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Karl Liebknecht 19120221 Preußische Justiz – Dienerin der herrschenden Klassen

Karl Liebknecht: Preußische Justiz – Dienerin der herrschenden Klassen

Aus Reden im preußischen Abgeordnetenhaus in der ersten und zweiten Lesung des Justizetats

[Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, V. Session 1912/13, 2. Bd., Berlin 1912, Sp. 1364–1366, 1435-1462, 1649–1651, 1653/1654. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 5, S. 22-77]

I

21. Februar 1912

Zur Rolle der Gefangenenarbeit

Meine Herren, ich habe mich nur zum Worte gemeldet, um mich gegen eine gefährliche Tendenz zu wenden, die meiner Ansicht nach aus den Ausführungen einiger der Herren Vorredner herausklang. Es handelt sich bei der Frage der Gefängnisarbeit um eine Angelegenheit, die wir durchaus nicht einseitig vom Gesichtspunkte der Konkurrenz gegen das Handwerk beurteilen dürfen, sondern die in allererster Linie vom Gesichtspunkt der Strafpolitik betrachtet werden muss.

Wenn nun unausgesetzt betont wird, dass die Arbeit der Gefangenen in einer Form geleistet werden müsse, dass dadurch dem freien Handwerk keine Konkurrenz gemacht werde, so will man doch damit im Grunde genommen nichts anderes, als jede wirklich nutzbringende und nützliche Arbeit aus den Gefängnissen verbannen; das heißt, man will damit unsere ganze Strafvollstreckung auf ein Niveau herabdrücken, auf das wir nie und niemals wieder werden herabsinken dürfen, auf die Gefahr hin, dass wir eben in eine Barbarei vergangener Zeiten herabsinken. Es wird der Gesichtspunkt, dass in den Gefängnissen Arbeit geleistet werden muss, festgehalten werden müssen; darüber sind wir uns alle einig. Dieser Gesichtspunkt wird aber auch in dem Sinne festgehalten werden müssen, dass wir vernünftige und nützliche Arbeit in den Gefängnissen leisten lassen, und darunter kann nicht nur eine Arbeit verstanden werden, die an und für sich irgendeinen Nutzen bringt, sondern eine Arbeit, die auch Wert hat für die Gefangenen selbst, das heißt eine Arbeit, die den Wert hat, die Gefangenen zu resozialisieren, ihnen die Möglichkeit zu geben oder es ihnen zu erleichtern, wenn sie in die Freiheit zurückgekehrt sind, sich wieder als nutzbringende Mitglieder der menschlichen Gesellschaft einzugliedern.

Wenn nun Arbeit gesucht wird, die gänzlich konkurrenzlos ist – dieses Wort ist gefallen –, so kann das nur Arbeit sein, deren Fähigkeit von den Gefangenen, wenn sie in die Freiheit zurückkehren, niemals nutzbringend verwertet werden kann. Die Fähigkeiten, die die Gefangenen in den Gefängnissen erworben haben, sind dann für sie verloren; es bliebe dann nur der gesundheitliche Wert und der in gewissem Sinne moralische Wert, den die Arbeit während der Strafverbüßung unbedingt hat. Aber gänzlich ausgeschaltet würde der Wert, den die Arbeit für die künftige Freiheit hat.

In gewissem Sinne steht ja auch die Gefängnisverwaltung auf dem Standpunkt, dass gerade dieser Resozialisierungszweck ein außerordentlich wichtiger ist. Deshalb dürfen wir von vornherein überhaupt niemals den Gesichtspunkt in den Vordergrund rücken, dass es konkurrenzlose Arbeit sein müsse, die zu leisten ist; wir dürfen nur das eine fordern, dass die Schmutzkonkurrenz der Gefängnisarbeit beseitigt werde. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Aber die Konkurrenz der Gefängnisarbeit darf und kann nicht aus der Welt geschafft werden.

Tatsächlich sollte viel mehr Arbeit in den Gefängnissen geleistet werden, die der Arbeit, die von freien Arbeitern geleistet wird, durchaus gleichartig ist, damit der Gefangene seine im Gefängnis erworbenen Fähigkeiten in der Freiheit verwerten kann. Aber es müsste auch ein Weg gesucht werden, um den Schmutzcharakter dieser Konkurrenz zu beseitigen, und darauf laufen im Grunde genommen die Beschwerden des Mittelstandes hinaus. Das ist natürlich eine außerordentlich schwierige Sache. Ich habe darüber bereits wiederholt gesprochen.

Ich glaube, es würde hier ein Gedanke, den ich öfter ausgesprochen habe, zum Teil im Widerspruch zu den Vertretern der Staatsregierung, wohl eine Erwägung verdienen. Es ist hier von der preußischen Verwaltung und auch nach den Grundsätzen, die festgelegt worden sind im Einvernehmen mit den Vertretern des Handwerks usw., gefordert worden, dass die Arbeit nicht Maschinenarbeit sein solle, sondern Handarbeit. Ich glaube, dass gerade dadurch die Konkurrenz für das Handwerk festgelegt wird; denn das Wesen des Handwerks besteht ja zum großen Teil darin, dass Maschinen nicht benutzt werden. Es wird also, wenn die Maschine aus dem Gefängnis verbannt wird, der Kreis der zu leistenden vernünftigen, nutzbringenden Arbeiten beschränkt gerade auf diejenigen, die dem handwerksmäßigen Betrieb vorbehalten sind. Wenn aber in den Gefängnissen der Großbetrieb durchgeführt würde, so würde dadurch der Großindustrie Konkurrenz gemacht werden, die mehr vertragen kann, und dann würde das Handwerk keine Veranlassung mehr haben, in dieser Weise zu klagen, wie das gegenwärtig der Fall ist. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich möchte also meinen, dass gerade aus dem Gesichtspunkt der Vermeidung der Schmutzkonkurrenz gegen die minder kräftigen Schichten unserer erwerbstätigen Bevölkerung, besonders des Mittelstandes, ein mehr kapitalistischer Betrieb, ein Großbetrieb, in den Gefängnissen am Platze wäre. Das hat dann auch den außerordentlichen Wert, dass diese Arbeit, die von den Gefangenen geleistet werden würde, es ihnen noch viel mehr erleichtern würde, in die Freiheit zurückgekehrt, die in den Gefängnissen erworbenen Fähigkeiten verwerten zu können, weil die Möglichkeit, in der Freiheit als Fabrikarbeiter sich fort zu helfen, eine viel ausgedehntere ist bei den heutigen sozialen Zuständen in Deutschland als die Möglichkeit, im Handwerksbetrieb als Geselle usw. fortzukommen.

Ich möchte bitten, von diesem Gesichtspunkt aus die Sache betrachten zu wollen. Ich glaube, wenn wir dem Gedanken nachgehen, die Konkurrenz schlechthin aus der Welt zu schaffen, dann sind wir auf einem sehr gefährlichen Wege. („Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

II

22. Februar 1912

Das Fiasko der preußischen Strafjustiz

Meine Herren, es ist sehr erfreulich, wenn nach einer langen Zeit, in der gerade aus dem Richterstande so häufig geklagt wurde, dass an den Richtern eine ungerechte Kritik geübt werde, neuestens sehr verständige, besonnene Stimmen aus demselben Richterstande ertönen, die wir auch hier im Abgeordnetenhause gehört haben: dass der Richterstand eine Kritik nicht nur gern vertragen könne, sondern geradezu dringend wünsche, weil der Richterstand nur im Feuer der Kritik befähigt werde, das zu leisten, was zu leisten er berufen ist. Es ist besonders erfreulich, wenn ein Herr wie Professor Mendelssohn-Bartholdy in der „Deutschen Richterzeitung" sagt: „Durch scharfe Klagen und Angriffe kommen wir, auch wenn sie ungerecht und übertrieben sind, immer vorwärts, oder sie treiben uns wenigstens zur Befestigung unserer Stellung. Je deutlicher wir gesagt bekommen, wo der Justizschuh das Volk drückt, desto besser." („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Das ist bereits eine hinreichende Legitimation für unsere Kritik am Justizetat, und gerade von diesem Standpunkt aus ist es durchaus deplatziert, wenn man dieser unserer Kritik den Vorwurf machen möchte, dass wir sie rein zum Zwecke des Herunterreißens üben.

Meine Herren, ich beginne auch dieses Jahr wiederum mit der Feststellung, dass selbstverständlich unser preußischer und deutscher Richterstand in seinem Gros durchaus intakt ist, dass sich unter unseren preußischen Richtern eine sehr große Zahl befindet, die sich die allergrößte Mühe gibt, in höchster Unparteilichkeit ihres Amtes zu walten, und dass diese Herren auch vielfach in weitem Umfange imstande sind, dieses ihr Bestreben durchzuführen. Ich verkenne auch keineswegs, dass, wie ich ebenfalls bereits gesagt habe, innerhalb der Staatsanwaltschaft durchaus tüchtige Männer ihres Amtes walten, die sich vielfach auch bemühen, in anerkennenswerter Unparteilichkeit ihres Amtes zu walten.

Aber wir sind trotz alledem genötigt, immer wieder einzelne Missstände hervorzuheben und darzulegen, dass alles in allem unsere heutige Justiz den Anforderungen der Gerechtigkeit und der Zeit einfach nicht genügen kann, aus Gründen, die ganz und gar außerhalb des guten Willens der einzelnen Richter liegen.

Ich möchte mich zunächst kurz mit der Kriminalpolizei beschäftigen, die ja insoweit auch dem Justizministerium untersteht, und dabei einige Dinge erwähnen, die außerhalb des Gebietes der politischen Justiz liegen.

Meine Herren, es ist wiederholt in der letzten Zeit in Erscheinung getreten, dass gewisse Kriminalbeamte das Bestreben haben, Prozesse zu Sensationsprozessen zu gestalten; es ist das besonders interessant angesichts der vielfachen Vorwürfe, dass die Verteidigung Sensationsprozesse zu provozieren suche.

Wir können auf Grund unserer Erfahrungen feststellen, dass es in Berlin gewisse Kriminalkommissare gibt, die sich die größte Mühe geben, an und für sich geringfügige Dinge, die viel leichter und rascher einzeln abgeurteilt werden könnten, zu großen Massenprozessen zusammenzuziehen, um auf diese Weise, möchte ich sagen, das Auge der Öffentlichkeit und ihrer Vorgesetzten auf ihre Tätigkeit zu lenken. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Wir können feststellen, dass sich sogar dann und wann Richter gegen diese Art des Verfahrens ausgesprochen haben.

Dieses Verfahren hat einmal einen sehr großen Nachteil für die Justiz selbst und sodann auch für die Angeklagten. Die Richter werden dadurch veranlasst, mit einem viel größeren Apparat Dinge, die oftmals sonst als gewöhnliche Bagatellen erledigt werden könnten, breit auszuarbeiten. Die Angeklagten haben den großen Nachteil, dass sie in längerer Untersuchungshaft sitzen, und dann weiter den, dass sie auch in der Verhandlung selbst ungünstiger wegkommen, weil naturgemäß in einem Prozess, in dem ein großer Apparat in Szene gesetzt wird, sofort alles viel ernster erscheint und damit das normalerweise zugrunde gelegte Strafmaß ein viel höheres sein wird als bei kleineren Prozessen.

Meine Herren, ich kann nicht näher auf Einzelfälle eingehen. Es handelte sich in letzter Zeit speziell um Diebstahls- und Hehlereiprozesse, die in dieser Weise von gewissen Berliner Kriminalkommissaren zu Sensationsprozessen aufgebauscht wurden. Es wäre sehr empfehlenswert, wenn der Herr Justizminister sich einmal bei den Untersuchungsrichtern darüber erkundigte, ob sie nicht vielfach darüber zu klagen haben, dass sie durch die Verbindung von verschiedenen Anklagen genötigt werden, Angeklagte oftmals länger in Untersuchungshaft zu halten, die viel rascher abgeurteilt werden könnten. Hier könnte die Staatsanwaltschaft bei gutem Willen entscheidend eingreifen.

Etwas Weiteres! Es ist gerade jüngst in einem Prozesse, den ich vertrat, wie auch in anderen mir bekannten Prozessen eine Praxis der Kriminalpolizei in Erscheinung getreten, die scharfe Brandmarkung verdient und gegen die auch der Herr Justizminister sich wenden sollte. Wiederholt bereits haben wir erfahren müssen – und das haben auch die Kriminalbeamten in den Verhandlungen zugegeben –, dass sie bei der Vernehmung der Angeklagten folgendermaßen verfahren sind. Sie vernehmen die Angeklagten unter Umständen stundenlang und stundenlang, bis sie ermüdet, bis sie hungrig geworden sind. Dann werden denjenigen, die nunmehr dem Kriminalkommissar zusagen, dass sie jetzt die „Wahrheit" sagen würden, Zigarren, Zigaretten, Bier, Essen usw. gegeben. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, das ist keine Phantasie, sondern das, was ich eben sage, beruht auf einer eidlichen Bekundung des Kriminalkommissars Hoppe in einem Prozess, den ich erst vor wenigen Wochen geführt habe. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Nun gehen diese Beamten, wie wir immer wieder hören können, davon aus, dass nur dasjenige zu protokollieren ist, was ihnen richtig erscheint, und wenn ihnen etwas nicht als wahr erscheint, dann protokollieren sie es gar nicht, und sie fordern von dem betreffenden Verhafteten, dass er die Wahrheit sagt, das heißt das, was die betreffenden Kommissare für wahr halten. Die „Wahrheit" ist das Bekenntnis der Schuld, und wenn der Betreffende sich nicht schuldig bekennt, dann lässt man ihn unter Umständen trotz seiner Ermüdung und trotz seines Hungers weiter vernehmen, und es wird weiter auf ihm herum gearbeitet Sobald er aber die „Wahrheit" sagt, bekommt er Bier, Zigarren und dergleichen Dinge, beileibe nicht in der Absicht – das ist ja selbstverständlich –, aus dem Betreffenden ein unrichtiges Geständnis herauszuholen. Darüber ist kein Zweifel, dass die Kriminalbeamten solche Verbrechen nicht beabsichtigen, sondern dass alles das nur geschieht, um die „Wahrheit" herauszufinden.

Das bedenkliche daran ist nur das, dass die Wahrheit, die den Kriminalbeamten zu seiner großen Freundlichkeit und zu dem Traktieren dieser Gefangenen veranlasst, diejenige Wahrheit ist, die der Kriminalbeamte für die Wahrheit hält, und dass durch dieses Vorgehen eine Pression auf die Angeklagten ausgeübt wird, so dass höchst suspekte Aussagen und Protokolle zustande kommen.

Ich meine, das Justizministerium müsste auf die Kriminalpolizei dahin einwirken, dass dergleichen Dinge grundsätzlich unterbleiben; man gibt ja doch nicht einmal den Untersuchungsgefangenen Bier und Tabak zum Genuss in ihre Zellen. Hier darf der Inkulpat sogar in Gegenwart des vernehmenden Kriminalbeamten seine Zigarre rauchen und sein Bier trinken! Und die Kosten dafür hat zumeist nicht etwa der Verhaftete zu tragen, sondern die bestreitet der Kriminalbeamte aus seinem persönlichen Dispositionsfonds, der ihm vom Polizeipräsidium zur Verfügung gestellt ist. Es ist, glaube ich, nicht ungerechtfertigt, wenn ich die dringende Bitte ausspreche, dass, damit solche Vorkommnisse künftig vermieden werden, von der Justizverwaltung energisch eingegriffen werde, die ja hierfür zuständig ist; denn die Kriminalpolizei untersteht ja insoweit der Justizverwaltung.

Meine Herren, weiterhin ist leider zu rügen, dass in unserer Justiz gar vielfach die Psychiatrie missachtet wird. Man muss leider gar häufig die Erfahrung machen, dass die Richter sich einfach über die Gutachten der Psychiater hinwegsetzen. Das ist den Richtern dadurch ermöglicht, dass die Fiktion besteht, dass der Gutachter nur ein Gehilfe des Richters sei, so dass der Richter jederzeit sagen kann: Ich verstehe aber doch noch mehr als der Sachverständige.

Dieser Wahn sollte den Richtern genommen werden; die Fiktion sollte ausgerottet werden, dass der Sachverständige ein bloßer Gehilfe des Richters sei, den der Richter ad libitum beiseite schieben könnte. Der Richter darf sich nicht in der Einbildung wiegen, ein Allerweltswisser zu sein; er muss sich den Gutachten der Sachverständigen möglichst anschließen, mit dem Vorbehalt natürlich, dass er jederzeit anderweite Gutachten einziehen kann, soweit es ihm möglich ist.

Ich habe bereits wiederholt die Erfahrung machen müssen, dass mir ein Richter gesagt hat: Ja, wissen Sie, alle Sachverständigen haben ja gar keinen Wert, wir lehnen sie ab, oder wir vernehmen sie, wenn wir nicht anders können, gehen aber einfach über ihre Gutachten hinweg. Das können die Gerichte tun, denn das Reichsgericht hat wiederholt entschieden, dass darauf eine Revision nicht gegründet werden kann, da eine Beschränkung der Verteidigung nicht vorliegt. Das ist die Konsequenz dieses meiner Ansicht nach durchaus ungerechtfertigten Standpunkts des Reichsgerichts über die Stellung der Sachverständigen; aber ich meine doch, man sollte an die Richter die Mahnung richten, sie sollten nicht von dem Wahn beseelt sein, dass sie alles so sehr gut verstehen, sondern dass sie sich vor allem in psychiatrischen Dingen mehr an die Gutachten der Sachverständigen halten.

Meine Herren, dann zum Kapitel der Jugendgerichte. Im vorigen Sommer hat in Paris der Erste Internationale Kongress für Jugendgerichte in den Räumen des Musée sociale stattgefunden. Auf diesem Kongress war auch Deutschland vertreten. Während aber andere Länder offiziell vertreten waren, war Deutschland, soweit ich sehen kann, nicht offiziell vertreten. Ich weiß das nicht genau und würde mich sehr freuen, wenn der Herr Justizminister uns sagen könnte, dass Herr Amtsgerichtsrat Köhne, der tatsächlich in Paris war, als Vertreter des preußischen Justizministeriums dort gewesen ist; solange ich das nicht weiß, möchte ich es zunächst einmal bezweifeln.

Auf diesem Kongress hat nun Deutschland eine angeblich ausgezeichnete Rolle gespielt; es ist viel Rühmens gemacht worden über die Tüchtigkeit und die Leistungen der deutschen Jugendgerichte. Wir wollen uns doch aber zunächst kein X für ein U vormachen lassen. Wir haben ja gar keine Jugendgerichte in Deutschland; es ist eine Einbildung, dass wir Jugendgerichte haben. Wir haben bei uns nur auf Grund einer Verwaltungsverfügung des Justizministeriums einen geringfügigen Ansatz, mit Hilfe bürokratischer Maßregeln wenigstens den Anfang dessen zu erzielen, was in anderen Ländern gesetzlich festgelegt ist, nämlich den Anfang zu einer besonderen Jugendgerichtsbarkeit. Aber unsere Jugendgerichte sind ganz gewöhnliche Amts- und Schöffengerichte, und es ist in keiner Beziehung bisher irgendeine Maßnahme gesetzgeberischer Art ergriffen worden, die diese Jugendgerichte anders ausgestaltet, als die normalen Amts- und Schöffengerichte gestaltet sind. Es ist ein bürokratisch verkrüppelter Versuch, Jugendgerichte einzuführen.

Nun könnte man immerhin sagen, es ist möglich, dass auch auf diesem Wege etwas Verständiges erreicht wird; aber so gerne ich anerkenne, dass in sehr vieler Beziehung dieser Ansatz zu einer besonderen Jugendgerichtsbarkeit segensreich wirkt, so möchte ich doch noch meine lebhaften Bedenken dagegen geltend machen, dass man hier alles mit Weihrauch umgibt und nun jede Kritik bereits als deplatziert und böswillig bezeichnen möchte. Es ist ja bei diesen Jugendgerichten alles in die Hände des Schöffenrichters gelegt, und ob da nun gerade ein richtig qualifizierter Schöffenrichter die Leitung in der Jugendgerichtsverhandlung hat, wird man oft sehr bezweifeln dürfen.

Ich habe Jugendgerichtsverhandlungen beigewohnt, bei denen mir die Haare zu Berge gestiegen sind, wo der Schöffenrichter den jugendlichen Angeklagten angefahren hat: Sie sind ja ein Gewohnheitssäufer; Sie sind ja heute wieder besoffen; Sie haben ihren ganzen Verstand bereits versoffen; Sie werden in ein paar Jahren gänzlich ruiniert sein, und wenn Sie die Sache noch einmal machen, enden Sie noch im Zuchthause, und dergleichen Dinge. Ein offenbar ganz unqualifizierter Richter. Gut gemeint mag es der Herr ja haben; er mag sich gedacht haben: Jetzt musst du den jungen Burschen vornehmen und ihm recht gründlich die Leviten lesen, damit er sich bessert. Aber man muss da wirklich Leute mit einigen pädagogischen Fähigkeiten zu Jugendrichtern ernennen; das ist doch das Allerwichtigste. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Dazu fehlt uns vielfach das Personal; es gibt bei uns einige ganz ausgezeichnete Jugendrichter; aber wie das draußen in der Provinz aussieht, dahinter möchte ich doch erst einmal ein großes Fragezeichen machen.

Es ist unter diesen Umständen vorläufig noch ein sehr bedenklicher Gedanke, die Öffentlichkeit aus der Jugendgerichtsverhandlung ausschließen zu wollen. Ich habe noch nicht das Zutrauen dazu, dass das erforderliche Personal dazu da ist, das mit dem nötigen Takt in pädagogischer Weise seines Amtes waltet. Solange wir in dieser Beziehung keine sicheren Garantien haben, muss die Garantie der Öffentlichkeit der Verhandlung bestehen, damit wir eine Kontrolle über die Art der Ausübung der Jugendgerichtsbarkeit haben, so gern wir zugeben wollen, dass an und für sich die Ausschließung der Öffentlichkeit bei Jugendlichen einen gewissen, sehr vernünftigen Hintergedanken hat. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Damit im Zusammenhang steht, dass leider die Jugendfürsorge vorläufig noch in den Händen privater Organisationen liegt, das heißt diejenige Jugendfürsorge, die sich unmittelbar in Verbindung setzt mit den Jugendgerichten. Es ist bedauerlich, dass die Stadtverwaltungen und auch die Staatsverwaltung noch nicht in dieser Richtung energische Schritte unternommen haben: es wäre empfehlenswert, wenn hier der öffentlichen Kontrolle unterliegende Organisationen diese wichtige Aufgabe, die unmittelbar mit der Jugendgerichtsbarkeit zusammenhängt, in die Hände nehmen würden.

Eine andere Frage: Die bedingte Begnadigung! Die bedingte Begnadigung ist ähnlich wie die sogenannte Jugendgerichtsbarkeit bei uns nur ein bedauerlicher, verkrüppelter, bürokratischer Notbehelf für eine an und für sich durchaus wichtige Einrichtung. Warum sind wir in Deutschland und in Preußen speziell, das hierfür ja den Ton angibt, noch nicht so weit, dass wir eine bedingte Verurteilung haben, dass wir eine bedingte Aussetzung der Anklage haben. Denn wir wissen ja: Das älteste System, das in die Richtung geht, das bereits vor fast 30 Jahren im Staate Massachusetts eingeführt wurde, ist die bedingte Aussetzung der Anklage, das Probationssystem; sicherlich das vernünftigste System von allen.

Es kann nicht verkannt werden, dass die Tatsache der Hauptverhandlung allein, die Tatsache der Verurteilung bereits so schwere Schädigungen im Gefolge haben kann und hat, besonders bei Jugendlichen, dass sie vernünftigerweise unterbleiben sollte, wenn der Fall irgendwie dazu angetan ist. Aber leider ist unsere Gesetzgebung noch nicht einmal dahin gekommen, die bedingte Verurteilung zu gestatten. Dass wir nur die bedingte Begnadigung haben, ist kennzeichnend für die preußische Schwerfälligkeit in der Gesetzgebung, wenn es sich um neue Anregungen handelt.

Aber es ist doch von Interesse zu sehen, wie die bedingte Begnadigung in Preußen ausgeübt ist. Es ist sehr erfreulich, dass die Anwendungsfälle sich von 1907 bis 1909 von 11.985 auf 16.051 gesteigert haben, ein Beweis dafür, dass die Justizverwaltung erfreulicherweise in zunehmendem Maße von diesem Hilfsmittel Gebrauch gemacht hat. Erfreulich ist, dass in demselben Zeitraum die Zahl der bedingt begnadigten Verurteilten unter 18 Jahren von über 9000 auf über 11.000 gestiegen ist und dass sie auch bei denen über 18 Jahren von 2862 auf 4932 gewachsen ist. Besonders die letztere Zahl ist sehr erfreulich und beweist, dass das ursprünglich in den Vordergrund gestellte Prinzip, dass möglichst nur Jugendliche dieser Vergünstigung teilhaftig werden sollen, in immer stärkerem Maße verlassen wird. Ich kann nur den lebhaften Wunsch aussprechen, dass die Justizverwaltung in dieser Richtung weiter fortschreiten möge und sich möglichst nicht nach dem Alter richten soll, sondern jeden Fall nach seiner besonderen Art betrachten soll Dass das Alter dabei mit zu berücksichtigen ist, ist selbstverständlich. Man soll aber keine Schranke setzen, sondern jeden Fall der individuellen Beurteilung überlassen.

Etwas weniger erfreulich ist an der Handhabung der bedingten Begnadigung die Tatsache, dass bei den Strafen über sechs Monate seit 1908 die Zahl der Anwendungsfälle zurückgegangen ist, während im Übrigen eine außerordentliche Steigerung der Anwendung stattgefunden hat; es ist ein Rückgang von 124 auf 113 eingetreten. Ich weiß ja, dass der Gedanke vielfach betont worden ist, man solle die Strafaussetzung möglichst nur bei geringen Strafen vornehmen; aber ich möchte dringend darum bitten, auch in dieser Beziehung zu individualisieren und nicht zu schematisieren. Wenn die Justizverwaltung im Jahre 1908 sicherlich auf Grund verständiger und sorgfältiger Prüfung, die nicht leichtfertig zugunsten der bedingten Begnadigung gewesen sein wird – auf 124 Fälle gekommen ist und wenn dann die Anwendungsfälle auf 113 sinken, dann beweist das, dass – wahrscheinlich auf Grund von Anweisungen der Zentralbehörde – rigoroser vorgegangen ist, als es an und für sich selbst der Tendenz der Richter beziehungsweise der Staatsanwälte, die jeweilig darüber zu befinden haben, entsprechen würde. Hier sollte man sich nach meiner Ansicht auf den Standpunkt stellen, dass nur der individuelle Charakter des einzelnen Falles betrachtet werden muss. Natürlich wird dabei auch die größere Höhe der Strafe ein Moment bilden können, das die bedingte Strafaussetzung weniger angezeigt erscheinen lässt. Das ist aber wiederum so selbstverständlich, dass man in dieser Beziehung keine besondere Anweisung erlassen, sondern das der verständigen Beurteilung überlassen sollte. Wir hoffen aber in allererster Linie, dass die Justizverwaltung ihren Einfluss bei der Reichsregierung dahin ausüben wird, dass an Stelle jener Verordnungen über die bedingte Begnadigung alsbald ein Reichsgesetz tritt, in dem die bedingte Aussetzung der Anklage für zulässig erklärt wird.

Meine Herren, nun komme ich zur Strafvollstreckung. Ich bin leider nicht in der Lage, in dieser Beziehung unserer Justizverwaltung besondere Elogen zu spenden. Zunächst muss ich es lebhaft beklagen, dass uns immer wieder und wieder Klagen zu Ohren kommen, nach denen unsere politischen Redakteure besonders in den Justizgefängnissen, aber auch in den Gefängnissen des Ministeriums des Innern in einer recht unzweckmäßigen Weise behandelt werden, wonach sie insbesondere der Selbstbeschäftigung und der Selbstbeköstigung vielfach nicht teilhaftig werden. Hier sollte doch Abhilfe geschaffen werden. Ich möchte auf diese Fälle hier nicht näher eingehen, weil ich beim Etat des Ministeriums des Innern Veranlassung haben werde, mich mit dem speziellen Fall meines Freundes Mehlich, der dorthin gehört, zu beschäftigen.

Es hat gestern der Herr Abgeordnete Boehmer geglaubt, der Justizverwaltung ein Lob aussprechen zu dürfen, weil die Gefängnisse der Justizverwaltung eine viel schärfere Zucht ausübten als die Gefängnisse des Ministeriums des Innern, und er ist sogar so weit gegangen zu behaupten, dass die Angeklagten sich vielfach mehr nach dem Zuchthaus als nach dem Gefängnis sehnten und dass die Gerichte vielfach zum Zweck der Strafverschärfung auf Gefängnis anstatt auf Zuchthaus erkennen.

Wenn das wahr wäre, dann würde der Herr Abgeordnete Boehmer damit unserer Justizverwaltung nicht ein Lob, sondern nach meiner Ansicht einen schweren Tadel aussprechen. Und in der Tat ist es in vieler Beziehung richtig, dass in den Gefängnissen unserer Justizverwaltung derjenige soziale Geist noch nicht Einzug gehalten hat, der in der Verwaltung der Gefängnisse des Ministeriums des Innern in weiterem Umfang Einzug gehalten hat.

Meine Herren, ich will nicht auf Einzelheiten eingehen, ich will nur auf etwas hinweisen, was in der letzten Zeit in der Presse viel erörtert worden ist, auf die sogenannte Freiluftanstalt in Heia. Sie gehört ja zum Ministerium des Innern; ich erwähne sie hier nur, um sie unserer Justizverwaltung als ein Vorbild vorzuhalten und um Auskunft zu bitten, warum unsere Justizverwaltung nicht ähnliche Reformversuche auf dem Gebiete der Strafvollstreckung unternimmt. Wenn dort, und zwar wohl aus besonderer Initiative des Geheimrats Krohne, Zuchthäusler, schwer bestrafte Menschen, in verhältnismäßiger Freiheit, mit Arbeit im Freien, unter menschlichen Bedingungen, wenn auch unter Bedingungen, die ihnen den Ernst ihrer Lage immerhin klar genug vor Augen führen, beschäftigt werden, dann ist das doch ein Mittel, sie nicht nur gesundheitlich, sondern auch moralisch und geistig zu kräftigen, sie zu resozialisieren, also das Ziel zu erreichen, das das alleroberste und heiligste Ziel unserer ganzen Strafvollstreckung sein sollte. Wenn die Justizverwaltung diese Reformbestrebungen unterstützen würde, dann würde sie sicherlich in weitem Umfange die Zustimmung aller einsichtigen Kriminalpolitiker finden, und ich möchte sogar annehmen, dass ihr auch in diesem Hause schwerlich ein Vorwurf von den großen Parteien gemacht werden würde, wenn auch allerdings die gestrigen Auslassungen des Herrn Abgeordneten Boehmer das Schlimmste befürchten lassen.

Meine Herren, es ist sehr kennzeichnend, dass Herr Geheimrat Krohne in der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung erklärt hat, wenn man wirklich eine humane, verständige und zweckmäßige Strafvollstreckung durchführen wolle, dann werde sich schwerlich eine Regierung oder ein Landtag bereit finden, die erforderlichen Mittel zu bewilligen.

Wir sehen also, wie die Frage einer verständigen, einer humanen und zweckmäßigen Strafvollstreckung schließlich eine finanzielle Frage und davon abhängig ist, welche Bereitwilligkeit zu diesen finanziellen Leistungen von den Regierungen und den Landtagen gezeigt wird.

Wir hätten alle Veranlassung, auch aus diesem Hause heraus der Königlichen Staatsregierung zu erklären, dass wir bereit sind, alle Mittel, mögen sie auch noch so beträchtlich sein, zu bewilligen, die zur Durchführung dieser humanen und pädagogischen Ziele der Strafvollstreckung erforderlich sind. Ich hoffe, dass auch von anderen Parteien dieses Hauses entsprechende Erklärungen abgegeben werden, damit die Königliche Staatsregierung nicht der Ansicht bleibt, dass nur das Häuflein von sechs Sozialdemokraten bereit sei, alle Aufwendungen hierfür zu bewilligen. Wenn dann die Staatsregierung erfahren haben wird, welches die Stimmung in diesem Hause ist, dann wird sie sicherlich nicht zögern, energisch vorzugehen und zu der Anforderung der Mittel schreiten.

Ich komme jetzt noch zu ein paar Dingen, die ich als das Noblesse oblige unserer Strafjustiz bezeichnen möchte, nämlich einmal zu der Frage der Entschädigung der unschuldig Verurteilten und der unschuldig mit Untersuchungshaft Belegten.

Wir müssen ja an und für sich beklagen, dass unsere Gesetze in dieser Beziehung widerspruchsvoll, ich möchte fast sagen, juristisch unnatürlich sind, denn sie fordern für die Gewährung der Entschädigung, dass „die Unschuld nachgewiesen" sei. Meine Herren, nun gibt unser Strafprozess nach seinem ganzen System und seinen Grundgedanken die Möglichkeit überhaupt nicht, die Unschuld eines Angeklagten nachzuweisen, und jeder Richter, der in der Verhandlung über die Unschuld eines Angeklagten spezielle Erhebungen veranstalten würde, würde pflichtwidrig handeln – er muss sich damit begnügen, sein Urteil zu sprechen, wenn die Verhandlung so weit gediehen ist, dass er erkannt hat, der Angeklagte werde nicht überführt werden können.

Nachdem aber das Gesetz einmal offenbar aus rein fiskalischen Erwägungen und auch aus einer gewissen inneren Kleinlichkeit, die unsere ganze Kriminalpolitik durchsetzt, zu einer solchen Formulierung gelangt ist, sollte mindestens in der Handhabung dieser Bestimmungen etwas weitherziger verfahren werden. Wir müssen immer und immer wieder erleben, dass die Richter, vom Fiskalismus gepeinigt, allzu engherzig diesen Aufforderungen gegenüber sind. Es wäre wirklich empfehlenswert, wenn in irgendeiner Weise in offizieller Form – natürlich darf die Unabhängigkeit der Richter hierbei in keiner Weise berührt werden – von der Staatsbehörde zum Ausdruck gebracht würde, dass sie den dringenden Wunsch hat, dass nicht irgendwelche fiskalischen Rücksichten bei diesen Entscheidungen in Betracht gezogen werden, sondern ausschließlich der Gesichtspunkt einer restitutio in integrum für den unglücklich verhaftet Gewesenen. Aber wir sehen denselben fiskalischen Gesichtspunkt bei anderen Entscheidungen der Gerichte, zum Beispiel über die Übernahme der Kosten der Verteidigung auf die Staatskasse, immer und immer wieder hervortreten. Es wäre an und für sich eine Forderung der Gerechtigkeit, dass bei Freisprechung des Angeklagten die notwendigen Kosten der Verteidigung stets auf die Staatskasse übernommen werden. Warum soll es im Strafprozess anders als im Zivilprozess sein, wo der unterliegende Teil die Kosten zu tragen hat. Wenn das nicht so geordnet ist, so um deswillen, weil der Fiskus geschont werden soll, während das Gegenteil an und für sich der Fall sein sollte: Der Fiskus sollte opulenter sein, als von dem Privatmann gefordert wird. Wenn die Gesetzgebungsgewalt verlangt, dass jeder Privatmann, falls unterliegend, die Kosten erstattet, so sollte diese Verpflichtung auch für den Fiskus anerkannt werden. Aber wenn es nach dem Gesetz wenigstens möglich ist, dass durch Richterspruch auch die Kosten der Verteidigung der Staatskasse auferlegt werden, was für arme Angeklagte oft eine ungeheuer wichtige Sache ist, dann versagen die Richter zumeist, indem sie erklären, dass der Fall zu einfach gelegen habe, oder aber, dass aus irgendwelchen anderen Gründen eine Verteidigung nicht notwendig gewesen sei.

Ja, meine Herren, das ist ein ganz bürokratischer Standpunkt, ein weltfremder Standpunkt möchte ich einmal sagen. Denn die Sache liegt doch so: Der Angeklagte, der zumeist doch nicht rechtskundig ist, bekommt eine Anklage, die von einer rechtskundigen Behörde mit ihrer ganzen Autorität getragen wird; das Gericht eröffnet das Hauptverfahren, und er ist gezwungen, auf die Anklagebank zu kommen. Wie kann denn der Angeklagte dann annehmen, dass die Sache zu seinen Gunsten so einfach liege, dass er seinerseits die Hilfe eines Rechtsverständigen nicht in Anspruch zu nehmen nötig habe? („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Wenn dann hinterher die Richter in der erkennenden Instanz zur Auffassung kommen, der Fall hat einfach gelegen, dann kann man doch vom Angeklagten nicht verlangen, dass er schon im Voraus wissen musste, wie die Richter künftig denken werden. Das ist also ein außerordentlich bedauerlicher Standpunkt, der leider wesentlich von fiskalischen Gesichtspunkten eingegeben ist.

Ich möchte gern wissen, ob nicht von Seiten der Justizverwaltung oder der Oberrechnungskammer den Richtern in irgendeiner Weise zu verstehen gegeben worden ist, dass man wünscht, dass dieser Posten möglichst gering bleibe, dass in möglichst geringem Umfange von der Befugnis Gebrauch gemacht werde, die Kosten der Verteidigung und die sonstigen notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse aufzuerlegen.

Meine Herren, sehr wesentlich ist auch die Regelung unseres Vormundschaftswesens. Hier haben sich recht bedauerliche Missstände herausgestellt. Sie entsinnen sich wohl der vielfachen Veröffentlichungen, die insbesondere von der Schwester Arendt ausgegangen sind, der früheren Polizeiassistentin in Stuttgart1, und anderer Veröffentlichungen, die im Zusammenhang damit gestanden haben.

Meine Herren, der General- und Berufsvormundschaft und – am dringlichsten – dem Pflegeelternwesen muss eine höhere Aufmerksamkeit zugewandt werden. Unser Vormundschaftswesen bedarf meiner Ansicht nach vor allem in der Richtung schleunigst einer Ausgestaltung, dass bessere Garantien geschaffen werden, dass vor allem die unglücklichen Waisen und die unehelichen Kinder nicht der entsetzlichsten Ausbeutung preisgegeben werden, der Ausbeutung auch zu unsittlichen Zwecken, und dass dem Engelmacherwesen ein Ende gemacht werde. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, die Veröffentlichungen der Schwester Arendt fordern in dieser Beziehung allerdings einmal die lebhafte Aufmerksamkeit der Gemeindeverwaltungen heraus; aber auch die Justizverwaltung sollte nicht achtlos an diesen Dingen vorübergehen.

Ich möchte darauf hinweisen, dass leider unsere Vormundschaftsgerichte sich vielfach gegenüber den Bedenken, die in dieser Richtung erhoben wurden, sehr ablehnend verhalten haben. Ich habe persönlich eine sehr bedauerliche Auseinandersetzung mit einem Berliner Vormundschaftsrichter gehabt, und zwar nur um deswillen, weil ich mir erlaubt hatte, mich auf Anregung der Schwester Arendt zu dem Herrn zu begeben und ihn – selbstverständlich durchaus im öffentlichen Interesse und gänzlich ohne irgendein persönliches Interesse zur Sache – darauf aufmerksam zu machen, dass ein Kind bei seinen Pflegeeltern gefährdet ist; und obwohl ich noch zudem die Vollmacht der unehelichen Mutter dieses Kindes hatte, lehnte dieser Herr es recht heftig ab, auf meine Vorstellungen einzugehen, offenbar weil er davon ausging, dass solche – speziell auf Anregung der Schwester Arendt – inoffiziell zugetragenen Materialien nicht die Berücksichtigung verdienten.

Es sollte dafür gesorgt werden, dass die Vormundschaftsrichter alle bürokratischen Gesichtspunkte verlassen und allein davon ausgehen, ob irgendein ihnen geliefertes Material einen sachlichen Wert für sie hat. Jedenfalls sollte es unter allen Umständen vermieden werden, dass bei derartigen vormundschaftlichen Dingen, wo es sich um das Wohl und Wehe eines unglücklichen unehelichen Kindes handelt, der Vormundschaftsrichter sich ablehnend und unfreundlich verhält, wenn aus öffentlichem Interesse heraus Vorstellungen gemacht werden.

Der Herr ging so weit, gewissermaßen zu unterstellen, dass ich nur um deswillen bei ihm vorstellig geworden sei, um mir Material zu verschaffen zu einer Verteidigung der Schwester Arendt in irgendeinem Beleidigungsprozess, der angeblich gegen sie erhoben sei, während erstens ein solcher Beleidigungsprozess bis heute noch nicht angestrengt ist, und andererseits ich selbstverständlich absolut nur im Interesse der Sache selbst bei dem Herrn vorstellig geworden war.

Meine Herren, eine andere Angelegenheit, die im vorigen Herbst vielfach Aufregung verursacht hat, ist die Frage, inwieweit sich Missstände in der Rechtsanwaltschaft herausgestellt haben. Es hat speziell der Metternich-Prozess Anlass zu derartigen Erörterungen in der Öffentlichkeit gegeben.

Meine Herren, ich glaube, dass dieser Metternich-Prozess, wenn er auch recht unerfreuliche Erscheinungen gezeitigt hat, doch durchaus nicht dazu angetan ist, um daraus gegen die Anwaltschaft Vorwürfe herzuleiten. Es ist bereits mit Recht hervorgehoben worden, dass das Hineinsteigen in die Intimitäten der Zeugen in jenem Prozess keineswegs nur von der Verteidigung ausgeübt worden ist, sondern auch von der Staatsanwaltschaft, und man darf hier das Kind mit dem Bade nicht ausschütten. Es wird stets von der Lage des Einzelfalles abhängen, ob man tiefer in die Intimitäten des einzelnen Zeugen eindringen muss; denn schließlich handelt es sich im Strafprozess um den Angeklagten, und die Zeugenaussage ist das wesentliche Fundament für das Urteil des Richters, und um zu wissen, ob dieses Fundament sicher ist, muss der Richter notwendig den Zeugen genau kennen; die geringe Kenntnis aber, die ihm die Vernehmung verschafft, genügt im Allgemeinen nicht.

Wenn also ein Zeuge im Mittelpunkt einer Verhandlung steht, wenn mit seiner Aussage eine Anklage ernster Art steht und fällt, dann muss schlechterdings, wenn nicht die Strafrechtspflege und die Gerechtigkeit Schaden leiden wollen, die Möglichkeit gegeben werden, diesen Zeugen in seiner Eigenart, in seinem Wesen dem Richter zu enthüllen, damit er danach erst sein Urteil fällt; denn schließlich ist ja die Aussage des Zeugen an und für sich doch nicht das einzige, sondern es kommt darauf an, auf welcher Psychologie diese Aussage beruht, mit welcher Zuverlässigkeit sie gemacht ist, mit welcher Ehrlichkeit, mit welcher scharfen Beobachtungsgabe, von welchem klaren Erinnerungsvermögen sie getragen ist.

Meine Herren, es würde deshalb außerordentlich verfehlt sein, wenn man aus einem Prozess wie diesem irgendwelche Schlussfolgerungen gegen die Rechtsanwaltschaft ziehen wollte. Erfreulicherweise hat ja auch das Geschrei, das in dieser Beziehung eine Zeitlang die Welt aufgeregt hat, aufgehört, und wir können hoffen, dass inzwischen eine besonnene Beurteilung Platz gegriffen hat.

Meine Herren, ich komme jetzt zu einer anderen Frage von mehr zentraler Bedeutung. Ich möchte fragen: Wie verhält sich unsere Justizverwaltung im Allgemeinen in politischer Beziehung und auch sonst, kann sie als eine unparteiliche Behörde betrachtet werden? Meine Herren, wir haben ja den Vorwurf, dass unsere Justizverwaltung die Verwaltung eines Klassenstaates, und zwar speziell die Verwaltung des preußischen Klassenstaates, ist und dass sich das in ihrem ganzen Verhalten doch immer und immer wieder zeigt, wenn man ein klein wenig kratzt – diese Ansicht haben wir immer und immer wieder zum Ausdruck gebracht.

Da möchte ich nun, meine Herren, auf Folgendes aufmerksam machen. Es ist in der Budgetkommission von dem Herrn Abgeordneten Dr. Friedberg zur Sprache gebracht worden, dass Richtern, die als Reichstagskandidaten kandidierten, zum Zwecke der Wahlagitation Urlaub erteilt worden ist. Herr Abgeordneter Dr. Friedberg, der dieses befürwortete, fügte gleich hinzu, man könne annehmen, dass ein Richter, der kandidiere, zu den bürgerlichen Parteien gehöre. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Es liege also auch im Interesse der Staatsregierung, dass gerade solche Kandidaten ihre agitatorische Tätigkeit in ausgiebiger Weise entfalten können. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Wir entnehmen hieraus, dass selbst von nationalliberaler Seite ein besonderes Gewicht darauf gelegt wird, dass von der Justizverwaltung die politische Gesinnung der Richter in Rücksicht gezogen werde. Wenn Herr Dr. Friedberg nur sagt, man könne annehmen, dass ein solcher Richter zu den bürgerlichen Parteien gehöre, ja, meine Herren, das heißt doch nun wahrlich Verstecken spielen. Herr Dr. Friedberg hätte sich ruhig etwas derber und gerader ausdrücken können („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.); er weiß doch genau, dass ein Richter, der Sozialdemokrat ist, vielleicht noch existieren könnte; dass ein Richter, der sich aber nur im entferntesten sozialdemokratischer Gesinnung verdächtig machte, schon nicht mehr existieren kann. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Aber gar ein Richter, der als sozialdemokratischer Reichstagskandidat aufgestellt wäre, ja, meine Herren, glauben Sie, dass so etwas in Preußen vorkommen könnte? (Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.) So etwas kommt ja nicht einmal in den süddeutschen Staaten vor; das ist eine ganz und gar, wie soll ich sagen, paradoxe, ja groteske Vorstellung, dass so etwas überhaupt jemals eintreten könnte.

Der Herr Justizminister hat nun aber anerkannt, dass ein solcher Urlaub tatsächlich gewährt worden sei, der also nach der Mitteilung des Herrn Dr. Friedberg nicht gewährt wird ausschließlich um deswillen, weil der Richter ein unbedingtes Recht darauf hat, wenn er Reichstagskandidat ist, nunmehr agitatorisch tätig zu sein, sondern weil er gleichzeitig gegen die Sozialdemokratie arbeiten könne. Meine Herren, wenn der Herr Justizminister das anerkannt hat, so kann ich auch aus einigen früheren Vorgängen beweisen, dass die Justizverwaltung in der Tat hier durchaus nicht unparteilich verfährt.

Wenn die Justizverwaltung Richtern gegenüber eine Aufsichtsbefugnis hat, so hat sie auch Anwälten gegenüber eine gewisse Aufsichtsbefugnis, allerdings nur insofern, als es ihr in die Hände gegeben ist, ob sie einem Anwalt einen Generalsubstituten bestellen will. Das ist eine Angelegenheit der Justizverwaltung.

Meine Herren, nun berichte ich Ihnen folgende Fälle; zunächst den einen, der mich persönlich betrifft. Als ich in Glatz auf der Festung war und damit über anderthalb Jahre meinem Beruf, der die einzige Grundlage meiner Existenz bildet, gänzlich entzogen war, da hat es die Justizverwaltung abgelehnt, mir einen Vertreter zu bestellen. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Alle meine Vorstellungen in dieser Beziehung sind vergeblich gewesen.

Nun ist es ja allerdings richtig, dass ich – vom Standpunkt der Justizverwaltung – nicht unschuldig dazu gekommen war, in diesem Falle meinen Beruf nicht ausüben zu können. Aber ich meine, so liegt die Sache denn doch nicht! Wie wird denn mit Offizieren verfahren, wenn sie wegen Duells etwa einmal in der Festungshaft sitzen? Wird denen dann ihre Existenz von der Armeeverwaltung untergraben? Sie sitzen doch auch nicht ohne Schuld in Haft, vielleicht sogar schuldhafter, als das bei mir der Fall gewesen ist. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, die Justizverwaltung hat damit gezeigt, dass sie sich redlich Mühe gab, mir zu dem Nachteil, den die Strafverfolgung und Verurteilung an und für sich schon im Gefolge hatte, auch noch die Existenz nach Möglichkeit zu ruinieren. Nun, habeat sibi, sie möge sich dieses Vergnügen gönnen; es genügt ja, wenn es gebrandmarkt ist.

Aber ein zweiter Fall, der noch viel unmittelbarer zu dem oben erörterten passt! Mein Parteifreund, jetziger Reichstagsabgeordneter Landsberg, kandidierte bei der vorigen Reichstagswahl – ich spreche nicht von der jetzigen – und ließ sich einen Generalsubstituten bestellen. Dieser Generalsubstitut wurde ihm auch bestellt. Als die Justizverwaltung hinterher erfuhr, dass er sich den General-Substituten habe bestellen lassen, weil er selber als Kandidat bei der Wahl tätig war, da ist ihm zu erkennen gegeben, dass die Justizverwaltung es aufs lebhafteste bedauere, dass sie das nicht früher gewusst habe, sonst wäre ihm kein Generalsubstitut bestellt worden. Einem Anwalt!

Nun weiter: Als dann eine Zeit darauf mein Parteifreund Landsberg an einem Herzleiden erkrankte und nun, gestützt auf ärztliche Atteste, einen Generalsubstituten forderte, ist die Justizverwaltung in ihrer unglaublichen Kleinlichkeit so weit gegangen, ihm diesen Generalsubstituten zu versagen, so dass er seiner Krankheit nicht die wünschenswerte Fürsorge angedeihen lassen konnte. („Hört! Hört!"bei den Sozialdemokraten.) Und wenn er dabei nicht dauernden schweren gesundheitlichen Schaden davongetragen hat, so ist die Justizverwaltung nicht daran schuld; sie hat sich redliche Mühe dazu gegeben. („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.) Es ist immerhin nützlich, solche Fälle einmal vorzubringen.

Wenn man weiter daran denkt, dass – nicht der Justizminister, aber der Minister des Innern, also auch ein Vertreter der Königlichen Staatsregierung, im Herrenhause es im vergangenen Jahre für nötig gehalten hat, die Beschwerden über eine ungenügende Justiz gegen den Terrorismus für berechtigt zu erklären und den Willen der Königlichen Staatsregierung auszusprechen, dass bei einer Revision des Strafgesetzbuches auch diese Frage besser geregelt werden solle, und zwar im Sinne eines schärferen Schutzes gegen den sogenannten Terrorismus – kurzum, wenn der Minister des Innern als Vertreter der Königlichen Staatsregierung ein Zuchthausgesetz gegen die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie als wünschenswert bezeichnet hat, dann hat er damit auch unzweifelhaft nicht verkannt, dass derartige Proklamationen von autoritativer Seite ihren Eindruck auf unsere Justiz, auf unsere Richter nicht verfehlen können. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, ich möchte sogar davon ausgehen, dass derartige öffentliche Proklamationen von den Herren Ministern dann und wann unternommen werden, um Einfluss auf die Justiz auszuüben. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, wie steht es denn nun in der Tat mit der Unabhängigkeit unserer Richter gegenüber einer solchen sicherlich politisch mindestens nicht objektiven Verwaltung? Meine Herren, das System der geheimen Personalakten besteht nach wie vor, und alle Versuche, die Königliche Staatsregierung zu einer bindenden Erklärung zu bringen, dass sie diese geheimen Personalakten oder mindestens die Geheimheit der Personalakten endgültig abschaffen solle, sind bisher gescheitert. Es ist zwar in einzelnen Fällen jetzt erklärt worden, dass man den betreffenden Gerichtsassessoren, die man künftig nicht weiter beschäftigen wolle, Mitteilung machen, ihnen auch Gelegenheit zur Äußerung geben wolle. Aber das ist ja doch nur eine Geringfügigkeit im Verhältnis zu der absoluten Notwendigkeit der Beseitigung dieser Feme, die in diesen geheimen Personalakten liegt.

Es wäre sehr erwünscht, wenn die Königliche Staatsregierung endlich einmal dem Drängen, das auch von dem Zentrum und der Fortschrittlichen Volkspartei ausgegangen ist, nachgeben und mindestens einen prinzipiellen Standpunkt in Bezug auf diese geheimen Personalakten zum Ausdruck bringen möchte. Wenn diese geheimen Personalakten bei den Beamten an und für sich etwas Gefährliches sind, so sind sie etwas doppelt Gefährliches bei den richterlichen Beamten („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten und bei der Fortschrittlichen Volkspartei.), die ja die unabhängigen Beamten sein sollen.

Wenn der Richter stets das Damoklesschwert über sich hängen sieht, wenn er keine Ahnung davon hat, was in seinen Personalakten steht, dann wird er notwendigerweise, wenn er sich sagen muss: du bist wirtschaftlich nicht genug gesichert, oder wenn sein Charakter nicht so stark ist, dass er auf nichts Rücksicht nimmt – so wird er unwillkürlich dazu gedrängt, seinem Vorgesetzten gegenüber oder dem Pseudovorgesetzten, seinem aufsichtsführenden Richter gegenüber, sich zu beugen, sich zu bücken, ad nutum zu sein in jeder Beziehung. Das ist äußerst gefährlich.

Es ist ja erfreulich – und das erkenne ich gern an –, dass unser Richterstand durch solche gefährlichen Einrichtungen nicht bereits in seiner Unabhängigkeit noch mehr gebeugt ist, als es der Fall ist. Es beweist ja die Haltung unseres Richterstandes vielfach, dass ein gewisses Interesse an der Unabhängigkeit, ein gewisser Stolz auf die sogenannte Unabhängigkeit in weitem Umfange noch besteht; aber es lässt sich ganz und gar nicht verkennen, dass das nur ein Schein von Unabhängigkeit ist und dass schon allein durch das System der geheimen Personalakten jede wirkliche Unabhängigkeit in ihrem Keime erstickt wird.

Meine Herren, abgesehen von dem Beförderungswesen, abgesehen von anderen Unarten, die die schleunigste Beseitigung verdienten, muss gerade das System der geheimen Personalakten in den Vordergrund gestellt werden.

Meine Herren, eine andere Unart will ich noch hervorheben. Sie hat bereits eine gewisse Rolle gespielt und spielt eine gewisse Rolle jetzt wieder in verschiedenen Anträgen aus diesem Hause. Herr Abgeordneter Maiß2 hat gestern seinen Schmerz lebhaft darüber zum Ausdruck gebracht, dass unsere Justizbeamten den Verwaltungsbeamten in Bezug auf Titulaturen, in Bezug auf Orden nachgestellt, dass sie ungünstiger behandelt würden.

Meine Herren, so sehr ich mich der Klage anschließe, dass die Justizverwaltung ihre eigenen Beamten nicht auf dieselbe Stufe zu heben vermocht hat wie die Verwaltungsbeamten, so sehr muss ich mich doch dagegen wenden, dass die Richter in Bezug auf Titulaturen und Orden wünschen, den Verwaltungsbeamten gleichgestellt zu werden. Gerade in der Beziehung sollte doch wahrlich der gute Gedanke befolgt werden, der von uns bereits früher zum Ausdruck gebracht worden war und der auch in einem fortschrittlichen Antrag jetzt wiederum Ausdruck gefunden hat, wie schon in der letzten Session, dass grundsätzlich Richter weder Titulaturen noch Orden bekommen sollten. Denn diese Vergünstigungen werden nur von der Verwaltung verliehen, und es lässt sich nicht vermeiden, dass gewisse Einflüsse, wenn auch durchaus wider Willen und durchaus unbewusst, ausgeübt werden einmal durch den Wunsch, mit Titeln und Orden bedacht zu werden, und dann, wenn man sie erhalten hat, sich erkenntlich und dieser Auszeichnung würdig zu erweisen.

Meine Herren, aber noch etwas anderes verdient hierbei erörtert zu werden. Wie in der Presse in der letzten Zeit mitgeteilt worden ist, und zwar aus beamteten, aus richterlichen Kreisen, besteht eine Ministerialverfügung, wonach kein Richter sich ohne Genehmigung seiner Vorgesetzten über irgendeinen Beamten beschweren darf. Meine Herren, ich weiß nicht, ob eine solche Verfügung besteht; wenn sie aber besteht, dann wäre das sozusagen ein kleines Motuproprio unserer Justizverwaltung. (Zurufe rechts und im Zentrum: „Au! Au!") Ja, meine Herren, Sie mögen dazu lachen, es ist dann nichts anderes; die Justizverwaltung hindert ihre Beamten – oder es mag auch sein, dass andere Beamte ebenfalls von einer solchen Verfügung betroffen sind –, sich Recht zu suchen gegen andere Beamte, ohne dass die vorgesetzte Instanz vorher ihre Zustimmung dazu gegeben hat.

Meine Herren, ich muss ganz offen gestehen, ich finde keinen großen Unterschied zwischen dem Motuproprio und einer derartigen Verfügung, und es mögen sich mal die Herren den Kopf zerbrechen, die mit meinen Ausführungen nicht einverstanden sind, wie sie beweisen können, dass ein wesentlicher Unterschied in dieser Beziehung besteht.

Meine Herren, Tatsache ist, dass schon bei der Vermengung der richterlichen Aufgaben, in Bezug auf die den Richtern Unabhängigkeit garantiert ist, und der bürokratischen Aufgaben, bei denen ihnen keine Unabhängigkeit garantiert ist, dass bei einer solchen Vermengung des bürokratischen Charakters des Richteramts mit dem unabhängigen Charakter eine wirkliche Unabhängigkeit ein Ding der Unmöglichkeit ist. Wer unabhängige Richter haben will, muss dafür eintreten, dass entsprechend der Forderung unseres Programms die Richter dasselbe Maß von Unabhängigkeit erhalten, das die Volksvertreter haben, indem sie aus freien Wahlen, aus dem Vertrauen des Volkes selbst hervorgehen, wie das in anderen Ländern, zum Beispiel in der Schweiz und in Amerika, der Fall ist. Nur auf diesem Wege wäre es möglich, eine wirksame Unabhängigkeit zu schaffen.

Man versucht ja, eine engere Verbindung des Richterstandes und unserer Rechtspflege überhaupt mit dem Rechtsempfinden des Volkes durch die Einfügung des Laienelements in unsere Gerichte herzustellen. Meine Herren, das sind an und für sich nur Verlegenheitsausflüchte, die in dem Augenblick gänzlich außer acht bleiben können, wo durch die Wahl der Richter bereits ein so enger Konnex hergestellt ist, dass ein Gegensatz zwischen dem Volke und seinen Richtern überhaupt nicht mehr eintreten kann.

Man wünscht, indem man das Laienelement hinzuzieht, ein Gegengewicht gegen die bürokratischen Tendenzen zu schaffen –, aber das lässt die Klassengegensätze vollkommen unberührt. Der Gegensatz zur Bürokratie besteht auch in den herrschenden Klassen, und wenn auch die Geschworenen und Schöffen zugezogen werden, so ist zwar in gewissem Sinne ein Ausgleich gegenüber der Bürokratie geschaffen, allerdings ein Verlegenheits-, ein Notausgleich; aber der Klassencharakter unserer Justiz wird dadurch nicht im geringsten berührt, insbesondere dann nicht, wenn Schöffen und Geschworene weit überwiegend aus den „besseren Ständen" entnommen werden, wenn die Arbeiterschaft nur in so geringem Umfange zugezogen wird, wie das tatsächlich bei uns der Fall ist.

Meine Herren, wenn man die Forderung aufstellen wollte, dass die Richter aus allen Schichten entnommen würden, so würde man auch mit dieser Forderung in der heutigen Gesellschaft nicht weit kommen. Es ist zwar als eine liberale Forderung bezeichnet worden, dass man gerade deshalb, um einen unabhängigen Richterstand zu schaffen, allen Befähigten den Aufstieg zum Richterstand ermöglichen müsse. Ja, meine Herren, dann müsste zunächst eine vollkommene Unentgeltlichkeit der Ausbildung gewährleistet werden, so dass jeder Einzelne rein nach seinen Fähigkeiten aufsteigen könnte. Dann müsste aber auch abgesehen davon der betreffende Schüler auf öffentliche Kosten unterhalten werden, bis er soweit ist, Geld zu verdienen. Dann müsste außerdem den Eltern derjenige Betrag ersetzt werden, den sie dadurch verlieren, dass ihnen der Verdienst des Kindes entzogen wird. Kurzum, es müsste in einer Weise von Staats wegen in unser ganzes Erziehungswesen eingegriffen werden, wie das selbstverständlich von Ihrer Seite, von unserer heutigen Unterrichtsverwaltung nicht zu erwarten ist. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Wir sehen also, meine Herren, wenn man den Gedanken, wirklich nur die Befähigtesten aus allen Klassen zum Richterstande aufsteigen zu lassen – damit unser Einwand, dass die Richter nur den besitzenden Klassen entnommen werden, hinfällig wird – in allen seinen Konsequenzen durchdenkt, dann erscheint er, gemessen an den Zuständen unseres heutigen kapitalistischen Klassenstaates, geradezu phantastisch („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.), und man sieht, dass dieses Ideal des Liberalismus nur durchgeführt werden kann in Verfolgung der sozialistischen Tendenzen, die wir uns auf die Fahne geschrieben haben.

Um auf die Frage der Unabhängigkeit unserer Justizverwaltung noch einmal zurückzukommen, möchte ich dem Herrn Justizminister speziell noch einen besonders schweren Vorwurf machen aus der Haltung der Justizverwaltung gegenüber den Unterbeamten und ihren Bestrebungen auf Verbesserung ihrer Lage.

Im vergangenen Herbst haben die Unterbeamten, auch die an den Gerichten beschäftigten, in Berlin eine große Versammlung abgehalten, in der sie ihre Not über die Teuerung und ihre Lage im Allgemeinen beklagten. Die Beamten haben damit nur von dem ihnen gesetzlich gewährleisteten Versammlungsrecht Gebrauch gemacht. Aber wie diesen Beamten von der Justizverwaltung bereits ihr Petitionsrecht beschränkt worden ist, indem ihnen Massenpetitionen verboten wurden, so ist in diesem Falle, nachdem der Justizverwaltung zur Kenntnis gekommen war, dass die Versammlungen abgehalten werden sollten, den Beamten ganz offiziell mitgeteilt worden, dass die vorgesetzten Instanzen die Teilnahme der Beamten an diesen Versammlungen nicht wünschten.

Meine Herren, das ist in der Tat ein Skandal. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Die Justizverwaltung sollte ihren Beamten doch wenigstens so viel Freiheit gönnen, dass sie, wenn sie einmal ihre Notlage klagen wollen, das auch in derartigen Versammlungen tun dürfen. (Glocke des Präsidenten.)

Präsident Dr. Freiherr von Erffa: Herr Abgeordneter Liebknecht, ich bitte Sie, in Ihrer Kritik nicht zu maßlos zu werden.

Liebknecht: Meine Herren, die Justizverwaltung hat damit meiner Ansicht nach auch ungesetzlich gehandelt; sie hat kein Recht dazu, ihren Beamten derartige Anweisungen zu geben. Das wird hoffentlich künftig vermieden werden.

Aber natürlich erklärt sich dieses Einschreiten der Justizverwaltung wie aller übrigen Staatsverwaltungen daraus, dass man Angst davor hat, dass die Staatsbeamten durch die Not der Zeit allzu sehr in das oppositionelle Lager gedrängt werden. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, dass wir angesichts solcher Zustände in unserer Justizverwaltung, angesichts der von mir gekennzeichneten Art unserer Gerichte, der Rekrutierung unserer Richter speziell mit der Ausübung unserer Justiz keineswegs zufrieden sein können, ist selbstverständlich. Ich erkenne dabei gern an, dass die Beschwerden sich in mancher Beziehung in der letzten Zeit etwas verringert haben. Das mag aber an anderen Umständen liegen als gerade an einer Änderung des Geistes unserer Justiz an und für sich. Aber es bleibt noch genügend zu kritisieren übrig.

Meine Herren, wenn im vergangenen Jahre der Prozess Becker-Bartmannshagen soviel Aufregung verursacht hat, so können wir Ihnen sagen, dass dergleichen und noch schlimmere Prozesse unserer Partei gegenüber eine Alltäglichkeit sind, auch heute noch. Ich möchte mich da nur auf ein Urteil beziehen, das im September vorigen Jahres gegen den Redakteur Brecour von der „Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung" in Kiel gesprochen worden ist. In dieser Zeitung war das Urteil gegen die Bonner Borussen in Gegensatz gestellt worden zu der Verurteilung eines Bauarbeiters zu einem Jahre zwei Monaten Zuchthaus, weil er nach einem Streit mit Bahnarbeitern im Trunke Steine auf die Schienen eines Bahnstranges gelegt hatte, und dann noch zu einem anderen Urteil. Die Anklage nahm an, den Richtern sei damit der Vorwurf einer bewussten Rechtsbeugung, der Klassenjustiz, gemacht worden, und es wurde dann auf vier Monate Gefängnis erkannt. Dabei muss berücksichtigt werden, dass der Vorwurf der bewussten Rechtsbeugung bei unbefangener Beurteilung in diesem Artikel überhaupt gar nicht gefunden werden kann.

Immer wieder müssen wir uns wehren gegen die Auslegung des Wortes Klassenjustiz in dem Sinne der. bewussten Rechtsbeugung. Wir weisen das weit von uns. Wenn unsere Richter bewusste Rechtsbeuger wären, würde man mit derartigen verbrecherischen Intentionen rasch zu Ende kommen. Das Gefährliche unserer Klassenjustiz beruht darin, dass mit vollkommener Ehrlichkeit und mit dem allerbesten Gewissen aus den Umständen heraus ein objektives Urteil unmöglich gemacht wird. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Nun wird das immer wieder umgekehrt, und wenn der Betreffende zu vier Monaten Gefängnis verurteilt worden ist, so ist das wahrlich eine außerordentlich harte Strafe.

Bemerkenswert ist, dass der Staatsanwalt sich hierbei zu folgendem Ausspruch hat hinreißen lassen: „Die bisherige Straflosigkeit des Angeklagten kann nicht in Betracht gezogen werden; wenn er sich bereit findet, für eine Zeitung wie die ,Volkszeitung' zu zeichnen, muss er auch die Strafen der Zeitung mit übernehmen. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Dadurch gelingt es vielleicht, einen anderen Ton in die Zeitung zu bringen."

Also die alte Misere, die so oft und nicht nur von uns beklagt worden ist, dass man dem einzelnen Redakteur die Vorstrafen der Zeitung anrechnet. Das führt tatsächlich zu der krassesten Tendenzjustiz. Wenn dieser Gedanke weiter verfolgt wird, dann kann man jedem Mitglied der Sozialdemokratischen Partei oder irgendeiner oppositionellen Partei die sämtlichen Strafen aller Mitglieder dieser Partei anrechnen, indem man sagt: Ei, wenn du dieser Partei beitrittst, übernimmst du gewissermaßen die sämtlichen Strafen dieser Partei, du weißt, was das für eine gefährliche Partei ist.

Es ist weiterhin von diesem Blatt in der vorsichtigsten Weise ein Artikel, der Missstände in der Marine rügte, wiedergegeben worden, und zwar durchaus mit allem Vorbehalt und mit der Bitte, dass Aufklärung über das in der Bevölkerung herumschwirrende Gerücht geschaffen werde, und da ist auf sechs Monate Gefängnis erkannt worden gegenüber dem bisher unbestraften Angeklagten, der keineswegs die Behauptungen zu den seinigen gemacht hat. Wie soll da die Presse ihrer Aufgabe noch gerecht werden! Sie kann nicht immer schweigen, wenn gefährliche, bedenkliche Gerüchte, die die Öffentlichkeit interessieren, überall herumschwirren. Es ist dann ihre Pflicht, sie aufzugreifen, und wenn sie so vorsichtig ist, diese Gerüchte als Gerüchte wiederzugeben und um Aufklärung zu bitten, so sollte man darin niemals eine Beleidigung erblicken; denn da handelt die Presse in Ausübung ihrer außerordentlich bedeutsamen Aufgabe, die Interessen der Öffentlichkeit zu vertreten. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Im Übrigen sind die Beleidigungsprozesse gegen unsere Partei, die auf außerordentlich hohe Strafen erkennen, ja eine tagtägliche Erscheinung, so dass wir gar nicht nötig haben, darauf näher einzugehen; Sie alle wissen davon. Bedauerlich ist aber, wie systematisch man uns und unserer Parteipresse und der Gewerkschaftspresse den Schutz des Paragraphen 1933 zu entziehen sucht, wie man da, auch wenn man an und für sich diesen Schutz und seine Notwendigkeit anerkennt, aus irgendwelchen Wendungen die Absicht der Beleidigung, der formalen Beleidigung, konstruiert.

Da ist zum Beispiel in einem Prozess, der vor kurzem in Gleiwitz verhandelt worden ist, dem Redakteur der „Töpferzeitung" an und für sich der Schutz des Paragraphen 193 zugebilligt worden, dann aber aus den Worten, der angeblich Beleidigte sei „ein merkwürdiger Förderer seines Gewerbes", geschlussfolgert worden, dass eine Absicht der Beleidigung bestanden habe. Ich kann Sie versichern, dass derartige künstliche Konstruktionen zur Beseitigung des Paragraphen 193 bei sozialdemokratischen und gewerkschaftlich organisierten Angeklagten zum täglichen Brot gehören.

Eine besonders betrübende Erscheinung ist, dass unser Kammergericht in der letzten Zeit in sehr wesentlicher Beziehung seine Rechtsprechung verschlechtert hat. Wir können geradezu von einer Vermiserablung der Rechtsprechung beim Kammergericht sprechen. Es muss dabei besonders hervorgehoben werden die veränderte Stellung des Kammergerichts gegenüber der Verteilung von Druckschriften, der Auslegung der Gewerbeordnung, des preußischen und des Reichspressgesetzes

Sie wissen, dass bis dahin entgegen dem Standpunkt des Oberverwaltungsgerichts das Kammergericht auf dem Standpunkt gestanden hat, eine unentgeltliche Verteilung sei – ohne Erlaubnis – unzulässig wegen des preußischen Pressgesetzes, eine gewerbsmäßige, außer unter gewissen Voraussetzungen, unzulässig wegen der Gewerbeordnung; eine entgeltliche, aber nicht gewerbsmäßige Verteilung dagegen sei ohne weiteres zulässig, und es wurde vom Kammergericht eine solche entgeltliche Verteilung konstruiert in dem Fall, wo dem Verteiler ein Entgelt gegeben ist. Dadurch war allerdings die Möglichkeit gegeben, durch die Bezahlung der Verteiler gelegentlich Flugblätter und Handzettel für Versammlungen und dergleichen verbreiten zu lassen, und wir haben einen gewissen Vorteil aus dieser Judikatur des Kammergerichts gezogen.

Nun hat das Kammergericht seine Rechtsprechung geändert; es ist dem fortgesetzten Ansturm der Staatsanwaltschaft gegenüber nicht festgeblieben und hat sich jetzt in Übereinstimmung mit der Oberverwaltungsgerichtsjudikatur auf den Standpunkt gestellt, dass eine entgeltliche Verteilung nur diejenige sei, bei der von dem, an den verteilt wird, ein Entgelt genommen wird; meiner Ansicht nach eine ganz irrige Deduktion.

Es ist aber wichtig festzustellen, wie das Kammergericht hier seine Rechtsprechung zuungunsten einer größeren Bewegungsfreiheit der Bevölkerung besonders in politischer und sozialpolitischer Beziehung umgestaltet hat, ebenso wie das Kammergericht umgefallen ist in seiner Judikatur bezüglich der Streikposten, als die Staatsanwaltschaft mit Energie darauf drängte, das Kammergericht zu einer Umänderung seiner Auffassung zu bringen.

Besonders beklagt werden muss nach wie vor, welche große Mühe sich das Kammergericht gibt, um das preußische Pressgesetz auszunutzen gegen jede unbequeme politische, religiöse oder sozialpolitische Bewegung. Das preußische Pressgesetz ist vom Kammergericht selbst anerkannt worden in einer Entscheidung gegen Kiesewetter als ein durchaus unseren Zeitläuften nicht mehr entsprechendes Gesetz, und auch der Oberstaatsanwalt beim Kammergericht hat eine solche Anschauung zum Ausdruck gebracht.

Nun müssen wir erleben, dass dasselbe Kammergericht sich die größte Mühe gibt, mit den gequältesten Rabulistereien alle möglichen Plakate als unzulässige Plakate im Sinne des Paragraphen 9 des Pressgesetzes zu konstruieren, die irgendwie politisch, religiös oder sonst wie unbequem sind. Es ist in der Tat bedauerlich, dass hier ein solcher Aufwand an Scharfsinn so schnöde vertan wird, nur zu dem Zweck, das preußische Pressgesetz möglichst weit auszulegen, um nachher den oppositionellen Strömungen Handschellen anzulegen.

Wenn in den Bäckereien das Plakat ausgehängt wird: „In diesen Bäckereien wird nach den Vereinbarungen mit dem Bäckerverband der Lohn bezahlt, die Arbeitsbedingungen sind entsprechend geregelt", dann hat ein solches Plakat den Zweck, die Kunden darauf aufmerksam zu machen, dass nach anständigen Lohn- und Arbeitsbedingungen produziert wird. Es ist also eine Nachricht für den gewerblichen Verkehr, wie sie im Buch steht, und da gibt sich das Kammergericht die größte Mühe, zu beweisen, das sei keine Nachricht für den gewerblichen Verkehr, das bezwecke noch etwas anderes.

Klar geworden ist – das behaupte ich – den kammergerichtlichen Richtern selber nicht, was sie eigentlich damit wollen. Die Deduktionen, die nach dieser Richtung hin angestellt sind, gehen geradezu in das Groteske hinein. Ich habe nicht Zeit, mich näher darauf einzulassen; die Beratungen über das preußische Pressgesetz werden uns hoffentlich dazu noch Gelegenheit geben.

Auch sonst müssen wir lebhafte Beschwerde über das Kammergericht führen, das neuestens eine Verschlechterung seiner Judikatur zuungunsten der Gastwirte in Bezug auf die Auslegung der Paragraphen 365 und 360 Nummer 11 des Strafgesetzbuches vorgenommen hat, indem es – wiederum auf Andrängen der Staatsanwaltschaft – über den ruhestörenden Lärm eine Entscheidung gefällt hat, die aufs Äußerste bedauerlich ist. Alle diese Abänderungen der kammergerichtlichen Judikatur haben die Eigentümlichkeit an sich, dass sie stets in reaktionärem Sinne erfolgen und dass man kaum jemals erleben kann, dass ein kammergerichtliches Urteil im Sinne einer größeren Bewegungsfreiheit der Bevölkerung, einer liberalen Auslegung der Gesetze ergeht.

Meine Herren, die Gerichtsentscheidungen, die zur Auslegung unseres Vereinsgesetzes ergangen sind, bedürfen einer energischen Kritik. Die Justiz hat sich den Bestrebungen unserer Polizei, das Vereinsgesetz in einer den oppositionellen Strömungen möglichst ungünstigen Weise zu handhaben, nicht mit der gehörigen Bestimmtheit und Energie widersetzt. Das gilt speziell von der Rechtsprechung über den Jugendlichen-Paragraphen des Vereinsgesetzes.

Wenn die Polizei Jugendausschüsse und selbst Vereine zum Zweck der Gründung von Jugendheimen als politisch erklärt oder zu erklären versucht, so ist das ja vom Standpunkt der Polizei aus noch begreiflich, die ja unverantwortlich stets so weit zu gehen sucht, wie es irgend geht und dabei nicht mit derjenigen Sorgfalt, die wünschenswert wäre, auf die Gesetzlichkeit Rücksicht nimmt. Aber die Justiz hat leider gegenüber derartigen polizeilichen Attacken gegen die Gesetzlichkeit und speziell gegen das Vereinsgesetz nicht die nötige Widerstandskraft gezeigt. Wenn die Urteile der Gerichte unsere Jugendausschüsse und ebenso unsere Jugendheimvereinigungen als politische Vereine erklärt haben, dann sind das ja offenbare Fehlsprüche, die den Beweis dafür liefern, dass nach wie vor die Klassenjustiz bei uns herrscht und dass politische Voreingenommenheiten aus dem Hirn unserer Richter infolge der ganzen Zusammensetzung unseres Richterstandes nicht zu verbannen sind.

Wenn Treitschke gesagt hat, dass alle Rechtspflege politische Tätigkeit sei, und wenn Twesten erklärt hat, dass der Richterstand auf die Dauer politischen Strömungen und einem konsequent geübten Druck der Regierungsgewalt nicht widerstehen könne, so sind das Erfahrungen, die wir heute noch machen und die wir in Ewigkeit machen werden, solange unsere heutigen Zustände bestehen.

Es ist auch in vielen anderen Beziehungen Klage zu erheben. Dass wir unsere Streikpostenprozesse, unsere Prozesse aus Paragraph 152 der Gewerbeordnung4 immer noch in demselben Umfang haben wie früher, das brauche ich nicht besonders hervorzuheben. Dass andererseits die Erpressungsprozesse erfreulicherweise abgenommen haben, die früher eine ständige Rubrik bildeten, und auch Majestätsbeleidigungsprozesse in der letzten Zeit kaum mehr vorgekommen sind, das begrüßen wir auf das Allerangenehmste.

Aber, meine Herren, diese größere Zurückhaltung in Majestätsbeleidigungsprozessen, die ja zum Teil durch die reichsgesetzliche Änderung hervorgerufen sein mag, kommt ja gar nicht der Sozialdemokratie so sehr zugute wie gewissen Parteien der Rechten. Ich brauche Sie nur daran zu erinnern, wie beleidigend die Parteien der Rechten im Jahre 1908 über die Majestät des Deutschen Kaisers hergezogen sind; ich brauche Sie nur an die Artikel eben der Presse der Rechten zu erinnern, die im vergangenen Sommer erschienen sind, besonders an jenen Artikel der „Post", wo von Guillaume le Timide5 die Rede war. Sie kennen ja alle den Artikel; er ist angeblich – nachträglich – auch von der Geschäftsleitung der „Post" gemissbilligt worden.

Meine Herren, wenn ein solcher Artikel in einer sozialdemokratischen Zeitung gestanden hätte, der Staatsanwalt hätte trotz des „liberalisierten" Majestätsbeleidigungsparagraphen zugegriffen. Aber wir gönnen Ihnen gern, dass Sie diese Erleichterungen durch den Majestätsbeleidigungsparagraphen fruktifizieren. Sie haben es bei weitem notwendiger als wir; aber wir sind ja Christenmenschen und gönnen Ihnen deshalb gern diesen kleinen Vorteil.

Wir haben selbstverständlich auch manchen Lichtblick in unserer Justiz zu verzeichnen; so, wenn jüngst die kammergerichtliche Judikatur über das Streikpostenstehen von einem Landgericht sehr treffend und energisch kritisiert worden ist. Aber, meine Herren, das Urteil, von dem ich eben spreche, ist leider nicht in Preußen gefällt, sondern in Zeitz. Es wäre sehr erwünscht, wenn auch in Preußen solche Urteile ergingen und die Instanzgerichte sich gegen die unerträgliche kammergerichtliche Judikatur auf diesem Gebiete aufbäumen würden.

Wenn die Herren Abgeordneten Boehmer und Maiß gestern meinten, dass es möglich sein werde, die Weltfremdheit unserer Richter durch die Vorschläge, die der Herr Justizminister gestern vorgetragen hat, aus der Welt zu schaffen, so, glaube ich, sind sie doch etwas allzu optimistisch.

Meine Herren, die Weltfremdheit der Richter beruht auf viel zu tiefen Ursachen, auf der großen Kompliziertheit unsres ganzen gesellschaftlichen Wesens. Diese Kompliziertheit besteht aber, möchte ich sagen, nicht nur in technischer, sondern auch in sozialer Beziehung, und man kann nie und nimmer den Richtern einen wirklichen objektiven Einblick in das ganze Wesen unserer Gesellschaft dadurch verschaffen und ihre Weltfremdheit dadurch beseitigen, dass man ihnen die Möglichkeit gibt, sich Fabriken anzusehen, sich auch in Handel und Gewerbe umzusehen. Das würde stets nur vom Standpunkt des Unternehmertums geschehen.

Es müsste besonderes Gewicht darauf gelegt werden, dass die Lebensweise, die Denk- und Empfindungsart der verschiedenen Bevölkerungsklassen den jungen Juristen deutlich ad oculos demonstriert wird.

Da wäre es dann von ganz besonderer Wichtigkeit, wenn dieser Anschauungsunterricht der jungen Juristen auch dahin ausgedehnt würde, dass sie veranlasst werden, sozialdemokratische Schriften zu lesen, damit die Herren wissen, was die Sozialdemokraten sind und was sie wollen. Sie haben doch immer mit Sozialdemokraten zu tun, und wir müssen ja fortgesetzt erleben, dass die, die über die Sozialdemokratie urteilen, gar keine Ahnung von ihr haben. Das gilt auch von den höchsten Staatsbeamten. Ich brauche nur auf die jüngsten Verhandlungen im Reichstage hinzuweisen und Sie nur an die unsäglichen Blößen zu erinnern, die sich der doch gewiss geistig hervorragende frühere Staatssekretär des Innern Graf Posadowsky gegeben hat mit seiner geradezu kindlichen Ausführung über die Sozialdemokratie und ihre Forderungen. Glauben Sie, Graf Posadowsky wäre nicht zum Richteramt qualifiziert? Er ist vielleicht sogar einmal in seinem Leben Richter gewesen. Es wäre also sehr gut, wenn sozialdemokratische Schriften von Juristen gelesen werden müssten, weil sie durch ihr Amt immer und immer in die Lage kommen, über die Sozialdemokratie zu urteilen; dann müssten sie erst mal wissen, was die Sozialdemokratie ist.

Dann sollten Sie die jungen Juristen in sozialdemokratische Versammlungen schicken, damit sie sehen, wie es darin hergeht. Meine Herren, die Juristen werden als Richter oftmals über Vorgänge in sozialdemokratischen Versammlungen zu urteilen haben und werden dabei häufig von vorgefassten Meinungen ausgehen, die sie in der Presse Ihrer Partei gelesen haben. Beim Besuche sozialdemokratischer Versammlungen könnten sie aber sehen, wie ruhig und ordentlich es da zugeht, welche Selbstzucht die Sozialdemokratie zeigt und auf welchem hohen geistigen und sittlichen Niveau sie sich befindet.

Dann sollten die jungen Juristen in unsere Gewerkschaftshäuser geführt werden, in die Buchdruckerei „Vorwärts" („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten. – Heiterkeit.), damit sie sehen, was die Arbeiterschaft aus eigenen Kräften Großes geschaffen hat. Sie sollten sich die Arbeiterbildungsschulen ansehen, unsere Parteischulen, die Freie Volksbühne und den Volkschor und alle diese Organisationen der Arbeiterschaft auf den verschiedensten kulturellen Gebieten. Das würde sehr nützlich sein. Wir erleben es doch tagtäglich, dass wir das größte Erstaunen bei den Richtern finden, wenn wir ihnen klarzumachen suchen, dass die sozialdemokratische Bewegung nicht nur eine politische Bewegung ist, sondern eine kulturelle Bewegung, die alle Kulturgebiete umfasst und nach allen Richtungen hin die Menschheit zu heben sich bemüht. Auch die Genossenschaften müssten berücksichtigt werden. Meine Herren, es wäre sehr wünschenswert, wenn gelegentlich einer oder der andere Assessor beurlaubt würde, um in einem Arbeitersekretariat oder bei einer Gewerkschaft auf ein paar Jahre lang einmal zu arbeiten. („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.) Das wäre sehr nützlich, dann würde er einmal kennenlernen, was die Gewerkschaften wirklich sind.

Ja, meine Herren, wozu soll denn um alles in der Welt diese praktische Ausbildung der Juristen dienen? Doch dazu, dass sie imstande sind, über das, worüber sie späterhin zu urteilen haben, besser zu entscheiden.

Wir, die Sozialdemokraten, sind ja nach einem bekannten Worte hauptsächlich Objekte der Gesetzgebung. Da wir nun von den Richtern so ungemein vielfach beurteilt werden müssen, müssen die Richter es geradezu als ihr nobile officium ansehen, die Sozialdemokratie als das wichtigste Objekt unserer Klassenjustiz erst einmal recht gründlich zu studieren. („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.) Da fehlt es am allermeisten. Ob die Juristen wissen, wie eine Maschine aussieht, wie es in einer Fabrik hergeht, ist ja sehr schön, aber viel wichtiger ist das andere.

Dann sollten sie einmal Expeditionen veranstalten durch die Wohnungsquartiere der Armen in Berlin und den anderen großen Städten („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), damit sie einmal sehen, wie die armen Leute zusammengepfercht wohnen. Wie da die lebendige Anschauung der Brutstätten der Krankheit, des Lasters und des Verbrechens das Verständnis für das Verbrechen und das menschliche Empfinden für den Verbrecher steigern würde („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), ja, meine Herren, ich bin ganz fest überzeugt, das können wir gar nicht ermessen, das müsste ein Mittel sein, unsere Justiz zu sozialisieren.

Auch Arbeiterwohnungen auf dem Lande müssten betrachtet werden. Alles das sind außerordentlich wichtige Dinge. Natürlich wäre es auch sehr wichtig, wenn eine intimere Kenntnis der Zustände in unseren Strafanstalten auf diese Weise bei unseren Juristen herbeigeführt würde. (Zuruf: „Geschieht ja!") Ich weiß, es geschieht, aber es geschieht nicht intim genug; ein gelegentliches Hindurchlaufen durch die Strafanstalten ist nicht genug. Ich will natürlich nicht etwa so weit gehen zu sagen, dass man unbedingt selbst erst mal im Gefängnis gesessen haben müsse, um sich ein Urteil bilden zu können. (Heiterkeit.) Beinahe ist es allerdings richtig; aber es ist sicherlich sehr erwünscht, wenn man den jungen Juristen Gelegenheit gäbe, oft und häufig in die Untersuchungsgefängnisse, in die Zuchthäuser zu gehen und mit den einzelnen Gefangenen nähere Beziehungen anzuknüpfen, um in ihre Psychologie und ihr Wesen tiefer einzudringen.

Was gestern der Herr Justizminister über die Ausbildung der jungen Juristen gesagt hat, das mutete sehr erfreulich an. Ich bin der Ansicht, dass diesmal, abgesehen vielleicht von dem Herrn Kollegen Cassel, der Herr Justizminister die frischeste und erfreulichste Rede bei den bisherigen Debatten hier in diesem Hause gehalten hat. Es war beinahe unpreußisch, wie er, so jeder bürokratischen Beschränkung abhold, wünschte, dass die jungen Juristen in das Leben hinausgingen, um ihm in ihrem Berufe gewappneter gegenüberzustehen. Wenn aber der Herr Justizminister gemeint hat, dass dabei vor allen Dingen alle Oberflächlichkeit verhütet werden müsse, dann möchte ich ihm dringend empfehlen, die von mir vorhin hervorgehobenen Gesichtspunkte auch in Erwägung zu ziehen.

Wenn von Seiten der Justizverwaltung so die jungen Juristen der Sozialdemokratie näher geführt werden, so mögen sie ja dabei ruhig von dem Standpunkte ausgehen, dass die Sozialdemokratie nur betrachtet wird, wie soll ich sagen, als ein Sektionsobjekt, als eine Krankheit, die man sich eben auch einmal ansehen muss, wenn man als Arzt – und in gewissem Sinne soll der Richter ja ein Arzt sein – diese Krankheit behandeln will. Wir verlangen das nicht im Sinne einer Sympathieerklärung für die Sozialdemokratie; rein als Objekt der Gesetzgebung fordern wir, dass wir und die ganze Arbeiterbewegung bei dieser Ausbildung der jungen Juristen berücksichtigt werden. Wir haben unbedingt das Recht zu dieser Forderung, ganz abgesehen davon, dass wir auch auf Grund der großen kulturellen Bedeutung der Sozialdemokratie einen solchen Anspruch erheben dürfen. Aber diesen Gesichtspunkt erkennen Sie ja nicht an. Den Gesichtspunkt, dass wir die Objekte der Gesetzgebung sind, den erkennen Sie selbst an, und nun fordern wir die Konsequenz: Lernen Sie uns Objekte einmal kennen, damit Sie urteilen können, wenn an Sie die Notwendigkeit herantritt!

Meine Herren, im Vordergrunde unserer Kriminalpolitik muss natürlich die Verhütung des Verbrechens stehen. Die Verhütung der Verbrechen ist in erster Linie eine Sache der Sozialpolitik und auch der Politik im Allgemeinen. Wir brauchen uns nur die Quellen des Verbrechens anzusehen, die Ausbeutung, die Armut, die Not, die Anarchie der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die eine industrielle Reservearmee fordert, die wiederum eine Reservearmee des Verbrechens sein muss, dann die Arbeitslosigkeit, die eine Folge dieser Anarchie ist und eben mit dieser Reservearmee unmittelbar zusammenhängt – die Arbeitslosen sind ja die Reservearmee –, die Wohnungsnot, die durch die Not hervorgerufenen Krankheiten, den Alkoholismus, durch die Not im Wesentlichen hervorgerufen, die Zerstörung der Familie durch unsere kapitalistische Wirtschaftsordnung, durch das Auseinanderreißen der Familie – die Mutter wird vom Kinde gerissen, der Vater wird aus dem Hause gerissen, das Kind wird frühzeitig hinausgetrieben zur Kinderarbeit und damit allen Gefahren und Versuchungen ausgeliefert –, die Kinderarbeit mit ihren entsetzlichen Opfern! Die politische Rechtlosigkeit gehört auch mit hierher; denn die politische Rechtlosigkeit bedeutet, dass man ein wichtiges Erziehungsmoment unbenutzt lässt, das die große Masse der Bevölkerung zu größerem Selbstbewusstsein veranlassen könnte und zu einer größeren Neigung, sich in unseren gesellschaftlichen Organismus einzugliedern. Ich bin ganz fest davon überzeugt, dass man für unsere heutigen kapitalistischen Staaten auch ein gewisses unmittelbares Verhältnis nachweisen kann zwischen dem Grad der politischen Rechtlosigkeit und dem Grad der Kriminalität einer Bevölkerung. Meine Herren, auf der anderen Seite die Schulfrage! Ungenügende Schulbildung, gleichfalls eine der Wurzeln des Verbrechens!

In einer verständigen Kriminalstatistik werden ja alle diese Wurzeln auch stets hervorgehoben. Unsere Reichsstatistik ist in dieser Beziehung am weitesten zurück. Sie kennt im Allgemeinen nicht einmal die Rubrik der unehelich Geborenen. Unsere preußische Statistik kennt die Rubrik der unehelich Geborenen; aber andere Rubriken, die ebenso wichtig sind, fehlen leider im Allgemeinen. Sie bedarf einer weiteren Ausbildung, damit die Quellen des Verbrechens erkannt werden und dadurch erst die Grundlagen für eine wirkliche Prophylaxe und für eine wirkliche Kriminalpolitik überhaupt geschaffen werden.

Es ist für mich ein Ding der Unmöglichkeit, diesem Gedankengange hier weiter nachzugehen. Das eine allerdings muss hier gerade in diesem Hause betont werden, dass das Verbrechen als eine im Wesentlichen soziale Erscheinung ein Spiegelbild der unsozialen Leistung unserer heutigen Gesellschaftsordnung ist und dass die herrschenden Klassen für die Verbrechen insofern verantwortlich sind, als sie die Nutznießer derjenigen Zustände und Institutionen sind, aus denen das Verbrechen entsprießt, die Nutznießer der wirtschaftlichen Not, die Nutznießer des Alkoholismus, die Nutznießer der Kinderarbeit, der Frauenarbeit, die Feinde einer Verbesserung unserer Volksschule, diejenigen, die ein gutes Wohnungsgesetz verhindern, diejenigen, die eine wirkliche Reform unserer politischen Zustände, die Vermehrung der politischen Freiheiten verhindern. Sie alle sind die wesentlich Schuldigen an unserer Kriminalität („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), meine Herren, und allerdings auch diejenigen, die statt nach einer Reform unserer Strafjustiz im Sinne einer größeren Liberalisierung nach einer Verschärfung rufen!

Wenn irgendwo, so gilt bei unserer Strafjustiz das Wort, dass sie nicht nach dem. Maß der Arbeit, des guten Willens, der dabei zutage tritt, sondern nach dem Erfolge zu beurteilen ist, und, meine Herren, der Erfolg unserer Strafjustiz ist sehr ungünstig. Sie hat ein Fiasko erlebt, möchte ich sagen. Es gilt hier: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!

Wenn wir sehen, meine Herren, wie sich die Kriminalität von Jahr zu Jahr steigert, dann ist das ein Fiasko unserer Strafjustiz. Wenn wir sehen, meine Herren, dass sich in der Zeit von 1898 bis 1909 die Gesamtkriminalität in Preußen, das heißt die Verbrechen und Vergehen, um 18,2 Prozent gesteigert hat, dann ist das an und für sich bereits sehr ungünstig; denn es ist mehr als der Bevölkerungszuwachs beträgt. Besonders betrüblich ist es, dass dabei die Zahl der Jugendlichen schneller steigt als die der Erwachsenen, nämlich um 20,6 Prozent, und zwar die männlichen und die weiblichen ungefähr im gleichen Maße. Noch bedauerlicher ist es, dass die Zahl der Vorbestraften um 31,7 Prozent gestiegen ist, in demselben Zeitraum, in dem die Kriminalität überhaupt um 18,2 Prozent gewachsen ist.

Meine Herren, dann ist aber noch etwas anderes von großer Wichtigkeit. Während im Jahre 1905 auf je 100.000 strafmündige Zivilpersonen 1246 wegen Verbrechens und Vergehens Verurteilte überhaupt kamen, hat sich diese Zahl bis zum Jahre 1908 auf 1259 pro 100.000 gehoben. Aber wenn man die Statistik im Einzelnen betrachtet, so zeigt sich, in wie ungleicher und verhängnisvoller Weise diese Steigerung sich vollzogen hat. Wir sehen, dass bei den Vergehen und den Verbrechen gegen den Staat, gegen die öffentliche Ordnung und gegen die Religion die Verhältniszahl von 225 auf 207 gesunken ist. Meine Herren, die Klagen, dass die Aufsässigkeit gegen den Staat zugenommen habe und dergleichen sind also deplatziert und werden durch unsere Kriminalstatistik widerlegt. Es hat hier geradezu eine Abnahme, und zwar, möchte ich behaupten, wesentlich unter dem Einfluss der sozialdemokratischen Erziehung, stattgefunden. (Heiterkeit rechts. „Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Und, meine Herren, wie steht es mit den Verbrechen und Vergehen gegen die Person? Auch hier ist die Verhältniszahl von 532 auf 509 gesunken. Wir haben also auch bei den Rohheitsdelikten eine Abnahme zu verzeichnen. Meine Herren, das beweist, dass unsere Bevölkerung alles in allem in Bezug auf die Kriminalität sich außerordentlich günstig entwickelt, soweit es sich um Rohheitsdelikte und um sinnlose Widersetzlichkeit gegen die Staatsgewalt und unsere öffentlichen Einrichtungen handelt.

Aber eine andere Zahl ist es, die bei uns die Kriminalität herauf schnellen lässt, und die spricht Bände. Meine Herren, die Verbrechen und Vergehen gegen das Vermögen haben sich von 1905 auf 1908 gesteigert von 487 pro 100.000 auf 541 pro 100.000.

Während also die beiden anderen großen Rubriken, die Rohheits- und Widersetzlichkeitsdelikte, zurückgehen, sind die Vermögensdelikte gestiegen, und das drückt unserer ganzen Kriminalität den Stempel auf und charakterisiert sie als eine soziale Kriminalität, geboren aus der Not. Meine Herren, das beweist Ihnen ja unter anderem auch in der drastischsten Weise die Statistik, die die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge in ihrem Bericht für 1910 gibt, wonach gegenüber Vermögensdelikten von männlichen Jugendlichen, die von den Jugendgerichten innerhalb des Bezirks abgeurteilt worden sind, die anderen Delikte: Beleidigung, Hausfriedensbruch, widernatürliche Unzucht, selbst die Rohheitsdelikte zurücktreten; diese sind nur Kleinigkeiten. Dagegen ist die Zahl bei Diebstahl 634, bei Unterschlagung 147, Hehlerei 22, Betrug 40, Betteln 64, Obdachlosigkeit 67, Mundraub 34. Meine Herren, Sie sehen also, wie hier deutlich zutage tritt der Charakter dieser Delikte als soziale Notdelikte.

Ebenso ist es bei den weiblichen Jugendlichen, bloß dass da noch ein anderes Kapitel hineingreift, das allerdings womöglich noch trauriger ist als das bei den männlichen Jugendlichen, nämlich das Kapitel der Prostitution. Meine Herren, wenn wir sehen, dass bei den von den Jugendgerichten im Bezirk abgeurteilten weiblichen Jugendlichen wegen Diebstahl 233, wegen Unterschlagung 12 und dann wegen gewerbsmäßiger Unzucht 146 Fälle in Frage kommen („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.), meine Herren, dann fasst einen doch wahrhaftig der Menschheit ganzer Jammer an. Das sind Jugendliche unter 18 Jahren!

Ich glaube, dass dadurch genügend deutlich erwiesen ist, dass unsere Auffassung von dem Verbrechen als einer sozialen Krankheitserscheinung durchaus zutreffend und infolgedessen unsere Forderung, dass in allererster Linie auf dem Gebiete der Sozialpolitik unsere Kriminalpolitik getrieben werden muss, durchaus wohlbegründet ist.

Meine Herren, ich möchte darauf hinweisen, dass im Jahre 1907 nach der Statistik des Ministeriums des Innern, die hier leider mit der des Justizministeriums nicht konform geht – eine sehr bedauerliche Inkongruenz, die, wie mir scheint, leicht beseitigt werden könnte; die Vergleichung wird dadurch sehr erschwert –, in Preußen detiniert waren 103.844 Personen, dass 1907 ein Tagesdurchschnitt des Bestandes an Gefangenen sich ergeben hat für das Ministerium des Innern von 20 627 und dass im gleichen Jahre für das Justizministerium der Tagesdurchschnitt 29 999 beträgt, also zusammen 50 626 tagesdurchschnittlich im Jahre 1907 bei uns in Preußen detinierte Personen! Diese Zahl muss in alle Welt hinausgeschrien werden: 50 626! Das ist eine gewaltige Zahl. Wenn wir dergleichen aus Russland hören, dann sagen wir: Das sind russische Zustände. Wer von uns hat eine klare Vorstellung von der Ungeheuerlichkeit dieser Zahl? Im Jahre 1908 sind es über 52.000 gewesen. Also in diesem einen Jahre eine Steigerung von über 2000.

Ich will nicht sagen, dass diese Steigerung sehr auffällig wäre; diese Zahlen hängen auch von wechselnden Umständen ab, von dem Auf und Ab der wirtschaftlichen Konjunktur und dergleichen. Meine Herren, das sind nicht Zahlen, die sich automatisch entwickeln mit der Zunahme der Bevölkerung und der fortschreitenden Zeit. Da gibt es starke Schwankungen, wie jeder vernünftige Kriminalpolitiker weiß. Besonders krass wird jene Zahl, wenn man bedenkt, welche ungeheure Rolle unter diesen über 50.000 Menschen im Tagesdurchschnitt des Jahres die wirtschaftliche Not, die kulturelle Not spielt, durch die sie erst in die Arme der Justiz getrieben worden sind. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, ich glaube wahrlich, dass wir Sozialdemokraten alle Veranlassung haben, unsere Betrachtungen der Kriminaljustiz abzuschließen mit dem Urteil: Diese Kriminaljustiz hat sich bisher nicht bewährt; denn sie hat in keiner Weise die Zahl der Verbrechen zu vermindern gewusst; sie hat die Zahl der ihrer Freiheit auf Grund des Gesetzes Beraubten nicht zu vermindern gewusst.

Meine Herren, natürlich kann man deshalb nicht der Strafjustiz selbst ohne weiteres einen Vorwurf machen. Wenn man von unserem Standpunkt ausgeht, erkennt man ja sofort, dass die Kriminaljustiz nicht imstande sein kann, hier die entscheidenden Mittel zu ergreifen, um unsere Kriminalität zu vermindern; dazu bedarf es eben des Eingreifens anderer Instanzen. Wir müssen aber mindestens von der Kriminaljustiz erwarten, dass sie möglichst doch alles in ihren Kräften Stehende tut, um die Wiederholung des Verbrechens zu verhüten. Und, meine Herren, in dieser Beziehung, muss ich gestehen, ist unsere Strafjustiz längst nicht auf der Höhe; unsere Strafvollstreckung wird noch längst nicht in der gebührenden Weise als eine Erziehungsarbeit betrachtet, noch dazu als eine Erziehungsarbeit, die nicht etwa nun gewissermaßen eine Gnade ist und eine Humanität, die man der Masse der Bevölkerung angedeihen lässt, sondern die einfach Pflicht und Schuldigkeit ist angesichts der schweren Sünden, die unsere Staats- und Gesellschaftsordnung an der Kriminalität trägt, und aus deren Wurzeln die herrschenden Klassen ihr Glück und ihre Herrlichkeit saugen. Es würde nur eine geringe Revanche sein für die Sünden, die unsere Gesellschaft auf sich geladen hat, wenn sie in Bezug auf die Strafvollstreckung höheren, weiteren Gesichtspunkten folgen würde. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Der Gesichtspunkt, die Strafvollstreckung als eine Erziehung zu betrachten, und zwar eine geistige, moralische, körperliche und berufliche Erziehung, muss in den Vordergrund gestellt werden. Der Gedanke der Resozialisierung, von dem wir gestern gesprochen haben, muss der kommandierende Gedanke sein für unsere ganze Strafvollstreckung. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, leider ist ja, wie ich vorhin bereits ausführte, in dieser Richtung von der Justizverwaltung noch weniger geschehen als von der Verwaltung des Innern.

Wenn ich so gekennzeichnet habe, wie unsere Kriminalität herauswächst aus den sozialen Verhältnissen, wie in der sozialen Fürsorge in weitestem Umfange das Mittel zur Verhütung und zur Verminderung der Kriminalität liegt; wenn ich weiter darauf hingewiesen habe, dass unsere herrschenden Klassen, und zwar gerade auch die in diesem Hause herrschenden Klassen, die allererste Pflicht und Schuldigkeit hätten, alle ihre Kraft dafür einzusetzen, dass die Sünden einigermaßen wiedergutgemacht werden, die sie auf sich geladen haben, meine Herren, dann glaube ich, damit alles in allem die großen Aufgaben gekennzeichnet zu haben, die nicht nur die Justiz, aber auch eine Justiz, eine Rechtspflege, eine Justizverwaltung erfüllen könnte, wenn sie von dem umfassenden und vorurteilslosen Geist und von der Bereitwilligkeit erfüllt wäre, mit Vorurteilen so rücksichtslos aufzuräumen, wie es erforderlich ist und wie es ein nobile officium wäre gerade für eine Justizverwaltung unserer rasch vorwärtsdrängenden und verworrenen Zeit. Aber, meine Herren, weil es sich um eine Justizverwaltung Preußens handelt (Abgeordneter Rehren-Hamelspringe: „Aha!"), so haben wir die lebhafteste Besorgnis, dass es noch vieler Mühe bedürfen wird, um diesen schwerfälligen Block voran zu wälzen.

Wenn ich mich mit unserer Kriminaljustiz beschäftigt habe, so ist das auch aus politischen Gesichtspunkten heraus geschehen. Man sagt gar häufig, meine Herren, dass wir in einem Zeitalter der Gesetzlichkeit leben. Wir leben nicht in einem Zeitalter der Gesetzlichkeit in dem Umfange, wie es wünschenswert wäre. Niemals, meine Herren, aber hat das Bestreben nach Innehaltung einer auch nur rein formalen Gesetzlichkeit soviel Widersacher, maßgebliche Widersacher, gefunden wie gerade in unserer gegenwärtigen Zeit.

Meine Herren, ich will jetzt nicht sprechen von unserer Polizeiverwaltung, der ja durch unsere Gesetzgebung und unsere Rechtspflege viel zu sehr freie Hand gelassen wird. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Ich will nicht sprechen von den vielen Ungesetzlichkeiten, die ja unausgesetzt verübt werden. Ich will auch nicht sprechen von den Ungesetzlichkeiten, die im Bereich des Kultusministeriums verübt werden und gegen die einzuschreiten leider auch bisher unsere ordentliche Justiz, die Staatsanwaltschaft und auch das Oberlandesgericht Breslau vergeblich angerufen ist. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, ich will nicht sprechen von all den einzelnen Rekriminationen, die ich vorhin gemacht habe, sondern von den mächtigen Strömungen, die vielleicht nicht an offiziellen Stellen bestehen, aber in den Kreisen, die mächtiger sind als unsere offiziellen Stellen, und die geradezu als ein Schrei nach Ungesetzlichkeit bezeichnet werden können. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Die Reden, die wir in der letzten Zeit gehört haben, speziell aus dem Munde des Herrn von Heydebrand und der Lasa („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten. Lachen rechts.), die verschiedenen Aufforderungen an die Regierungen, gegen die Volksrechte mobilzumachen, das war ein Schrei nach Ungesetzlichkeit. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, ich entsinne mich, dass ein General von Wrochem, der ja im Flottenverein6 usw., eine größere Rolle gespielt hat, auch jetzt im Wahlkampf als ein Agitator gegen die Sozialdemokratie aufgetreten ist, vor einigen Jahren in Potsdam in einer Versammlung sagte – es war im Jahre 1910, als Briand in Frankreich gesagt haben sollte, er würde die Ordnung – (Glocke des Präsidenten.)

Präsident: Herr Abgeordneter Liebknecht, wir befinden uns bei der Justizverwaltung, und ich bitte, dabei zu bleiben und nicht immer zu sagen: ich will nicht davon reden, und dann doch davon zu sprechen. („Bravo!" rechts.)

Liebknecht: Meine Herren, ich habe mich ausschließlich mit der Justizverwaltung beschäftigt. Ich spreche von dem Schrei nach Ungesetzlichkeit, und im Zusammenhang mit der Justizverwaltung, deren Aufgabe doch die Pflege der Gesetzlichkeit sein soll, glaube ich doch auf derartige Bestrebungen hinweisen zu dürfen.

Meine Herren, ich will den General von Wrochem und seinen Schrei nach Ungesetzlichkeit fallenlassen. (Abgeordneter Rehren-Hamelspringe: „Bravo!") Meine Herren, ich lasse ihn fallen, weil ich das Nötige bereits gesagt habe. Im Übrigen ist Ihnen offenbar bei diesen Andeutungen, deren Berechtigung Sie sicher noch viel besser kennen als ich, nicht sehr behaglich.

Meine Herren, ich glaube, die Justiz – und das ist dasjenige, was mich veranlasst, darauf einzugehen – wird möglicherweise gerade mit Rücksicht auf derartige Aspirationen maßgeblicher Kreise in der nächsten Zeit wieder stärker mit ernsten, vielleicht sehr ernsten politischen Angelegenheiten beschäftigt werden – wir wissen es noch nicht, aber es könnte so kommen –, und da wird sich wiederum einmal zeigen, ob und wieweit die Justiz ihre Unabhängigkeit gegenüber den reaktionären politischen Tendenzen zu wahren vermag.

Meine Herren, es ist der Tod aller Gerechtigkeit, wenn die Politik in den Gerichtssaal hinein steigt („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Wir sehen die Politik immer im Gerichtssaal; wir haben uns damit als mit einer gesellschaftlich notwendigen Erscheinung abgefunden; wir begnügen uns damit, wenn wir wenigstens das ehrliche Bestreben sehen, sie nach Möglichkeit aus dem Gerichtssaal zu verbannen.

Meine Herren, wir hoffen und fordern, dass das ehrliche Bestreben, das sicher in weiten Kreisen unseres preußischen Richterstandes in dieser Beziehung besteht, von der Justizverwaltung wie überhaupt von unserer Staatsregierung nicht verringert und geschwächt, sondern gestärkt und gestützt wird. Wird endlich einmal in deutlicher Weise von dieser Stelle aus – das würde einen besonders guten Eindruck draußen im Lande machen – von dem Herrn Justizminister ausgesprochen, dass unsere Justiz nicht nur ohne Ansehen der Person, sondern auch ohne Ansehen der politischen Stellung der einzelnen Inkulpaten zu entscheiden habe, widrigenfalls sie Recht und Gerechtigkeit verletzt?

Meine Herren, „wollt ihr Genesung bringen" – so sagt Hoffmann von Fallersleben – „der armen kranken Zeit, dann lernt vor allen Dingen Recht und Gerechtigkeit". Meine Herren, Recht und Gerechtigkeit in politischen und sozialpolitischen Dingen muss von Ihnen und von unserem preußischen Staat erst gelernt werden. Wir hoffen, dass Sie belehrbar sein werden. (Glocke des Präsidenten.)

Präsident: Herr Abgeordneter, es geht zu weit, wenn Sie sagen: „Recht und Gerechtigkeit muss erst vom preußischen Staat gelernt werden." Ich rufe Sie zur Ordnung.

III

24. Februar 1912

Zum Mord an dem Arbeiter Herrmann

Meine Herren, ich möchte noch einen weiteren Punkt vorbringen, der wohl auch zu Kapitel 77 gehört. Es handelt sich um den bekannten Fall des Arbeiters Herrmann7, der bei den sogenannten Moabiter Unruhen vom September/Oktober 1910 getötet worden ist. Sie wissen, dass gegen die Mörder oder Totschläger dieses unglücklichen Menschen ein Strafverfahren eingeleitet worden ist; es hat aber bis zu diesem Moment noch keinen Erfolg gezeitigt. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Es ist bereits an die fünf Vierteljahre her, seitdem in der Gerichtsverhandlung einwandfrei festgestellt wurde, dass es sich hier in der Tat um einen ganz gewöhnlichen Totschlag handelt, der von Beamten an diesem alten wehrlosen Manne ausgeführt worden ist.

Meine Herren, wenn die Justizbehörde, die Strafverfolgungsbehörde insbesondere, noch nicht einmal in fünf Vierteljahren imstande ist, den Täter zu ermitteln und das Erforderliche zu tun, so liegt das, glaube ich, nicht nur in den Verhältnissen begründet, sondern zu einem Teil auch daran, dass die Justizverwaltung doch nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, die sie in Bewegung hätte setzen können. Wir verkennen ganz und gar nicht, dass eine große Schwierigkeit darin liegt, dass die Beamten, die als schuldig in Frage kommen, schon infolge ihrer Uniformierung schwer zu unterscheiden sind, weiterhin, dass sie naturgemäß auch infolge ihrer Solidarität, die ja an und für sich etwas menschlich Begreifliches ist, einander nicht hineinlegen werden. Das sind eben Dinge, die die Strafverfolgung von Polizeibeamten stets besonders erschweren.

Aber, meine Herren, es wäre der Justizverwaltung doch vielleicht möglich, etwas mehr Feuer hinter dies Ermittlungsverfahren zu machen, das bisher wie das Hornberger Schießen ausgegangen ist, indem sie – wie hier schon wiederholt gefordert worden ist – für die Auffindung des Täters eine Belohnung aussetzte. Die Justizverwaltung sollte hier doch an dem Fall Biewald in Breslau gelernt haben, wie ungeheuer schwer es ist, in derartigen Fällen die Schuldigen herauszubekommen. Der Fall Biewald liegt, ich weiß nicht wie viel Jahre, ich glaube fünf bis sechs Jahre zurück, und noch heute ist der Hand abhackende Schutzmann nicht gefunden und wird voraussichtlich auch niemals gefunden werden; die Zeit ist vorüber. Das hätte die Königliche Staatsregierung oder das Justizministerium, insbesondere die Staatsanwaltschaft, darüber aufklären können, dass, wenn man in derartigen Fällen überhaupt etwas ermitteln will, man auch außergewöhnliche Aufwendungen machen muss, dass man insbesondere den Weg nicht versäumen darf, der ja in anderen Fällen von der Justizverwaltung beschritten wird. Wir sehen doch, wie bei allerhand anderen gemeinen Verbrechen – sie mögen noch längst nicht Mord und Totschlag sein – bereits Belohnungen für die Ergreifung des Täters ausgesetzt werden. Nun, hier handelt es sich um ein Verbrechen, das erstens zu den schwersten gehört, die unser Strafgesetzbuch überhaupt kennt, das zweitens die allergrößte politische Bedeutung hat und das außerdem insofern einer besonderen Behandlung durch die Staatsregierung würdig wäre, als es sich darum handelt, dass die Staatsregierung nachweist, dass sie ohne Ansehen der Person rücksichtslos vorgeht, auch gegen Beamte, wenn sie exzedieren und bei Gelegenheit der Ausübung ihres Amtes schwere Verbrechen begehen. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, gerade hier zweifelt man im breiten Publikum an der Unparteilichkeit der Strafverfolgungsbehörde. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Man sagt sich und tuschelt sich zu: Ja, die wollen ihn gar nicht finden, deshalb setzten sie auch keine Belohnung aus, das ist ihnen im Grunde genommen ganz lieb.

Meine Herren, ich mache mir derartige Vorwurfe nicht zu eigen; ich bin weit davon entfernt zu unterstellen – das würde ganz meiner Erfahrung widersprechen, die ich im Übrigen in Bezug auf unsere Behörden gemacht habe –, dass etwa die Absicht bestünde, die betreffenden Beamten nicht zu fassen. Aber es liegt insofern ein Verschulden der Strafverfolgungsbehörde vor, als sie offenbar nicht denjenigen Eifer gezeigt hat und auch heute noch nicht zeigt, der erforderlich wäre, um bei so außerordentlich ernsten Sachen wie dieser Sache des Arbeiters Herrmann alles zu tun, was nötig ist, um der Gerechtigkeit Sühne zu verschaffen.

Meine Herren, es ist noch nicht Matthäi am letzten. Sie wissen ja, dass inzwischen, obwohl der Mörder Herrmanns noch nicht gefunden worden ist, der Fall Herrmann bereits andere Bestrafungen zur Folge gehabt hat. Einer unserer Parteifreunde in Leipzig ist, wie das bei der deutschen Gerechtigkeit der Fall zu sein pflegt, deshalb, weil er an der mangelnden Strafverfolgung Kritik geübt hat, wegen Beleidigung verurteilt worden. So pflegt es uns Sozialdemokraten zu gehen, dass man den Spieß einfach umdreht. Ich meine, dass die Staatsregierung alle Veranlassung hat, nachdem mit Strafanträgen und dergleichen Dingen bereits vorgegangen ist, durch die Tat zu zeigen, dass sie alles Erdenkliche, alles irgend in ihren Kräften Stehende zu tun gewillt ist, um die Sache zur Aufklärung zu bringen, wie sie das nötig hat im Interesse der Allgemeinheit, im Interesse unserer Staatssicherheit, im Interesse der gesamten Bürgerschaft, die sich doch naturgemäß sehr unsicher fühlen muss, wenn sie sieht, dass die Polizeibeamten, wenn sie schwer exzediert haben, nicht verfolgt, jedenfalls nicht ergriffen werden; wie leicht es ihnen fällt, ein schweres Verbrechen gänzlich zu verstecken, das am helllichten Tage auf der Straße unter den Augen zahlreicher Leute begangen ist. Dass die Erfolglosigkeit einer solchen Strafverfolgung eine geradezu korrumpierende Wirkung ausüben muss auf die Beamten, die sich ins Fäustchen lachen können, das springt in die Augen. Und sie haben einen gewissen Grund dazu, wenn sie nicht ganz pflichtbewusst sind. Sie haben einen gewissen Anlass, sich zu sagen: da wird doch nichts entdeckt. Die Leute werden angereizt, in ihrer Selbstkontrolle minder sorgfältig zu sein, sie werden veranlasst, sich leichter Erregungen und allerhand Exzessen hinzugeben. Ich meine, dass man im allgemeinen Interesse dafür Sorge tragen sollte, dass in der Beamtenschaft nicht der Gedanke aufkommt: Ach, wenn wir auch etwas pekzieren, heraus kommt nichts. Schon der Fall Biewald hat in dieser Richtung außerordentlich bedenklich und demoralisierend gewirkt; eine ebensolche Demoralisierung muss notwendig auch der Fall Herrmann ausüben, wenn die Ergreifung des Täters jetzt nicht endlich gelingt. Ich hoffe, dass die Staatsregierung ihre Pflicht und Schuldigkeit tun wird.8 („Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

Dann aber die Hauptsache, der Fall Herrmann! Ich muss offen gestehen, dass ich die Ausführungen des Herrn Regierungsvertreters in diesem Punkte einfach nicht fassen kann. Der Vertreter der Königlichen Staatsregierung beruft sich darauf, dass ein sächsisches Gericht – es war in Leipzig – einen Angriff einer Leipziger Zeitung als frivol bezeichnet habe, von dem er selbst zugeben muss, dass er sich durchaus nicht deckt mit dem Angriff, den ich erhoben habe; denn das Wesentliche jenes Angriffes war, dass die Königliche Staatsregierung beziehungsweise Staatsanwaltschaft es absichtlich unterlassen habe, das Erforderliche zur Auffindung des Täters zu tun. Eine solche Behauptung habe ich ausdrücklich zurückgewiesen und nicht zu der meinigen gemacht; das ist deutlich von mir zum Ausdruck gebracht worden. Im Übrigen beweist natürlich das Urteil eines sächsischen Gerichts nicht das geringste.

Der Herr Regierungsvertreter hat gesagt, es sei kein preußisches Gericht gewesen, und wollte dem Urteil dadurch anscheinend eine höhere Autorität geben. Sollten das die preußischen Gerichte nötig haben? Ich meine, die sächsischen Gerichte haben bei uns keine höhere Autorität als die preußischen Gerichte, und zwar auch gerade in ungünstigem Sinne, so dass ich nicht recht begreife, was mit dieser Argumentation gesagt sein soll.

Der Herr Vertreter der Königlichen Staatsregierung hat es für notwendig gehalten zu betonen, was die Staatsanwaltschaft alles getan habe. Ja, meine Herren, ich habe doch gar nicht bezweifelt, dass sie vieles getan hat. Ich habe doch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden ist. Darüber brauchen wir uns doch hier nicht lange zu unterhalten; das sind ja Dinge, die jeder weiß. Es handelt sich für mich aber darum, ob die Staatsanwaltschaft alles getan hat, was sie hätte tun können, und da war für mich sehr wesentlich, dass ich die Aussetzung einer Belohnung vermisst habe, die in ernsten Fällen sonst ausgesetzt zu werden pflegt. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Und da hat der Herr Regierungsvertreter zugegeben, dass mein Angriff berechtigt war. Also kurzum, das Fazit der Entgegnung des Herrn Regierungsvertreters ist ein glattes Eingeständnis, dass ich mit meinem Angriff recht gehabt habe. (Lachen rechts und Rufe rechts: „Unerhört!") Ja, meine Herren, nichts anderes; denn über etwas anderes als darüber, dass die Staatsanwaltschaft es verabsäumt hat, die Belohnung auszusetzen und sich damit auch dieses Mittels zur Aufklärung der Sache zu bedienen, habe ich nicht gesprochen. Nur in dieser Beziehung habe ich einen Angriff gegen die Staatsanwaltschaft gerichtet, und der Herr Regierungsvertreter hat zugeben müssen, dass dieser Angriff berechtigt war; denn es ist keine Belohnung ausgesetzt worden wie in anderen Fällen.

Dann aber das Argument, mit dem der Herr Vertreter der Staatsregierung begonnen hat! Er sagte, wie ich dazu käme – und das müsse er beklagen –, Leute schon als Mörder oder Totschläger zu bezeichnen, ohne dass sie vorher gehört worden sind. Ei, um alles in der Welt noch einmal, wie oft passiert es doch der Staatsanwaltschaft, dass sie ähnliche Verstöße gegen – ich weiß nicht welche – Grundsätze der Humanität und Gerechtigkeit begeht, wie ich eben einen solchen Verstoß begangen haben soll. Ja, wartet man denn bei uns mit der Bezeichnung einer Tat als Mord, bis der Mörder die Liebenswürdigkeit gehabt hat, sich erwischen zu lassen („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.), was bei uns ja oft recht viel länger dauert als die Entdeckung eines Mordes? Hat der Herr Vertreter der Staatsregierung immer dafür Sorge getragen, dass niemals von amtlicher Stelle aus eine Tat als Mord und ein Täter, wenn er unbekannt war, als Mörder bezeichnet wurde, bevor er gefasst und verhört wurde? Ich verstehe nicht, wie man ein solches Argument vorbringen kann.

War denn niemals in den amtlichen Publikationen der auch insoweit, als Hilfsorgan der Staatsanwaltschaft, der Justizverwaltung unterstehenden Kriminalpolizei in der letzten Zeit die Rede von einem Morde in der Alten Jakobstraße und von den Mördern, die da gesucht wurden? Und hat man nicht jetzt auch, bevor Trenkler ein Geständnis abgelegt hatte, bevor er überhaupt förmlich verhört war, überall, auch in halbamtlichen Publikationen, von dem gefundenen Mörder gesprochen? Jeder von uns weiß, wie unbegründet dieser Angriff des Herrn Vertreters der Staatsregierung ist, weiß, dass die Staatsregierung selbst genauso verfährt wie ich.

Aber diese Tat als einen Mord oder Totschlag zu bezeichnen, ist doch von mir schon darum durchaus nicht frivol, weil ich mich in dieser Beziehung auf die Autorität des Moabiter Urteils stützen darf. Dort ist zwar nicht das Wort Mörder und Totschläger gebraucht; aber es ist in recht unzweideutiger Weise auch in diesem Urteil zum Ausdruck gebracht, dass der Tod des Arbeiters Herrmann infolge einer unzulässigen Amtsüberschreitung erfolgt ist, und zwar auch einer bewussten Amtsüberschreitung. Meine Herren, wir haben ja über den Moabiter Prozess genug verhandelt. Ich glaube wahrlich, dass ich mich bei meinen Ausführungen zu dieser Tat nicht über die Grenzen hinaus begeben habe, die ich innehalten musste, wenn ich mich vorsichtigerweise an die von der Autorität des Berliner Landgerichts I getragenen Feststellungen halten wollte. Meine Herren, es ergibt sich also, dass die Staatsregierung, und insbesondere die Strafverfolgungsbehörde, auch gegenwärtig bei dieser Erörterung des Falles Herrmann von demselben Unstern verfolgt ist wie bei dem Versuch der Ergreifung des Täters, den wir und den der Volksmund nach wie vor als den Mörder oder Totschläger des Arbeiters Herrmann bezeichnen …

1 Henriette Arendt – war von 1903 bis 1909 im Stuttgarter Fürsorge- und Armenwesen tätig. Auf ihren Vorschlag hin war in Stuttgart das Amt einer Polizeiassistentin geschaffen worden. Ihre Aufgabe in dieser Beamtenfunktion war es, weibliche Gefangene zu überwachen und nach ihrer Entlassung für sie zu sorgen. Bald erweiterte sie ihr Tätigkeitsfeld auf die Betreuung von Pflege- und Waisenkindern. Durchdrungen von tiefem Humanismus, trat sie entschlossen auf – wie sie selbst schrieb – „gegen den engherzigen, fortschrittsfeindlichen Bürokratismus und gegen den Pietismus, welcher sich in der Dunkelheit mit aller Macht gegen jede humanitäre Bestrebung auflehnte, die nicht von der Kirche ausgehe". („Erlebnisse einer Polizeiassistentin von Schwester Henriette Arendt, früherer Polizeiassistentin in Stuttgart", München 1910, S. 5.)

Nach ihrer erzwungenen Amtsniederlegung am 1. Februar 1909 führte Henriette Arendt ihre Fürsorgetätigkeit auf selbständiger Basis weiter, wobei sie sich besonders verlassenen, verwahrlosten und misshandelten Kindern widmete.

2 Zentrumspartei. Die Red.

3 „Tadelnde Urteile über wissenschaftliche, künstlerische oder gewerbliche Leistungen, in gleichen Äußerungen, welche zur Ausführung oder Verteidigung von Rechten oder zur Wahrnehmung berechtigter Interessen gemacht werden, sowie Vorhaltungen und Rügen der Vorgesetzten gegen ihre Untergebenen, dienstliche Anzeigen oder Urteile von Seiten eines Beamten und ähnliche Fälle sind nur insofern strafbar, als das Vorhandensein einer Beleidigung aus der Form der Äußerung oder aus den Umständen, unter welchen sie geschah, hervorgeht."

4 „Alle Verbote und Strafbestimmungen gegen Gewerbetreibende, gewerbliche Gehilfen, Gesellen oder Fabrikarbeiter wegen Verabredungen und Vereinigungen zum Behufe der Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittels Einstellung der Arbeit oder Entlassung der Arbeiter, werden aufgehoben. Jedem Teilnehmer steht der Rücktritt von solchen Vereinigungen und Verabredungen frei, und es findet aus letzterem weder Klage noch Einrede statt."

5 Wilhelm (II.) der Furchtsame. Die Red.

6 Eine am,30. April 1898 im Interesse der imperialistischen deutschen Schwerindustrie gegründete Propagandaorganisation zur ideologischen und politischen Unterstützung des Aufbaus einer starken deutschen Kriegsflotte. Führende Finanziers waren die Monopolisten Krupp und Kirdorf. Ebenso wie der Deutsche Wehrverein unmittelbar mit den Wehrvorlagen von 1912 und 1913 verbunden war, ist auch die Entstehung des Flottenvereins untrennbar mit dem Beginn des deutschen Flottenbaus verknüpft. (Am 10. April 1898 hatte der Deutsche Reichstag das erste Gesetz über die Verstärkung der Kriegsflotte beschlossen.) Der Deutsche Flottenverein entwickelte sich zu der wohl größten Massenorganisation des Finanzkapitals in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. 1908 hatte er über eine Million Mitglieder. Eine führende Rolle spielte General Keim, der erste Präsident war Fürst zu Wied, sein Nachfolger Fürst Salm-Horstmar.

7 Als im September 1910 Streikbrecher des Streikbrechervermittlers Hintze unter dem Schutz der Polizei provokatorisch gegen die streikenden Arbeiter der Firma Kupfer und Co., eine dem Stinnes-Konzern angeschlossene Kohlengroßhandlung in Berlin-Moabit, auftraten, kam es zu blutigen Zusammenstößen zwischen der Bevölkerung und der Polizei, deren brutales Vorgehen zwei Todesopfer und zahlreiche Verwundete forderte. In zwei großen Prozessen vom November 1910 bis Januar 1911 wurden vierzehn Angeklagte zu 67½ Monaten Gefängnis verurteilt. Einer der beiden Ermordeten war der Arbeiter Herrmann. Karl Liebknecht vertrat die Klage der Witwe des Ermordeten auf Entschädigung in einem Prozess gegen das Berliner Polizeipräsidium. Die Arbeitermörder wurden vom Staatsapparat gedeckt und nicht zur Verantwortung gezogen.

8 Ein Regierungsvertreter versuchte anschließend, die Angriffe Karl Liebknechts zu entkräften. Die Red.

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