um die Ohren geschlagen werden! (Abgeordneter Leinert: „Da sitzen ja lauter Präsidenten!") – Eben, lauter geborene Präsidenten. (Abgeordneter von Pappenheim: „Nun kommt ,Hört! Hört!' an die Reihe!") Sie verstehen das viel besser, Herr von Pappenheim! Ihr Chorus ist so gut organisiert, der Chor der Landräte aus diesem Hause ist ja weltberühmt! (Lachen rechts.)

Meine Herren, wenn ich nun die Frage der sozialdemokratischen Gesetzlichkeit noch mit einem Worte streife, so möchte ich mich gegen den Versuch wenden, uns Herrn Briand an die Rockschöße zu hängen, wie das gestern unternommen worden ist. Briand hat allerdings die Ungesetzlichkeit proklamiert. (Glocke des Präsidenten.)

Präsident von Kröcher: Es handelt sich doch nicht um die Gesetzlichkeit oder Ungesetzlichkeit der Sozialdemokratie, sondern um das gesetzliche oder ungesetzliche Vorgehen des Polizeipräsidenten oder der Polizei von Berlin. Ich bitte, doch ein bisschen zum Titel zu sprechen.

Liebknecht: Meine Herren, es ist natürlich ungemein schwierig, Ungesetzlichkeiten des Berliner Polizeipräsidenten darzulegen, ohne dass ich vorher nachprüfe, inwieweit die Voraussetzung zutrifft, dass die Sozialdemokratie eine gefährliche Horde wilder Tiere sei. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Es ist also nicht gut anders möglich, als dass ich gelegentlich – ich will es so kurz als möglich machen – auch einmal auf die Frage der Gesetzlichkeit oder Ungesetzlichkeit der Sozialdemokratie zurückkomme, um daran zu prüfen, inwieweit das Vorgehen des Berliner Polizeipräsidenten gesetzlich oder ungesetzlich gewesen ist.

Meine Herren, wenn ich diese Nervosität dem Volke gegenüber in Berlin und Umgegend sehe, so fallen mir meine Erfahrungen, die ich im Auslande gemacht habe, immer wieder ein, speziell die Erfahrungen, die ich in England und in Amerika gemacht habe.

Meine Herren, die Engherzigkeit, die man hier in Berlin gegenüber Straßendemonstrationen und Versammlungen zeigt, würde überall in Amerika und in England Kopfschütteln und Spott erregen, und die Regierungen in diesen Ländern stehen mindestens so fest da wie die preußische Regierung. Dort gibt man fast allenthalben dem Volke nicht nur die Möglichkeit, auf großen freien Plätzen ad libitum ohne polizeiliche Anmeldung zu demonstrieren, sich zu versammeln, man gibt ihm auch das Recht, sich auf den Straßen, auf den verkehrsreichsten Straßen zu versammeln; niemand hat die Befugnis, derartige Versammlungen zu hindern. Jeder, der in England gewesen ist, in germanischen Ländern, wird mir das bestätigen und wird in den verkehrsreichsten Straßen der verkehrsreichsten Städte derartige Versammlungen unter freiem Himmel gesehen haben. Sie werden sogar mit Vorliebe an die verkehrsreichsten Stellen gelegt, damit der Konflux des Publikums erleichtert wird. Und, meine Herren, auch Umzüge dürfen zumeist ohne weiteres, ohne jede Spur einer polizeilichen Kontrolle und Genehmigung, stattfinden, und das Volk hält das für so selbstverständlich, dass gesetzliche Überschreitungen der Amtsbefugnisse von Seiten der Polizeiorgane gegenüber diesen Grundrechten des Volkes allerdings dann mit einer sehr starken Empörung aufgenommen werden, die schließlich nicht ohne Erfolg bleiben kann. Der Unterschied ist allerdings der, dass das Volk darüber fast überall durch ein immerhin demokratisches Wahlrecht seine Meinung zum Ausdruck und seinen Willen zur Geltung bringen kann und dass das Volk dort auch in der Lage ist, die Verwaltungs-, die Polizeiorgane durch direkte Wahlen selbst zu bestimmen („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.), während wir hier in Preußen ja nicht den geringsten unmittelbaren Einfluss, nicht den geringsten organischen Einfluss auf die Bestellung unserer Polizeibeamten haben, während sich das Berliner Volk einfach einen Polizeipräsidenten oktroyieren lassen muss, der von den Bedürfnissen des Berliner Volks nicht die Spur einer Vorstellung hat und der die Berliner Bevölkerung dirigieren möchte, als ob Berlin ein ostelbischer Gutsbezirk und er der Patriarch in diesem Gutsbezirk sei. („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Polizei provozierte in Moabit6 und auf dem Wedding7

Meine Herren, nun komme ich auf ein anderes Thema zu sprechen, das wir immer wieder anschneiden werden: Ich komme auf Moabit zu sprechen. (Unruhe und Zurufe rechts.) – Sie hatten genug davon gehört, ehe Sie ein Wort davon gehört hatten; denn jedes Wort, das darüber geredet wurde, konnte Ihnen nur unangenehm sein. Aber je peinlicher es Ihnen ist, desto erfreulicher ist es uns. Dem einen sin Uhl ist nun mal dem anderen sin Nachtigall; das hilft nun einmal nichts.

Meine Herren, zunächst möchte ich auf die hervorragende Unzweckmäßigkeit des polizeilichen Vorgehens hinweisen.

Da mögen geringfügige Unordnungen gelegentlich vorgekommen sein, Sachen, die natürlich von unserer Seite stets verurteilt werden, die vorwiegend aber zweifellos durch die Streikbrecher provoziert worden sind, wenn sie überhaupt vorgekommen sind. Nun geht die Polizei gleich bewaffnet zur Attacke über, sie alarmiert große Truppenmassen, diese werden versteckt und offen eingelagert, das ganze Gebiet wird in Belagerungszustand versetzt, es werden große Wachen etabliert, uniformierte, bis an die Zähne bewaffnete Polizeibeamte werden mit den Arbeitswilligen, den Streikbrechern, als Eskorten geschickt, provokatorisch durch die Gegend, wo die ausgesperrten Arbeiter und ihre Freunde wohnen, hindurchgeführt, und an jeder Straßenecke steht ein Polizeibeamter mit umgeschnalltem Revolver, bereit, gegen die Bevölkerung, gegen den inneren Feind, mit aller preußischen Schneidigkeit vom Leder zu ziehen. Wenn ein solches Bild die Bevölkerung nicht erregt, nicht aufmerksam macht und geradezu allen Janhagel und alles, was dazu gehört, heran locken musste, so weiß man in der Tat nicht, was die Polizei besser hätte tun können, um diesen Erfolg zu erzielen. Daraus musste naturgemäß eine ungeheure Neigung resultieren, auf die Straße zu laufen und sich die Bescherung anzusehen. Die Neugierigen haben nach Auffassung der Polizeibeamten das bei weitem größte Kontingent gestellt. Wenigstens waren andere als Neugierige mit verschwindenden Ausnahmen nicht vorhanden. Die Menge teilte sich in Neugierige, Janhagel, Polizeispitzel und Polizeibeamte, auf die ich noch kommen werde. Es ist dasselbe fehlerhafte und ungeschickte Vorgehen wie bei den Demonstrationen in Halle und Solingen, wo die Polizei am ungeschicktesten Ort und im ungeschicktesten Moment eingegriffen hat.

Besonderes Befremden musste erregen die Feststellung der Tatsache, dass die Polizeiorgane, die in Moabit tätig gewesen sind, sich zu einem Teil aus Charlottenburger und zu einem Teil aus Berliner Polizeibeamten zusammensetzten, dass diese beiden Arten von Polizeibeamten durchaus nicht organisch verbunden waren und organisch zusammenwirkten und dass schon dadurch ein gewisses Durcheinander ganz unvermeidlich war, wovon ich neulich berichtet habe.

Aber noch schlimmer ist etwas anderes, was sich in genau derselben Weise auf dem Wedding wiederholt hat und was selbst von den Polizeioffizieren als bedauerlich bezeichnet worden ist, dass man hier neben der Abteilung IV oder II des Berliner Polizeipräsidiums, der Sicherheitspolizei, auch noch die Abteilung VII, die politische Polizei, in weitestem Umfange hat einschreiten lassen. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Über den Umfang, in dem die politische Polizei eingegriffen hat, hatten die Beamten der uniformierten Polizei, die doch der Öffentlichkeit gegenüber schließlich die ganze Verantwortung trugen, gar keine Ahnung. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich habe den Herrn Polizeihauptmann, der auf dem Wedding tätig war – der Name ist mir nicht gegenwärtig – gefragt: „Hatten Sie eine Ahnung, dass Ihnen Beamte der VII. Abteilung zugeschickt waren?" „Ich nahm es an." „Haben Sie eine Ahnung, wie viele Beamte es waren?" „Nein!" „Wussten Sie, mit welchen Instruktionen die Beamten kamen?" „Nein!" „Wussten Sie, was die Beamten taten? Bestand die Anordnung, dass Ihnen irgendwelche Orientierung zuteil wurde?" „Nein, sie haben absolut selbständig agiert neben der ordentlichen Sicherheitspolizei."

Wenn so die Berliner Polizei wirkt – und die politische Polizei besteht aus nicht uniformierten Beamten –, wo ist denn da noch eine Kontrolle in Bezug auf Lockspitzelei und dergleichen? („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Dieses ganze Verhalten der Polizei, in diesem Falle des Herrn Polizeipräsidenten, der ja die beiden Abteilungen unter sich hat, der hier eine Souveränität der VII. Abteilung über die Beamten der uniformierten Polizei stabilisierte und dadurch der Polizei selbst die größten Schwierigkeiten gemacht hat, ist etwas, was wir nur als einen Ausfluss des Übermuts jener politischen Parteien bezeichnen, die das Schoßkind der preußischen Verwaltung sind. („Sehr wahr!")

Man könnte ja auf die Vermutung kommen, dass diese Art der unkontrollierten Hineinhetzung der politischen Polizei in die sogenannten Moabiter Unruhen und nach dem Wedding geradezu von dem Gedanken getragen war, dass die politische Polizei auf diese Weise ihr unsauberes Handwerk besser und bequemer ausüben könne, mit anderen Worten, dass man in geradezu überlegter Weise durch ein solches Verfahren der Lockspitzelei Vorschub zu leisten versucht hat. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Es lässt sich das anders überhaupt nicht verstehen. Der Polizeipräsident, der, das nehme ich von seinem Pflichtgefühl an, ein fleißiger Mann ist, wie ja unsere preußischen Beamten alle die Anerkennung beanspruchen können, dass sie fleißige Leute sind und in diesem Sinne ihre Schuldigkeit tun – wie kann diesem Herren die Tatsache entgangen sein, dass von seinen Beamten und von den Kreaturen, die von diesen Beamten gekauft waren, die inoffiziell mit der Polizei in Verbindung standen, von denen man als von Nichtgentlemen abrückt, Provokationen begangen sind; wie wäre es möglich, dass er von diesen Vorgängen, von diesem Verhalten seiner eigenen Beamten keine Kenntnis hatte. Ich stelle öffentlich die Behauptung auf, dass der Polizeipräsident ganz genau weiß, dass Lockspitzelei in weitem Umfange von seinen Beamten und von den mit ihnen in Verbindung stehenden und von ihnen gekauften Kreaturen ausgeübt wird, dass er das wissentlich duldet und in Moabit und am Wedding gefördert hat. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten .)

Es ist von dem Herrn Minister des Innern in Bezug auf die Vorgänge in Moabit und die Kritik, die Herr Hirsch an dem Verhalten des Herrn Polizeipräsidenten angelegt hat, erklärt, Hirsch habe nicht näher kontrollierbare Behauptungen aufgestellt. Das sagt derselbe Minister des Innern, der zur Widerlegung dessen, was Herr Hirsch angeführt hat, nichts anderes findet als diese eben von mir zitierte unsubstantiierte und unkontrollierbare Wendung, derselbe Minister, der zur Begründung seiner Darstellung der Vorgänge in Moabit und zur Rechtfertigung seines Verhaltens nichts anderes getan hat, als einfach Polizeiakten, unkontrollierbare Polizeiakten vorzulesen vor diesem Hohen Hause („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), nachdem längst Gerichtsurteile vorliegen mit Feststellungen, die allerdings in Widerspruch stehen mit dem, was der Minister des-Innern behauptet hat. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Das wagt derselbe Minister zu sagen, der der Vorsteher desselben Ressorts ist, dessen Akten ja in der preußischen Geschichte in der neueren Zeit eine traurige Berühmtheit erlangt haben.

Meine Herren, die Hammersteinschen Akten kennen Sie ja wohl alle; was der Minister des Innern damals von tollen Geschichten daraus festgestellt hat und was damals von unsäglichen Unwahrheiten und Fälschungen und unkontrollierbaren Behauptungen in diesen Akten niedergelegt war, das wissen wir doch alle. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Und der Herr Minister stützt sich auf Polizeiberichte derselben Berliner Polizei, in deren Schoß nachweislich im Juni des Jahres 1909 eine offenkundige Fälschung begangen worden ist, die in dem bekannten Dresdener Geheimbundprozess Grienblatt und Genossen vor aller Öffentlichkeit durch das Gericht aufgedeckt ist. Indem dort das Wort „nicht geheim, öffentlich" durch das Wort „geheim" ersetzt wurde, ist eine Fälschung schlimmster Art und unverschämtester Art ausgeführt worden. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Auf die Akten des Berliner Polizeipräsidiums stützt sich der Herr Minister, nachdem im Schoße eben dieses selben Polizeipräsidiums auch der Herr gewachsen ist, der in dem bekannten Fall Schöne-Brockhusen seine traurige Berühmtheit erlangt hat, der Herr Schöne, der Passfälscher, der heute noch seines Amtes waltet, gegen den niemand eingeschritten ist, der Herr, der die Angehörigen des russischen Staates durch Geld und andere Belohnungen und vor allem durch den Druck der Ausweisungsdrohung zum Hochverrat gegen ihr eigenes Vaterland zu pressen gesucht hat, Herr Schöne!

Ja, wenn der Herr Minister des Innern es unter solchen Umständen nicht für nötig befindet, mit der größten Ängstlichkeit und Sorgfalt über die Handlungen der Berliner Polizei zu wachen, wenn er unter solchen Umständen sich noch für legitimiert hält, einfach auf Berichte der Berliner Polizei zu bauen und daraufhin dann noch so weit geht, meinem Freund Hirsch, der, auf gerichtliche Feststellungen gestützt, seine Behauptungen aufgestellt hat, den Vorwurf zu machen, dass er nicht näher kontrollierbare Behauptungen aufgestellt habe, dann muss ich allerdings sagen: Das ist ungefähr das stärkste Stück, das mir in meinem Leben vorgekommen ist. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich will von den Orgien der Provokation, die in Moabit geübt worden sind, nicht weiter sprechen, ich will auch nicht noch einmal auf die „tadellose Manneszucht" zurückkommen, von der Herr von Jagow gesprochen hat, und ich will nicht bittere Worte über die „preußische Disziplin" sagen, von der Herr Abgeordneter Cassel so viel gesprochen hat und von der er, wie mir scheint, mehr verlangt hat, als sie jemals hätte leisten können. Ich will Sie auch nicht noch einmal durch Wiederholung der einzelnen Gräueltaten, die gerichtlich festgestellt sind, hier in Anspruch nehmen; wir werden bei anderer Gelegenheit noch darauf zurückkommen; wir werden darauf immer wieder zurückkommen, und je unangenehmer Ihnen das ist, um so mehr werden wir es tun.

Nachdem die Beweisaufnahme in dem Moabiter Prozess die für das Berliner Polizeipräsidium so unangenehme Wendung genommen hatte, da begab sich bekanntlich der Polizeipräsident von Jagow auf die Zeugensuche. In einem bekannten Erlass von jener berühmten Jagowschen Art hat er das Publikum, das „zur Ordnung und zum Staat" „treu hält", aufgefordert, den armen, bedrängten Polizeibeamten zur Seite zu stehen. Er hat ja auch ein paar Zeugen gekriegt, und sie wurden immer umschichtig mit den Zeugen vernommen, die die Verteidigung aufgebracht hatte. Das war aber auch eine Sorte Zeugen! Der Berliner Polizeipräsident hat wahrscheinlich gedacht: Gott behüte mich vor diesen Freunden. Nahezu jeder Zeuge eine Blamage, und viele Zeugen waren im Gegenteil sogar Stützen für die Behauptungen der Verteidigung.

Dass der Berliner Polizeipräsident überhaupt so auf die Zeugensuche gehen und gewissermaßen an die öffentliche Mildtätigkeit appellieren musste, war schon ein recht bedenkliches Zeichen. Ein Polizeipräsidium, das sich bei der Bevölkerung derart verhasst gemacht hatte, dass es absolut außerstande ist, irgendwie ein Zeichen des Vertrauens der Bevölkerung in der Öffentlichkeit darzubieten gegenüber all den scharfen Angriffen, die man gegen das Polizeipräsidium gerichtet hatte, kann seines Amtes nicht in einer seinen Aufgaben entsprechenden Weise walten. Sind denn die Berliner etwa so bösartige Menschen, dass sie, wenn man ihnen ein ganz klein wenig verständig entgegenkäme, nicht auch bereit wären, vielleicht viel mehr polizeifromm zu werden, als es uns lieb wäre? Wir haben Ihnen ja schon bei einer anderen Gelegenheit, bei der Besprechung des Moabiter Urteils, gezeigt, wie bescheiden die Bevölkerung gegenüber diesem Urteil gewesen ist, wie leicht es ist, Vertrauen beim Volk zu gewinnen. Dass aber dies Vertrauen zur Berliner Polizei nicht besteht, das ist die schärfste Kritik, durch den Erfolg geübt, die überhaupt denkbar ist.

Dann kommt schließlich auch noch sogar der Abgeordnete Freiherr von Zedlitz, und auch der übt Kritik an der Berliner Polizeiverwaltung. Er übt sogar organisatorische Kritik an der Berliner Polizeiverwaltung. Er findet Worte fast einer scharfen Kritik, die sich sogar in mancher Beziehung decken mit der sozialdemokratischen Agitationsphraseologie (Heiterkeit.), wie Sie immer zu sagen pflegen. Ja, meine Herren, wenn erst die Kritik an dem Berliner Polizeipräsidium auf Herrn von Zedlitz gekommen ist, dann muss allerdings das Berliner Polizeipräsidium beinahe unter aller Kritik sein.

Meine Herren, ich weise noch einmal darauf hin, dass der Herr Minister des Innern es unternommen hat, genauso wie verschiedene Mitglieder dieses Hauses, den Herrn Polizeipräsidenten von Berlin trotz der zutreffenden Ausführungen, die auch von Mitgliedern der Mittelparteien hier gemacht worden sind, in Bezug auf seine bekannte Kaisergeburtstagsrede zu decken. Meine Herren, lässt sich das denn dieses Haus gefallen? Lassen sich denn das diese Parteien gefallen? Meine Herren, wenn Sie wollten (zum Zentrum), Sie würden schon mit den Herren Ministern fertig werden! Sie könnten ihnen schon die Hölle heizen, die Herren vom Zentrum, die ja alles machen könnten, wenn sie wollten. Aber sie wollen eben nicht, sie gehen immer Arm in Arm mit den stärksten Parteien dieses Hauses, wenn es gilt, gemeinschaftlich auf das Volk los zu prügeln; wenn es sich aber darum handelt zu zeigen, was man leisten kann in der Verteidigung von Volksrechten, an Stolz und Energie gegenüber Ministersesseln, dann wagen die Herren wohl zuweilen einmal den Mund ein bisschen aufzutun, aber dann hört es schon auf. Dass die Herren einmal dem Minister gegenüber einen solchen Ton anschlagen würden, wie es sich gestern der Herr Abgeordnete Gronowski gegenüber der Partei herausgenommen hat, die in diesem Hause natürlich immer überschrien wird durch Ihren Chorus – eine große Heldentat, Herr Gronowski! –, das wagt das „volksfreundliche" und einstens demokratische und oppositionelle Zentrum natürlich nicht zu tun. Meine Herren, treiben Sie es nur so fort! Es ist alles Material für uns; wir legen es zu dem übrigen; wir haben fast zu viel.

Meine Herren, um dem Herrn Minister des Innern klarzumachen, wie gefährlich seine Billigung des Verhaltens des Herrn von Jagow ist, möchte ich betonen, dass die Worte des Herrn von Jagow geradezu eine Provokation darstellen an die Polizeibeamten, die gesetzwidrig gehandelt haben, in ihrem bisherigen Verfahren weiter fortzufahren. Das ist ja auch von verschiedenen Rednern dieses Hauses hervorgehoben worden. Es ist aber nicht möglich, diesen Herrn Minister des Innern, der doch verpflichtet ist, die Gesetze zu halten, und der verpflichtet ist, auch die Interessen der Verwaltung, die Interessen der Allgemeinheit zu vertreten – es ist nicht möglich, diesen Herrn zu seiner Pflicht zu rufen, dass er diesen pflichtwidrigen Polizeipräsidenten rügen möge und dass er erklären möge, dass hier in der Berliner Polizeiverwaltung ein Geist der Überhebung, des Übermuts herrscht – (Glocke des Präsidenten.)

Präsident von Kröcher: Herr Abgeordneter Liebknecht, ich rufe Sie zur Ordnung. („Bravo!" rechts. Zurufe bei den Sozialdemokraten.)

Liebknecht: Meine Herren, ich möchte den Herrn Minister des Innern an jenes Wort Shakespeares aus dem „Macbeth" erinnern: „Auch strenge Tugend kann sich schrecken lassen durch eines Königs Machtwort." Nun ist ja Herr von Jagow kein König, aber er ist doch ein „König", wie wir hier in diesem Hause „Könige" haben – einen haben wir ja ganz gewiss hier –, er ist „von Gottes Gnaden", wie die ganze preußische Polizei „von Gottes Gnaden" ist. Ja, meine Herren, „auch strenge Tugend kann sich schrecken lassen durch eines Königs Machtwort"! Wem daran liegt, dass die Ungesetzlichkeiten nicht fortgesetzt werden, der möge solche ganz unqualifizierten Kundgebungen, wie sie von dem Herrn von Jagow ausgegangen sind, künftig mit allen Mitteln unterdrücken und verhindern.

Meine Herren – (Zurufe rechts.) Ach! (Erneute Zurufe.) – Ich bin nicht zu Ihrem Vergnügen da. (Große Heiterkeit rechts.) Meine Herren, ich möchte auf ein sonderbares Zusammentreffen hinweisen. Sie wissen, dass die Moabiter Unruhen so gegen Ende September begonnen haben. Durch ein eigentümliches Zusammentreffen hat nun der Berliner Polizeipräsident gerade am 24. September einen Erlass verfügt, der das Waffentragen ohne Waffenschein verbietet.

Der Zeitpunkt dieses Erlasses trifft in einer ganz merkwürdigen Weise zusammen mit dem Zeitpunkt des Beginns der Moabiter Unruhen, und ich weiß nicht, welche Folgerungen man nach dem ganzen Verhalten der Berliner Polizei aus diesem eigentümlichen Zusammentreffen der Daten ziehen darf. Es mutet dieser Erlass an wie ein Erlass zur Entwaffnung des Volkes (Lachen rechts.), als ein Erlass zur Entwaffnung des Volkes, von dem man bereits damals wusste, dass es mit ihm vielleicht zu Zusammenstößen kommen könnte. Meine Herren, alle Phantasie kann nicht so weit tragen wie dasjenige, was von der politischen Polizei festgestelltermaßen oft genug bekannt geworden ist, und deshalb lassen wir uns durchaus nicht dadurch, dass Sie solche Behauptungen etwa als phantastisch bezeichnen, davon abbringen, dass wir hier den ernsten Verdacht aussprechen, dass ein Zusammenhang besteht.

Meine Herren, der Herr Abgeordnete von Zedlitz hat die Behauptung aufgestellt und wiederholt, dass die Zeugen von den Gerichten dahin charakterisiert worden seien, sie hätten unter dem Einfluss sozialdemokratischer Suggestion in Verhetzung gestanden und seien infolgedessen nicht in der Lage gewesen, objektiv die Wahrheit zu bekunden.

Meine Herren, das ist nicht wahr. Das Gericht hat davon nicht gesprochen; das Gericht hat darauf hingewiesen, dass naturgemäß über die Vorgänge in Moabit inzwischen in der gesamten Presse ungeheuer viel geschrieben worden ist. Das ist das Wesentliche, und die Unrichtigkeit, gelinde gesagt, in der Darstellung des Herrn von Zedlitz springt sofort in die Augen. Es ist nicht mit einem Worte gesagt, dass die Erregung durch die Presse nur erfolgt sei bei den sozialdemokratischen Zeugen, sondern ganz allgemein, wie das ein naturgemäßer Vorgang ist. Das, was das Gericht festgestellt hat über die Objektivität und Zuverlässigkeit der Zeugen, ist nichts anderes, als was die Verteidiger selbst erklärt hatten und was in der Natur der Sache liegt. Es ist also, wie durchaus zutreffend von uns wiederholt charakterisiert worden ist, ein geradezu unerhörter Angriff, den hier Herr Freiherr von Zedlitz unter dem Schutze seiner Immunität gemacht hat gegenüber den Zeugen und gegenüber der sozialdemokratischen Presse.

Meine Herren, wenn ich aber auf die Frage komme, wer denn nun die Presse beeinflusst hat und in welcher Weise die Aufklärung der Sache erschwert wurde, möchte ich nicht verfehlen, daran zu erinnern, dass gerade die Polizeipresse unausgesetzt von Polizeiberichterstattern gespickt worden ist („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) mit den bösartigsten, irreführenden Nachrichten, mit Nachrichten, die auch die bürgerliche Presse vielfach irregeführt haben. Denken Sie an das „Femgericht bei Pilz", denken Sie daran, was aus dieser Sache geworden ist. Dann, meine Herren, denken Sie an die verprügelten Journalisten. Das ist vielleicht ein Zufall, meine Herren. Aber, meine Herren, es ist für mich ganz klar: Man muss mindestens damit rechnen, dass die prügelnden Beamten dachten: das sind „Leute vom Federvieh"; von denen – sie sind bei der Polizei beliebt! – darf man sich nicht in die Karten sehen lassen. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, welchen Zweck hat denn nach der Auffassung der meisten Beteiligten das Verbot der Polizei gehabt, die Fenster zu öffnen? Welchen Zweck hat denn der Befehl gehabt, alles zu verschließen und zu verrammeln und nicht auf die Balkone zu treten? Nach Auffassung der meisten Beteiligten, die den klarsten Eindruck gewonnen haben, nichts anderes als wesentlich den Zweck zu verhindern, dass unparteiische Zeugen für die Vorgänge auftreten können. (Unruhe rechts. „Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, Sie werden uns nie und nimmer davon abbringen, solche Behauptungen in Bezug auf die Polizei aufzustellen.

Meine Herren, angesichts der Vorgänge in Moabit haben wir ein Gesetz nötig, das auch allen denjenigen ein Recht auf Entschädigung aus der Staatskasse gibt, die geschädigt worden sind, ohne dass ein Aufruhr vorgelegen hat und ohne dass der einzelne schuldige Polizeibeamte als Täter nachgewiesen werden kann.

Der Fall in Moabit8 steht ja nicht allein da; wir haben in Berlin ähnliche Fälle gehabt. Denken Sie an die Ferrer-Versammlungen9 mit ihren Prügeleien! Im vergangenen Jahre ist dies eingehend behandelt worden. Bürgerliche Zeugen sind es ja gewesen, Leute wie Graf Hoensbroech sind es ja gewesen, die ja sehr deutlich ihrer Empörung Ausdruck gegeben haben. Denken Sie an die Wahlrechtsdemonstrationen in den Jahren 1908 und 1910! Denken Sie an Dinge wie den Fall Biewald usw.! Das Vorgehen der Polizei ist weder an Ort noch an Zeit gebunden; sie ist über Ort und Zeit erhaben. Die Polizei ist in Halle, Magdeburg, Breslau, Neumünster, Frankfurt immer dieselbe.

Nun, meine Herren, über die Frage der Lockspitzeleien will ich nichts anführen, da wir hoffentlich noch Gelegenheit haben werden, sie im Einzelnen zu erörtern. (Unruhe rechts.) Meine Herren, das eine aber darf ich Ihnen noch sagen: Wir hoffen, dass der Herr Berliner Polizeipräsident bei dem bevorstehenden Prozess gegen den „Vorwärts"10 nicht etwa die Vorlage der Geheimakten verweigern wird („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.), nicht etwa seinen Beamten die Genehmigung zur Aussage verweigern wird. Das wäre ein sonderbarer Versuch, die Polizei zu rechtfertigen; das wäre ein Versuch mit den untauglichsten Mitteln. Das würde bedeuten, dass der Berliner Polizeipräsident, statt sich mit Wasser rein zu waschen, sich vor aller Öffentlichkeit mit Tinte waschen würde. (Zuruf bei den Sozialdemokraten: „Das wird er doch!") Wir in Preußen müssen ja alles gewärtigen.

Aber, meine Herren, das möchte ich nicht verfehlen zu bemerken: Wie man auch die Frage der Lockspitzel in Moabit entscheidet, das Verhalten der Polizei ist von vornherein prinzipiell derart gewesen, dass die Schuld – mindestens für den Umfang, den die Sache angenommen hat – an der Polizei hängen bleibt infolge ihrer unzweckmäßigen und unsinnigen Maßregeln, infolge der Provokationen, die der Öffentlichkeit unermesslich zuteil geworden sind, geradezu der Unmenschlichkeiten, mit denen man die Arbeiterbevölkerung in Moabit traktiert hat, die jeden, der nicht Fischblut in den Adern hat, zu lebhafter Erregung, Empörung anstacheln musste und gar so leicht unter Umständen auch einmal zu einer hitzigen Überschreitung der Schranken des Gesetzes hinreißen konnte. Wer so reizt, der kann sich nicht beschweren, wenn gelegentlich einmal ein Exzess verübt wird. Da ist der Schuldige nicht der, der sich hat reizen lassen und dann exzediert ist, sondern der, der gereizt hat.

Meine Herren, nun frage ich – und diese Frage richte ich wieder an den Herrn Minister des Innern –: Was wird gegen die Schuldigen getan, gegen die schuldigen Polizeibeamten? Ich darf erklären als ein Vertreter der größten Partei Preußens, der Partei, die auch in diesem Hause trotz der geringen Zahl der Mandate die bei weitem größte Zahl der Stimmen repräsentiert, ich erkläre auch gleichzeitig als Berliner Stadtverordneter (Große Heiterkeit.): Wir haben keine Lust, es uns gefallen zu lassen, dass man Vorgänge der Art, wie sie sich in Moabit abgespielt haben, einfach in der Versenkung verschwinden lässt und dass es mit den schuldigen Polizeibeamten hier ebenso geht, wie es mit dem Handabhacker in Breslau gegangen ist, den man ja immer noch nicht „gefunden" hat.

Wir werden das Ceterum censeo „Was geschieht dem schuldigen Beamten?" immer wieder von Neuem aussprechen, und ich formuliere unsere Forderung dahin: Welche Maßnahmen hat der Herr Minister gegen den Herrn von Jagow, den Polizeipräsidenten von Berlin, ergriffen, um den Herrn von Jagow künftig von ähnlichen Ausschreitungen abzuhalten? Hat er bereits das erforderliche Disziplinarverfahren eingeleitet – wie er wohl getan haben würde, wenn es sich um eine liberale Kundgebung oder vielleicht sogar schon um eine nationalliberale Kundgebung irgendeines Polizeipräsidenten gehandelt hätte? Unsere zweite Frage lautet: Welche Maßregeln sind ergriffen worden zur Eruierung der schuldigen Beamten, derjenigen, die irgendwelche Exzesse nach gerichtlicher Feststellung begangen haben? Welche Akte sind nach dieser Richtung angeregt worden, und insbesondere, welche Maßregeln sind ergriffen worden, um den Totschläger, den schuldigen Beamten, im Falle Herrmann festzustellen? („Sehr richtig!")

Meine Herren, hier gilt es jetzt Farbe bekennen. Hier möchten wir gern hören, was das Berliner Polizeipräsidium getan hat, um seine Pflicht zu erfüllen. (Lachen rechts.) Ja, meine Herren, ein Menschenleben – es war ja nur ein Arbeiter, und die Staatsräson hat ihn zu Fall gebracht. Darauf pfeifen Sie! Ob da ein bisschen mehr oder weniger Ungesetzlichkeiten geschehen, ist Ihnen absolut gleichgültig; darüber lachen Sie. Aber dieses Arbeiters Blut wird gerochen werden, des können Sie sicher sein. Es wird dafür gesorgt werden, dass dieses Ereignis in den Annalen der Geschichte der Arbeiterbewegung immer wieder und wieder rot angestrichen wird und dass immer wieder neue Empörung aus diesem Ereignis herauswachsen wird, eine Empörung, die Ihnen zum Schaden und zur Schande auf ewig gereichen wird. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, hier müsste längst Remedur eingetreten sein.

Wo ist die Berliner Mordkommission geblieben, meine Herren, die sonst ja so rasch da ist in solchen Fällen? Es ist ja ein Totschlag! Wo war die Berliner Mordkommission, wo waren die Polizeihunde in diesem Falle? Hat man überhaupt schon irgendeinen Finger gerührt? Ich bin überzeugt: Es ist nichts geschehen, es wird nichts geschehen, in alle Ewigkeit nicht, solange derartige politische Zustände in Preußen herrschen, wie sie im Augenblick noch herrschen.

Dann aber noch eins! Wenn aller Erwartung zuwider dennoch in dieser Angelegenheit irgend etwas unternommen sein oder auch unternommen werden sollte, dann, meine Herren, gibt es eines, was, wie mir scheint, selbstverständlich ist: Diese Maßregeln dürfen nicht in die Hände der Berliner Polizei selbst gelegt werden. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Die Untersuchungen, die hier einzuleiten sind, müssen der hier selbst beschuldigten Berliner Polizei aus den Händen genommen werden. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Sie müssen einer unparteiischen Instanz, einer Behörde, die absolut keine Beziehungen zum Berliner Polizeipräsidium hat, übertragen werden. Das ist so selbstverständlich, dass ich denke, dass sogar Sie einsehen werden, wie selbstverständlich es ist. (Lachen rechts.) Gott, meine Herren, ja, ich überschätze Sie. Warten wir einmal ab, meine Herren, vielleicht wird es uns doch noch gelingen, Sie einmal so zu erziehen, dass Sie lernen werden – und wenn nicht aus gutem Herzen heraus, so werden Sie müssen –, dass das Volk es durchzusetzen wissen wird, mit genau demselben Maße gemessen zu werden, mit dem Sie selbst gemessen zu werden als Ihr gutes Recht in Anspruch nehmen.

Nun, meine Herren, was geschieht denn aber? Ich habe von Maßregeln der Art bisher nichts gehört. Andererseits habe ich davon gehört, dass den Berliner Polizeibeamten Orden erteilt worden sind in Hülle und Fülle und dass in den vorliegenden Etat ein besonderer Titel, 160.000 Mark besondere Dienstprämien für die Beamten der Königlichen Schutzmannschaft, zum ersten Male eingesetzt worden ist. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Ja, meine Herren, man denkt, hier muss mit Feuer und Schwert eingegriffen werden! Sogar die Herren Redner der Nationalliberalen Partei, der Zentrumspartei haben Veranlassung gefunden, Remedur zu fordern, sogar Herr Freiherr von Zedlitz. Aber ohne dass wir bisher von irgendeinem Vorgehen gegen die Beamten etwas gehört hätten und nachdem der Herr Minister des Innern den Herrn Polizeipräsidenten hier immer wieder und gestern, glaube ich, zum dritten Male scharf und ausdrücklich gedeckt hat, da hören wir, dass diese selben Polizeibeamten nicht nur mit Orden, sondern auch mit Dienstprämien versorgt werden sollen. Das ist ein besonderer Anreiz, sich künftig in den Schranken des Gesetzes zu halten. Es spricht dafür, dass man sich schließlich im Innersten darüber freut, dass die Schranken des Gesetzes von der Polizei überschritten worden sind. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Allerdings hat man empfunden, dass es auch anderer Mittel bedarf, um die Schutzmannschaft zu erziehen, und da ist ein Mittel, das ganz gewiss auf Seiten des Zentrums große Begeisterung erregen wird: der Verein christlicher Schutzleute (Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.), in dem „Frömmigkeit" und „Gottesfurcht" verbreitet wird. Ja, meine Herren, man hat wohl gemerkt, dass es notwendig ist, noch etwas anderes zu machen, als Orden zu verleihen und Dienstprämien zu zahlen, man hat gemerkt, dass man den Schutzleuten schließlich doch ein bisschen die Grundregeln der Zehn Gebote einprägen muss. (Heiterkeit.) Hoffen wir nur, dass die Zehn Gebote in dem Sinne gelehrt werden, in dem sie einstens gelehrt worden sind, und nicht in dem Sinne, in dem sie in unserem Staate ständig praktiziert werden; denn, meine Herren, die Prinzipien der preußischen Polizei und insbesondere auch des Berliner Herrn Polizeipräsidenten sind nicht die Prinzipien der Gesetzlichkeit, es sind im Gegenteil die Prinzipien, die gestern der Herr Abgeordnete Schiffer in einer erfreulichen Deutlichkeit gezeichnet hat, als er sich hier in scharfer Weise dagegen wandte, dass der Herr Minister des Innern es für seine Pflicht gehalten hat, unter allen Umständen ohne ein Wort der Missbilligung und Rüge gegenüber den Polizeibeamten seine Untergebenen zu decken, und dass dasselbe von Herrn von Jagow geschehen sei. Die Kritik, die Herr Schiffer daran anlegte, können wir Wort für Wort unterschreiben …

Der Herr Abgeordnete von Woyna hat vorhin die Behauptung aufgestellt, das Prinzip der preußischen Staatsräson sei auch um deswillen gerechtfertigt, weil noch überall, wenn liberale Beamte in die Verwaltung, besonders in die Verwaltung des Innern, hineingekommen seien, sie eine konservative Gesinnung angenommen hätten. Nun – wir haben ja das bekannte Sprichwort: Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand (Abgeordneter Hoffmann: „Nicht immer!" – Heiterkeit.), aber manchmal gilt auch das Umgekehrte, besonders bei uns in Preußen: Wem Gott ein Amt in der preußischen Verwaltung des Innern gibt, dem nimmt er den Verstand. („Sehr richtig!" und Heiterkeit bei den Sozialdemokraten. Lebhafter Widerspruch und Unruhe rechts und im Zentrum.) …

Meine Herren, Sie können hier in diesem Hause das Gefühl gewinnen, dass Sie gegenüber unseren Angriffen schließlich doch Recht behalten, denn Sie sind in der Mehrzahl in diesem Hause. Aber nicht Sie werden zu entscheiden haben, sondern das Volk draußen wird schließlich zu entscheiden haben, und dieses Volk steht, entgegen den Anführungen des Abgeordneten Gronowski, auf unserer Seite (Widerspruch rechts und im Zentrum.), und es wird auch einen unbotmäßigen und ungesetzlichen Berliner Polizeipräsidenten mit Energie in seine Schranken zurückzuweisen wissen. („Bravo!" bei den Sozialdemokraten. Zischen rechts.)

II

16. Februar 1911

Der Herr Abgeordnete Freiherr von Zedlitz hat sich, wie ich gehört habe, in seiner Rede heute früh lebhaft mit mir beschäftigt. Er hat unter anderem von Unrichtigkeiten und Verdächtigungen in großer Zahl gesprochen, die ich gestern vorgebracht hätte. Er hat nun seinerseits geglaubt, diese Art der Charakterisierung meiner Ausführungen dadurch stützen zu können, dass er den Herrn Minister als Eideshelfer anrief. Er behauptete, der Herr Minister hätte meine Anschuldigungen mit Recht als „ungeheuerlich" bezeichnet.

Herr Freiherr von Zedlitz hat offenbar nicht zugehört. Die Sache liegt so, dass der Herr Minister gestern auf das Wesentliche meiner Ausführungen überhaupt mit keiner Silbe geantwortet hat („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten und rechts.) und dass er nur von der einen ungeheuerlichen Beschuldigung der Lockspitzelei gesprochen, nur in Bezug darauf dieses Wort gebraucht hat.

Weiterhin hat Herr Freiherr von Zedlitz meine Ausführungen über die Jugendbewegung dadurch entkräften zu können geglaubt, dass er es charakteristisch genannt hat, wenn ich Bestrebungen, deren Zweck es sei, die Jugend zu Gottesfurcht, Königstreue und Vaterlandsliebe zu erziehen, als politische gekennzeichnet habe. Meine Herren, ich habe diese Erziehungszwecke als politische Zwecke bezeichnet, weil Sie selbst Ihrerseits diese so bezeichneten Zwecke als politische Zwecke empfinden und durchzuführen bestrebt sind. Meine Herren, wer von Ihnen wird ernstlich zu leugnen wagen – wird Herr Freiherr von Zedlitz ernstlich zu leugnen wagen, dass er es für eine politische Aufgabe ersten Grades hält, Königstreue und Vaterlandsliebe zu züchten? Es ist freilich eine ganz besonders charakterisierte Vaterlandsliebe, die Sie meinen: die Liebe zu der Sorte von Staat, unter dem wir in Preußen seufzen („Oho!" rechts. „Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.), unter dem die große Masse des preußischen Volkes seufzt, die Liebe zu der Sorte von Regierung, unter der wir leiden und durch die Sie Ihre Fuchtel über die Bevölkerung in echt russischer Weise schwingen. Meine Herren, dass das etwas Politisches ist, darüber ist kein Wort zu verlieren; und Sie, im Innern Ihres Herzens, geben es zu; wer es anders sagt, meint es nicht im Ernst und sucht einen über den Löffel zu halbieren.

Wenn dann der Herr Abgeordnete Freiherr von Zedlitz diese Gottesfurcht, Königstreue und Vaterlandsliebe – ich spreche nicht speziell von Gottesfurcht, die wünschen wir Ihnen in viel höherem Maße, als Sie sie haben, aber ich spreche von Königstreue und Vaterlandsliebe –, wenn er es als Kulturaufgabe bezeichnet, diese Zwecke, diese Gesinnung zu pflegen, dann muss ich auf das nachdrücklichste bestreiten, dass die Vaterlandsliebe, von der Sie sprechen, und die Königstreue, die sich nach den Prozenten des agrarischen Verdienstes bemisst, zu den Kulturaufgaben gehört. („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, weiterhin ist von dem Herrn Abgeordneten von Zedlitz gesagt worden, ich hätte ihm mit Unrecht einen Missbrauch der Immunität vorgeworfen, weil er auch schon außerhalb dieses Hohen Hauses auf die sozialdemokratische Suggestion in den Moabiter Gerichtsverhandlungen hingewiesen hätte; er halte seine Behauptung aufrecht. Zum Belege dafür hat er ausgeführt, dass in Moabit hauptsächlich der „Vorwärts" und ähnliche Blätter gelesen werden. Meine Herren, dasjenige, worum es sich im vorigen Falle handelt, ist: Herr von Zedlitz hat behauptet, dass das Gericht die Zeugenaussagen in derselben Weise charakterisiert habe, wie er hier in diesem Hause. Er hat niemals behauptet, dass er die Zeugenaussagen so charakterisiere, sondern er hat sich auf die Autorität des Gerichtsspruches berufen, um dadurch seine einseitige fanatische, verzerrte Darstellung der Vorgänge zu rechtfertigen und zu decken. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Dagegen habe ich mit allem Nachdruck und mit Recht protestiert.

Wenn Herr von Zedlitz dann weiterhin sich erdreistet hat zu sagen („Nanu!" rechts.), dass ich die Moabiter Vorfälle in leichtfertiger Weise entstellt habe, so kann ich das zwar mit einer einfachen Handbewegung zurückweisen; aber ich gebe den Vorwurf zurück, dass Herr Freiherr von Zedlitz die gerichtliche Urteilsbegründung und die Aussagen der Zeugen im Moabiter Prozess leichtfertig entstellt hat. Und das ist wahr. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

1 Am 16. März 1904 befahl der Berliner Polizeipräsident die Ausweisung von 14 russischen Staatsangehörigen aus Preußen als „lästige Ausländer". Sie hatten am 5. März 1904 an einer Protestversammlung der russischen Studenten in Berlin teilgenommen, die sich gegen die Beleidigungen der russischen Studenten durch den Reichskanzler von Bülow in seiner Reichstagsrede vom 29. Februar und gegen die Bespitzelung durch die preußische Polizei richtete. Karl Liebknecht legte am 22. März vor dem Verwaltungsgericht Beschwerde gegen die Ausweisungen ein, die abgewiesen wurde. Nach einer von Karl Liebknecht angeregten und am 22. März durchgeführten Abschiedsveranstaltung, an der auch deutsche Sozialdemokraten teilnahmen, reisten die Ausgewiesenen am 24. März aus Berlin ab. Die verstärkte Aktivität der preußischen Polizei Ende 1903 und Anfang 1904 gegen die russischen Emigranten in Deutschland stand in engstem Zusammenhang mit der Vorbereitung des Königsberger Geheimbundprozesses.

2 Glaubenseid, der vom Papst von den katholischen Geistlichen und allen staatlichen Lehrern, die zugleich ein Priesteramt als Prediger oder Beichtiger versahen, gefordert wurde. Er sollte dem „Schutz des Glaubens" dienen, richtete sich gegen die um 1900 innerhalb der katholischen Kirche entstandene Bewegung, die versuchte, die katholische Lehre und modernes (naturwissenschaftliches) Denken (Modernismus) zu verbinden. Er richtete sich gegen den Fortschritt in Wissenschaft, Forschung und Erkenntnis und schränkte damit die Lehrtätigkeit der katholischen Lehrer an den staatlichen Hochschulen ein. Von den reaktionärsten Kreisen des Zentrums wurde die Eidesleistung als eine innere Angelegenheit der Kirche, in die sich der Staat nicht einzumischen habe, dargestellt. In Wirklichkeit war es der Versuch des Papstes, „einen Konflikt mit der preußischen Staatsregierung herbeizuführen", wie es selbst die „Kreuz-Zeitung" in einem Artikel zum Ausdruck brachte.

3 Sie war damit der staatlichen Zensur unterworfen. Die Red.

4 des Kultusministers. Die Red.

5 Einer ersten Million Mark. Siehe auch S. 204. Die Red.

6 Im September 1910 streikten die Arbeiter der Firma Kupfer & Co., einer dem Stinnes-Konzern angeschlossenen Kohlengroßhandlung in Berlin-Moabit. Als Streikbrecher des Streikbrechervermittlers Hintze, geschützt durch die Polizei, provokatorisch auftraten, kam es zu blutigen Zusammenstößen zwischen der Polizei und der Bevölkerung. Die brutal vorgehende Polizei tötete zwei und verwundete zahlreiche Personen. In zwei großen Prozessen – vom 9. November 1910 bis 11. Januar 1911 vor einer Berliner Strafkammer und vom 9. bis 23. Januar 1911 vor dem Schwurgericht des Berliner Landgerichts I – wurde gegen 18 Angeklagte verhandelt, von denen 14 insgesamt 67 ½ Monate Gefängnis erhielten. Der Rest wurde freigesprochen.

7 Am 29. Oktober 1910 begann in der Fleisch- und Wurstfabrik Morgenstern (Berlin-Wedding) ein Streik gegen die als Maßregelung erfolgte Entlassung von zwei gewerkschaftlich organisierten Arbeitern. Als die Polizei provokatorisch eingriff, kam es zu Zusammenstößen zwischen der Polizei und der Bevölkerung. Zahlreiche Personen wurden verhaftet. In einem Prozess vor der 4. Strafkammer des Berliner Landgerichts III (16. bis 25. Januar 1911) wurden 18 Personen wegen Aufruhr, Auflauf, Landfriedensbruch, Beleidigung, Bedrohung und Widerstand gegen die Staatsgewalt angeklagt. Karl Liebknecht war einer der Verteidiger. Obwohl es der Verteidigung durch eine ausführliche Beweiserhebung (§ 244 StPO) gelang, das provokatorische Vorgehen der Polizei als wesentliche Ursache der Straßenkämpfe nachzuweisen, wurden acht Angeklagte zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen und die Mehrzahl der übrigen zu einem Monat Gefängnis verurteilt. Nur ein Angeklagter wurde freigesprochen.

8 Während der Moabiter Unruhen im Herbst 1910 wurde der Arbeiter Herrmann am 27. September 1910 von zwei Polizisten durch Säbelhiebe so schwer verletzt, dass er am 3. Oktober 1910 starb. Die Arbeitermörder wurden durch den Staatsapparat gedeckt, so dass es der Polizei trotz angeblich jahrelanger Ermittlungen nicht gelang, sie aufzuspüren und zu bestrafen. Die Klage der Witwe des ermordeten Arbeiters auf Schadenersatz wurde jahrelang verschleppt.

9 Ferrer, Guardia Francisco, geb. 1859, bedeutender spanischer Publizist und Pädagoge, wurde beschuldigt, am Aufstand in Katalonien (an der sogenannten Blutwoche vom 26. bis 31. Juli 1909) maßgeblich beteiligt gewesen zu sein. Er wurde unschuldig zum Tode verurteilt und am 13. Oktober 1909 durch Erschießen hingerichtet. In Frankreich, Deutschland, Italien und anderen Ländern fanden große Protestdemonstrationen gegen dieses Schandurteil statt.

10 Der Berliner Polizeipräsident von Jagow hatte gegen einen verantwortlichen Redakteur des sozialdemokratischen Hauptorgans, des „Vorwärts", Strafantrag wegen Beleidigung der Kriminalbeamten gestellt. In einem Artikel war im Zusammenhang mit den Vorkommnissen am Wedding (siehe Anmerkung 1) der Ausdruck „Knüppelgardisten" gebraucht worden. Die erste Verhandlung fand am 28. März 1911 statt. Das Gericht lehnte den angebotenen Wahrheitsbeweis ab und verurteilte den Redakteur zu 200 Mark Geldstrafe.

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