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Karl Liebknecht 19130203 Das Junkerpreußen zertrümmern, ein freies Preußen erkämpfen!

Karl Liebknecht: Das Junkerpreußen zertrümmern, ein freies Preußen erkämpfen!

Rede im preußischen Abgeordnetenhaus in der zweiten Lesung des Etats des Ministeriums des Innern

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, V. Session 1912/13, 8. Bd., Berlin 1913, Sp. 10.629-10.647 und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 6, S. 82-110]

Meine Herren, es ist eigentlich schade, dass es Ihnen nicht gelungen ist, die Debatte zu schließen. Es wäre ja so wunderschön gewesen, die Debatte zu schließen, nachdem unmittelbar vorher der Herr Minister geredet hat, zu schließen, nachdem von jeder anderen Partei zwei oder gar drei Redner gesprochen haben, nachdem von der Sozialdemokratie nur ein einziger Redner hat sprechen dürfen, und zwar bereits als zweiter Redner der Debatte, und nachdem fast alle Redner, die nach dem Sozialdemokraten gesprochen haben, über die Sozialdemokratie hergefallen sind wie wilde Tiere.

Es ist nicht das erste mal, dass derartige Debatten, wie sie in den letzten Tagen geführt worden sind, in diesem Hause stattgefunden haben. Ich will nicht weit zurückgreifen. Ich erinnere nur an die Debatte zum Etat des Ministeriums des Innern vom vergangenen Jahre, jene Debatte, die zu dem „Vorwärts"-Artikel1 Anlass gab.

(Andauernde Unruhe. – Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident Dr. Krause (Königsberg): Ich bitte um etwas Ruhe, damit der Redner verstanden werden kann.

(Abgeordneter Hoffmann: „Sie können sich noch gar nicht beruhigen über ihren Reinfall!")

Liebknecht: Ich erinnere zunächst nur an die Debatte vom vergangenen Jahre zum Etat des Ministeriums des Innern, wo Sie über mich und meinen Freund Ströbel in verschiedenen Serien hergefallen sind und wo Sie uns das Wort abgeschnitten haben, geradeso, wie Sie jetzt geplant hatten, uns die Möglichkeit jeder Abwehr zu nehmen.

Meine Herren, Sie wissen, dass die Vorgänge im vergangenen Jahre, von denen ich eben spreche, zu einem „Vorwärts"-Artikel Anlass gaben, dessen Überschrift ich ja in diesem Hause wohl nicht aussprechen darf und der den Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens gebildet hat, weil sich die Mehrheit dieses Hauses durch diesen Artikel allzu schmerzlich berührt gefühlt hat. Sie wissen auch, wie in der gerichtlichen Verhandlung über diesen Artikel die schärfsten Worte über den Missbrauch gefallen sind, den man bei jener Debatte getrieben hat mit der Macht der Majorität, eine kleine Minorität in der rücksichtslosesten Weise zu vergewaltigen und an jeder Spur der Möglichkeit einer Verteidigung zu hindern.

Ich kann weiter an die Debatte erinnern, die wir bei der ersten Lesung des Etats gehabt haben. Damals ist es genauso gewesen. Damals hat ein Sozialdemokrat sprechen dürfen; danach sind die allerheftigsten Angriffe gegen die Sozialdemokratie gerichtet worden, und die Herren haben dem zweiten Redner der Sozialdemokratie das Wort zur Abwehr nicht gegeben, obwohl der Herr Abgeordnete von Arnim-Züsedom eine der ärgsten Scharfmacherreden gegen die Sozialdemokratie gehalten hat, die in diesem Hause je gehalten worden sind. Ich sage das, obwohl der Herr Abgeordnete von Kardorff unmittelbar vor mir steht, und obwohl ich begreife, dass er glaubt, Anspruch auf die Ehre erheben zu dürfen, die schärfste Scharfmacherrede gehalten zu haben, die überhaupt je in diesem Hause gehalten worden ist.

Ich muss Ihnen gestehen, dass diese Debatten der letzten zwei Tage und auch des heutigen Tages für niemand einen größeren Erfolg bedeuten als für die Sozialdemokratie.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Die Sozialdemokratie hätte sich nicht träumen lassen, dass sie ein solches Glück haben würde, solche Agitationsreden für sich von ihren schärfsten Feinden hier im Abgeordnetenhause gehalten zu bekommen, wie sie gehalten worden sind von Herrn von Kardorff, von Herrn Freiherrn von Zedlitz, von Herrn Grafen von der Groeben – von anderen Rednern zu schweigen. Meine Herren, ich habe in der Presse gelesen – es ist die „Post", es ist aber auch in anderen Zeitungen ähnlich geschrieben worden –, bei diesen Debatten, besonders bei der Rede des gewaltigen Recken, des Herrn Abgeordneten von Kardorff, hätten die Sozialdemokraten ganz kleinlaut da unten gesessen, den Mund nicht mehr aufzutun gewagt, sie seien blass geworden.

(Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, um alles in der Welt noch einmal, der Herr, der das geschrieben hat, verfügt über eine blühende Phantasie, die ich als orientalisch bezeichnen würde, wenn ich nicht meinte, dass in der „Post" wahrscheinlich in dieser Beziehung auf Stubenreinheit gehalten wird.

Meine Herren, die Sozialdemokratie wird mit diesen Debatten und speziell mit der Rede des Herrn Abgeordneten von Kardorff und der des Herrn Abgeordneten Freiherrn von Zedlitz die besten Geschäfte machen. Wir haben das bereits erprobt. In einer Versammlung, die ich in den letzten Tagen abgehalten habe, war es nur nötig, auf diese Reden hinzuweisen, und eine Aufregung, eine Begeisterung für die Sozialdemokratie, eine Empörung gegen das in Preußen herrschende Regiment war vorhanden, wie wir es seit langer Zeit nicht gekannt haben. Ich darf schon jetzt prophezeien: Die Sozialdemokratie wird diese Reden, die dazu bestimmt waren, die Sozialdemokratie zu vernichten, als Agitationsbroschüre in die Welt hinaus schicken, um Propaganda für die Sozialdemokratie zu machen

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

und dann werden wir dem Herrn Abgeordneten von Kardorff, wenn er Gewicht darauf legt, noch ein Autorenhonorar bezahlen

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

für die schöne Rede, die er für uns gehalten hat, und dem Herrn Abgeordneten Freiherrn von Zedlitz ebenso.

Meine Herren, es ist doch wirklich erstaunlich, dass die Herren in der Tat nichts gelernt und nichts vergessen haben. Wenn solche Reden, wie wir sie in den letzten Tagen gehört haben, vor zwanzig Jahren gehalten wurden, nun, dann sagte man, die Zeit ist noch nicht genügend fortgeschritten, um die Herren bei ihrer Schwerfälligkeit über das Wesen der Sozialdemokratie aufzuklären. Aber dass es in der heutigen Zeit noch solche Käuze geben kann, die sich einbilden, mit solchen Mitteln der Sozialdemokratie auch nur ein Härlein zu krümmen, das, meine Herren, gehört in der Tat mit zu den größten Erstaunlichkeiten unserer heutigen Zeit.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Wenn wir die Weltwunder aufzählen sollten, ich glaube, man würde die politische Rückständigkeit und Begrenztheit, die sich in einer solchen Auffassung äußert, mit zu den größten Weltwundern zu rechnen haben.

Diese petrefakte politische Auffassung, die man hier wieder in aufgedonnerter theatralischer Pose gesehen hat, diese politische Auffassung ist es, die allerdings der Sozialdemokratie das Leben überaus erleichtert. Einer der Vorredner hat gesagt, wir lebten von den Fehlern unserer Gegner. Das ist ja nicht ganz richtig. Unsere Wurzeln liegen natürlich viel tiefer in dem ganzen Wesen unserer heutigen Gesellschaftsordnung und dem Wesen der menschlichen Natur begründet, und deshalb können wir nicht entwurzelt werden, auch wenn unsere Gegner eine noch so kluge und verständige Politik treiben würden. Aber das kann ich den Herren verraten: Unsere Arbeit wird uns ungemein erleichtert durch Ihre politische Rückständigkeit. Wir haben es in Deutschland so bequem, dass wir von unseren Freunden im Auslande zum Teil geradezu beneidet werden. Gehen Sie in die freieren Länder hinaus, wo diese politische Rückständigkeit nicht existiert, zum Beispiel nach der Schweiz. Herr von Kardorff, ich rate Ihnen, einmal nach der Schweiz zu fahren und dort mit einem Sozialdemokraten zu sprechen. Der wird Ihnen sagen: Ja, bei uns ist die Arbeit viel schwieriger als bei euch in Deutschland, ihr habt's leichter, eine starke Sozialdemokratie zustande zu bringen, denn ihr habt euer preußisches Junkertum, ihr habt eure preußische Polizeiwirtschaft, ihr habt euren Freiherrn von Zedlitz,

(Heiterkeit.)

ihr habt den Kronprinzen der Dynastie von Zedlitz, den Herrn von Kardorff!

(Große Heiterkeit.)

Meine Herren, die Provokationspolitik, die Sie in den Reden der letzten Tage hier getrieben haben, ist ja selbstverständlich nicht erst in diesen Tagen von Ihnen geboren worden. Wir verfolgen einige Zeit zurück: Auch in diesem Jahre, auch in dieser Session des Abgeordnetenhauses und auch des Reichstages finden wir bereits die Ansätze zu einer solchen Hetzpolitik. Im Reichstag hat an demselben Tage, wo Herr von Arnim-Züsedom hier seine Scharfmacherrede hielt, Herr Graf Westarp eine Rede gehalten, die genau Fleisch vom Fleisch der Rede des Herrn von Arnim-Züsedom war. Das ist eine abgekartete Geschichte. Genau wie wir sehen, dass die Herren vom Zentrum im Reich und hier eine durchaus in der gleichen Richtung zielende Politik verfolgen, so verfolgen die Konservativen und die Freikonservativen genau dieselbe Richtung im Reich und in Preußen.

(Zuruf.)

Was? Ich mache doch keinen Vorwurf daraus; ich möchte das nur ausdrücklich einmal konstatieren. Meine Herren, ich verweise darauf, dass hier in diesem Hause zwar Herr Graf von der Groeben und Herr von Arnim-Züsedom auch eine Scharfmacherrede gehalten haben, dass aber die Scharfmacherei, die von der Reichspartei oder der Freikonservativen Partei getrieben wird, noch um einige Nuancen hitziger gewesen ist als die von der Deutschkonservativen Partei. Meine Herren, die Herren von der Deutschkonservativen Partei sind eben doch häufig etwas vorsichtiger und wagen sich nicht so gänzlich – wie soll ich sagen – unkritisch heraus in die politische Arena, wie man das bei den Herren, die sich um das Banner des Freiherrn von Zedlitz geschart haben, allzu häufig beobachtet, die stets ihre Karten vor der ganzen Welt aufdecken und jeden Augenblick dafür sorgen, dass nicht vergessen wird, dass wir eine Scharfmacherei schlimmsten und gefährlichsten Kalibers bei uns in Deutschland haben.

Meine Herren, die Freikonservative Partei alias Reichspartei hat im Reichstag die Scharfmacherei nicht mitmachen können, sie hätte wahrscheinlich sehr gern gewollt; aber die Herren sind im Reichstag jetzt so klein geworden, dass man sie in seine Westentasche hineinstecken kann, dass sie nicht mehr imstande sind, ihr Herz dort vollkommen zu entladen. Das mag auch mit der Grund sein, weshalb hier nun mit doppelter Wut darauf losgeschossen worden ist; hier ist all der Zorn mit entladen worden, den man im Reichstag nicht hat loswerden können. Die Reichspartei hätte wohl auch im Reichstag den Grafen Westarp überboten, aber da ging es nicht; also muss der Schlag hier in Preußen erfolgen. Die Freikonservative Partei ist in diesem Falle zu ihrem Vorstoß zu einem Teil mitbestimmt worden nicht durch die Sozialdemokratie, sondern durch die letzten Vorgänge im Reichstag, speziell durch das Misstrauensvotum gegen die Reichsregierung in der Enteignungsfrage2, ist zu ihrem Vorstoß wesentlich mitbestimmt worden durch das Zentrum, und so ist es ganz natürlich, dass die Rede des Herrn von Kardorff zu einem guten Teil gegen das Zentrum gerichtet war, von dem man ja im Augenblick in der Tat nicht mehr recht weiß, wohin seine Politik führt.

(Zuruf im Zentrum: „Brauchen Sie ja auch gar nicht!")

Meine Herren, das Zentrum ist ja im Moment die große Sphinx. Im Reichstag haben Sie eigentlich eine sehr große Macht; Sie haben die Möglichkeit, durch eine dräuende Gebärde sofort die Regierung unmöglich zu machen, ihr das ganze Regieren unmöglich zu machen.

(Lachen im Zentrum.)

Sie haben die Möglichkeit, indem Sie sich der Opposition anschließen, die ganze parlamentarische Maschine im Reich lahmzulegen. In einer solch günstigen Position sind Sie kaum jemals früher gewesen. Aber, meine Herren, Sie haben nicht mehr die Möglichkeit, wie Sie wollen, auch eine Mehrheit zu bilden, um Ihren Willen positiv durchzusetzen. Sie sind stark in der Möglichkeit, der Regierung die Gurgel zuzudrücken; aber in der Möglichkeit, irgend etwas Ihrem Willen entsprechend positiv durch eine Mehrheit zu erzielen, in dieser Beziehung fühlen Sie sich im Reichstag unsicher. Auf die zweite Stelle zurückgedrängt, ist Ihnen das unbequem; Sie wünschen wieder an die erste Stelle zu kommen, Sie möchten gern wieder eine Mehrheit haben, mit der Sie schalten könnten nach Ihres Herzens Lust, und naturgemäß – wenn Sie die Sozialdemokratie auch in Fragen, die die Ordensangelegenheiten betreffen, immer auf Ihrer Seite finden werden – haben Sie den Wunsch, reaktionäre Politik zu machen nach Ihres Herzens Lust. Sie möchten mit den Konservativen und den Freikonservativen trotz alledem im Reichstag wieder die Mehrheit haben; und das ist es, was Sie gegenwärtig so unbehaglich stimmt. Nun, meine Herren, wir haben ja das Schauspiel gesehen bei der Jesuitendebatte3, wir haben gesehen, wie Sie bereits der Regierung verschiedentlich ein Bein gestellt haben; ich erinnere an den Ministerialdirektor im Reichsamt des Innern, den Sie gestrichen haben. Der Zorn des Zentrums zeigt sich in „positiven Taten". Wir sehen, wie Sie das Petroleummonopol4 zu verhindern suchen, wir sehen, wie Sie sogar in diesem Hause dieselbe Politik der Verschleppung treiben in der Elektrifizierungsfrage5;

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

wir sehen schließlich, wie Sie der Regierung einen recht kräftigen Fußtritt in der Enteignungsfrage versetzt haben; und wie wird's mit der neuen Heeresvorlage und ihrer Deckung sein? Herr von Bethmann Hollweg will nicht so, wie Sie wollen, und das lassen Sie sich nicht gefallen. Meine Herren, es ist ja klar, Sie möchten den Ihnen unbequemen Herrn von Bethmann Hollweg loswerden, obwohl man doch wahrhaftig sagen kann, in reaktionärer Beziehung: „Dies Kind, kein Engel ist so rein!" oder vielleicht auch: „Dies Kind, kein Engel ist so schwarz!" Aber trotz alledem: Die Jesuitenangelegenheit heischt blutige Sühne, und die ganze politische Konstellation lässt Ihnen den Moment gekommen erscheinen, wirklich einmal Ernst zu machen.

Meine Herren, wir haben ja den Appell gehört, der verschiedentlich im Reichstag, in diesem Hause und auch in der Presse an das Zentrum gerichtet worden ist, den Zank nicht allzu weit zu treiben in einer Periode der schwersten Gefahren in der auswärtigen Politik. Die Herren vom Zentrum aber haben den Spieß umgekehrt und haben gesagt: Die Regierung ist schuld daran, wenn Unruhe im deutschen Volke herrscht, weshalb lassen Sie die Jesuiten nicht herein, weshalb tun Sie nicht den Willen des Zentrums? Das ist ein Standpunkt, den wir Sozialdemokraten vollkommen verstehen; Sie haben in gewissem Sinne recht dabei. Aber Sie dürfen sich dabei nur nicht als die patentierten Patrioten aufspielen, als die Sie sich gar zu gern aufspielen.

Meine Herren, ich habe vor einiger Zeit einmal einem Herrn vom Zentrum zugerufen: Sie gehören zu denen, die das, was sie denken, nicht sagen. Wir sind längst gewöhnt, beim Zentrum eine Politik zu erleben, die man erraten muss, und zwar am besten erraten kann, wenn man erfahren ist in den Schlichen der Füchse. Meine Herren, die jetzige Zentrumspolitik wird viel kommentiert; wollen die Herren uns wohl einmal darüber reinen Wein einschenken; arbeiten Sie auf die Auflösung des Reichstages hin oder nicht?

(Große Heiterkeit im Zentrum.)

Ja, arbeiten die Herren auf die Auflösung des Reichstags hin?

(Zuruf im Zentrum: „Haben Sie Angst?")

Meine Herren, lassen Sie mich doch erst mal ausreden. Wir sind auch in dem Falle die lachenden Dritten. Wir haben nichts zu verlieren, wir haben nur zu gewinnen bei einer Politik, wie das Zentrum sie treibt, einer so inkonsequenten, fortgesetzt gegen die eigenen Prinzipien verstoßenden Politik,

(Lachen und Widerspruch im Zentrum.)

bei der Fähigkeit und Neigung des Zentrums, von heute auf morgen seine Ansichten zu wechseln, seine Politik umzuwerfen, das, was man gestern angebetet hat, zu verbrennen und umgekehrt. Bei einer solchen Politik geht Ihnen nach und nach der Atem aus, eine solche Politik können Sie wohl bei einer Bevölkerung treiben, die sich nicht ihrer selbst bewusst ist; Sie können sie aber nicht auf die Dauer treiben bei einer Bevölkerung, die politisch aufgeklärt ist, die an ihren Lebensinteressen unausgesetzt von Ihnen dermaßen verletzt worden ist, dass sie schließlich sehend geworden ist.

Alle diese Jesuitendinge, alle diese Aufputschungen, der Versuch, die Frage der Parität oder Imparität auch bei dieser Gelegenheit hier wieder in die Debatte zu werfen, die energische Hervorhebung der Gewerkschaftsfrage, all das sind Dinge, die unzweifelhaft den Versuch vorbereiten sollen, die Wähler, die allzu sehr vor den Kopf gestoßen sind, nunmehr wiederum mit allerhand Kniffen und Pfiffen einzufangen.

(Heiterkeit.)

Diese Taktik des Zentrums dürfte auch dahin gedeutet werden können, dass die Herren möglichst viele Eisen im Feuer halten möchten, um gegebenenfalls bereit zu sein, um irgendeiner Geringfügigkeit willen nach Ihrem Belieben den Reichstag auseinandertreiben zu lassen, um dann vielleicht das Glücksspiel zu versuchen, ob Sie im Reichstag eine Ihnen genehmere Majorität bekommen und wieder als größte Partei in den Reichstag zurückkehren können. Dass eine solche Politik, in dem gegenwärtigen Moment vom Zentrum getrieben, Ihnen verbieten sollte, das Wort Patriotismus in dem Sinne, in dem Sie es immer gebrauchen, noch in den Mund zu nehmen, darüber dürfte es nur eine einzige Stimme geben.

(Lachen im Zentrum.)

Auf der anderen Seite unterliegt es gar keinem Zweifel, dass die Herren Konservativen, Freikonservativen, dass auch die Regierung lieber heute als morgen den Reichstag los sein würden, obwohl sie vom Reichstag bekommen haben, was sie irgend haben wollten. Aber diese anderen Faktoren möchten nicht gar so gern gegenwärtig die Sache auf die Spitze treiben, sie wollen abwarten, bis etwas mehr Ruhe in die auswärtige Politik eingekehrt sein wird.

Diese ganze Politik des Zentrums ist nicht im Entferntesten geeignet, der Sozialdemokratie Angst und Schrecken einzujagen.

(Zuruf im Zentrum: „Na also!")

Aber, meine Herren, wir haben alle Veranlassung, dafür zu sorgen, dass die versteckten Schliche der Zentrumspolitik

(Lachen im Zentrum.)

und ihre innere Unehrlichkeit immer und immer wieder vor der Öffentlichkeit aufgedeckt werden

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

und nur aus diesem Grunde habe ich Veranlassung genommen, diese Frage in diesem Zusammenhange zu erörtern.

(Lachen im Zentrum.)

Meine Herren, wenn die Neigung, den Reichstag nicht allzu alt werden zu lassen, in den entscheidenden Kreisen, bei der Regierung und bei den konservativen Parteien, besonders stark ist, dann erklärt sich das ganz naturgemäß aus der schroffen Dissonanz, die sich noch niemals so schroff wie gegenwärtig gezeigt hat zwischen dem preußischen Regiment und der Art, wie im Reiche das Parlament, der Reichstag, zusammengesetzt ist. Ich habe bereits bei einer früheren Gelegenheit darauf hingewiesen, dass im Reichstag die sozialdemokratischen Abgeordneten zwei Siebentel ausmachen, im preußischen Abgeordnetenhause aber etwa nur ein Dreiundsiebzigstel. Einen mehr als zwanzigfach stärkeren Faktor bildet die Sozialdemokratie im Reichstag als hier im preußischen Abgeordnetenhaus.

(Zuruf rechts.)

Meine Herren, Sie halten das für einen Vorzug. Sie meinen, es muss in Preußen um so mehr nach rückwärts geschraubt werden, je mehr im Reiche nach vorwärts geschraubt wird. Nein, meine Herren, auf die Dauer geht das aber nicht. Es ist – nicht von sozialdemokratischer, sondern von einer durchaus auf Ihrem politischen Standpunkt stehenden Seite, sogar von einer Seite, die, wenn ich nicht irre, Herrn von Kardorff recht nahesteht – einmal darauf hingewiesen worden, dass es auf die Dauer unmöglich sei, in Preußen anders als im Reiche zu regieren, und dass in irgendeiner Weise die beiden Formen der Regierung einander angenähert, einander angeglichen werden müssen. Meine Herren, das ist eine Selbstverständlichkeit. Unsere gegenwärtigen Zustände in Deutschland laufen darauf hinaus, dass ein paar Pferde vor den Wagen gespannt sind und ein paar Pferde hinter den Wagen; natürlich ist so ein Vorankommen nicht möglich, sondern da die Pferde, die nach vorn ziehen sollen – im Reichstag haben wir ja leider noch nicht die Mehrheit –, nicht gar so kräftig nach vorn zu ziehen geneigt sind, während die Pferde, die nach rückwärts ziehen,

(Abgeordneter Hoffmann: „Das sind keine Pferde, das sind Ochsen!" – Heiterkeit.)

sehr kräftig sind und außerordentlich energisch anzuziehen pflegen. So sehen wir das Deutsche Reich, statt vorankommen, viel eher rückwärtsgehen.

Meine Herren, das preußische Abgeordnetenhaus hat im Gegensatz zu dem Attest, das ihm einst von Bismarck ausgestellt worden ist, vom heutigen Herrn Minister des Innern ein glänzendes Zeugnis, summa cum laude, bekommen. An ihren Früchten sollt ihr die Parlamente erkennen, hat der Herr Minister gesagt

(Abgeordneter von Kardorff: „Sehr richtig!")

und wenn man das preußische Abgeordnetenhaus in seinen Leistungen betrachtet – so sagt er –, dann können wir nur anerkennen, dass Vorzügliches geleistet ist

(„Sehr richtig!" rechts.)

und dass kein Parlament der ganzen Welt Besseres geleistet hat als das preußische Abgeordnetenhaus.

(„Sehr richtig!" rechts.)

Ja, meine Herren, wenn doch dieses Lob auch einmal von einer anderen Stelle als aus dem preußischen Abgeordnetenhause selbst erklingen würde! Meine Herren, dieses Eigenlob des preußischen Abgeordnetenhauses und des jungen Mannes des preußischen Abgeordnetenhauses, des Herrn Ministers des Innern,

(Rufe rechts: „Oh! Oh!")

ist natürlich kein beweiskräftiges Dokument.

(Glocke des Präsidenten.)

Präsident Dr. Graf von Schwerin-Läwitz: Herr Abgeordneter Liebknecht, das ist kein passender Ausdruck. Ich bitte, dergleichen Ausdrücke gegenüber einem Minister zu vermeiden. Den Minister als einen jungen Mann des Abgeordnetenhauses zu bezeichnen, kann ich nicht als der Ordnung des Hauses entsprechend bezeichnen.

Liebknecht: Ich würde mir nicht gestattet haben, diese Bemerkung zu machen, wenn ich mir nicht in diesem Falle ein Zitat gestattet hätte, das von Herrn von Kardorff herrührt,

(Zuruf des Abgeordneten von Kardorff: „Berliner Tageblatt!")

zwar nicht gegen einen preußischen Minister, der hier anwesend war, aber gegen einen Staatssekretär, der auch preußischer Minister ist.

(Glocke des Präsidenten.)

Präsident: Herr Abgeordneter Liebknecht, der Herr Abgeordnete von Kardorff hat aus einer Zeitung zitiert und sich auf eine Bezeichnung berufen und hat darüber gesprochen. Er hat aber nicht selbst den Minister so bezeichnet.

Liebknecht: Also, ich zitiere auch nur das Wort, das bereits früher gelegentlich gebraucht worden ist. Tatsache ist ja, dass die Herren Minister in Preußen im Wesentlichen nichts anderes sind als die ausführenden Organe der Mehrheit dieses Hauses und speziell der konservativen Parteien dieses Hauses.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Das ist eine so selbstverständliche Sache, dass Sie (nach rechts) selbst es ja gar nicht zu bestreitet wagen und der Herr Minister von Dallwitz wahrscheinlich auch nicht.

Meine Herren, nun sehen wir, wie im preußischen Abgeordnetenhause in die Rechte des Reichstags unausgesetzt rücksichtslos eingegriffen wird. Es ist bestritten worden, dass das bisher geschehen sei, außer wenn es die dringendste Not erforderte, und es war die „Kreuz-Zeitung", die, wenn ich nicht irre, in der gestrigen Nummer darauf hingewiesen hat, dass man künftig im preußischen Abgeordnetenhause genötigt sein werde, auch von den dringendsten Fällen abgesehen, die Reichspolitik in das Geltet der Erörterung zu ziehen, wozu man sich für befugt erachte.

Meine Herren, Sie wissen ganz genau, dass Sie Angelegenheiten der Reichspolitik hier außerordentlich häufig vor Ihr Forum gezogen haben. Wie häufig ist hier im Abgeordnetenhaus die Frage des Reichstagswahlrechtes erörtert worden; wie häufig ist in diesem Hause zu einer Umänderung, einem Umsturz der Reichsverfassung gehetzt worden.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Haben Sie dazu ein Recht gehabt? Meine Herren, wie haben Sie in diesem Hause gehetzt unter der Führung des Herrn Abgeordneten von Heydebrand und der Lasa gegen die elsass-lothringische Verfassungsreform.

(Rufe rechts: „Gehetzt?" Glocke des Präsidenten.)

Präsident: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, Sie dürfen auch Abgeordneten nicht vorwerfen, dass sie gehetzt hätten. Ich habe das schon vorhin gerügt und bitte Sie, diesen Ausdruck zu vermeiden.

Liebknecht: Meine Herren, Sie entsinnen sich der denkwürdigen Szene, wie der Herr Abgeordnete von Heydebrand hier auf die Tribüne getreten ist und den Herrn Ministerpräsidenten vor sein Tribunal gezogen hat, um ihn wegen des Unterfangens zur Rede zu stellen, Elsass-Lothringen ein freies Wahlrecht zu geben. Sie wissen des Weiteren, wie in diesem Hause bei jeder Gelegenheit, bei allen Etatdebatten die ganzen Reichsangelegenheiten Revue passieren. Sie entsinnen sich auch, wie sogar vom Ministertisch aus, von dem Herrn Justizminister, die rechten Parteien dieses Hauses aufgefordert worden sind, dafür zu sorgen, dass ihre Freunde im Reichstag für eine Rückwärtsrevidierung unseres gegenwärtigen Justizzustandes sorgen möchten.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Es ist also nicht richtig, wenn gesagt worden ist, das Abgeordnetenhaus habe bisher mit einer Kritik des Reichstages zurückgehalten. Das Gegenteil ist wahr.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Das preußische Abgeordnetenhaus hat wiederholt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit dadurch auf sich gelenkt, dass von ihm eine offene Fronde gegen den Reichstag und die Reichsregierung ausgegangen ist.

Meine Herren, wenn Sie sich das Recht dazu herausgenommen haben – meinethalben auch dieses Recht haben, darüber will ich gar nicht rechten –, dann sollten Sie doch auch wahrlich nicht bestreiten, dass der Reichstag das gute Recht hat, sich mit preußischen Angelegenheiten zu befassen. Sie heben selbst hervor, dass Preußen der größte Teil des Deutschen Reiches sei und daher der führende Staat in Deutschland sein müsse. Nun, muss dieses Argument nicht auch für die Reichspolitik maßgebend sein? Ergibt sich daraus nicht die Konsequenz, dass alles, was mit Preußen zusammenhängt, ein integrierender Bestandteil der Reichspolitik ist,

(Widerspruch bei den Freikonservativen.)

und dass der Reichstag, wenn er überhaupt seine Pflicht und Schuldigkeit tun will, unausgesetzt Preußen vor sein Forum ziehen muss ? Das ist eine solche Selbstverständlichkeit, dass man gerade Freiherr von Zedlitz heißen muss, um das nicht zu verstehen.

Dass in diesem Falle die Debatten im Reichstag hier im Abgeordnetenhaus so scharf von den Parteien der Rechten kritisiert worden sind, erklärt sich nicht so sehr daraus, dass im Reichstag über preußische Angelegenheiten gesprochen worden ist, sondern vielmehr daraus, dass die Besprechung im Reichstag zu einem Votum geführt hat, das den Herren in Preußen unangenehm sein muss, sowie daraus, dass die Herren aus diesem Verhalten des Reichstages an einem stringenten Beispiel erkannt haben, dass im Reichstag ein Wille vorhanden ist, der bereit ist, mit Energie und Nachdruck gegen die Regierung vorzugehen und sich durchzusetzen. Bisher haben die Herren den Reichstag schließlich so laufen lassen; so ein Reichstag ist nach Ihrer Auffassung eine ziemlich bedeutungslose Sache; die Macht haben Sie hier; wenn der Reichstag „frech und unbotmäßig" wird, nun, dann jagt man ihn nach Oldenburgschem Rezept6 auseinander. Und nun, meine Herren, will es Ihnen nicht in den Kram passen, dass der Reichstag in diesem Falle einen festen Willen bewiesen hat, dass er der preußischen Regierung einmal die Faust gezeigt hat.

Meine Herren, bei diesen Klagen über die Einmischung des Reiches nach Preußen möchte ich noch auf eins hinweisen. Sie entsinnen sich vielleicht, wie der Herr Minister des Innern im vergangenen Jahre gegen Reichstagsabgeordnete die schärfsten Angriffe von der Tribüne des preußischen Abgeordnetenhauses aus gerichtet hat. Wie sehr hier preußische Politik Reichspolitik ist, konnte man daraus ersehen, dass eine Zurückweisung dieser Angriffe durch einen meiner Parteifreunde im Reichstag bei dem Herrn Staatssekretär des Innern Delbrück eine solche Nervosität hervorrief, dass es beinahe aus diesem Anlass zu einer Ministerkrise im Reiche gekommen wäre.

Meine Herren, an dieses Faktum, an diese Anekdote erinnere ich um so lieber in diesem Moment, als die Nibelungentreue, die damals Herr Delbrück Herrn Dallwitz gehalten hat, inzwischen einer bitteren Feindschaft Platz gemacht zu haben scheint. Der Herr Minister des Innern hat ja nicht irgendein Wort gesagt, das ausdrücklich darauf hinauslief, den Herrn Staatssekretär des Innern und preußischen Minister Delbrück einer Unwahrheit zu zeihen, zuzugeben, dass er ihm gedroht habe, dass er eine Flucht in die Öffentlichkeit unternommen habe. Aber wer die Worte nicht nur gelesen, sondern gehört hat, der muss sagen, dass ein solches Maß von innerlicher Wut und Entrüstung, wie sie bei dem Herrn Minister in seinen Ausführungen, insbesondere vom vergangenen Freitag, zum Ausdruck kam, in der Tat etwas ganz Außergewöhnliches darstellt.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Der Herr Minister des Innern ist ja aus den verschiedensten Gründen mit Herrn Delbrück sehr unzufrieden, vor allen Dingen um deswillen, weil unter dem Regime des Herrn Delbrück jener Schriftwechsel über die Wahlurnen bekannt wurde, der bereits Gegenstand der Erörterung in diesem Haus war. Als ich die Frage der Wahlurnen bei der Generaldebatte zum Etat anschnitt, hat der Herr Minister des Innern keine Antwort erteilt. Inzwischen hat sich nun der Herr Minister des Innern herbei gelassen zu erklären, dass er sich weigere, eine positive Erklärung zur Sache abzugeben, und zwar einmal deshalb, weil es sich hier um Indiskretionen handle – was schon Herr Delbrück im Reichstag gesagt hat –, sodann, weil das preußische Ministerium bisher noch nicht gesprochen habe. Aber der Herr Minister des Innern kann nicht bestreiten, dass er bereits eine Meinungsäußerung über diese Frage von sich gegeben hat. Er hat den Brief, den er an den Staatssekretär Delbrück gerichtet hat, und das bekannt gewordene Schreiben, in welchem Herr Delbrück geantwortet hat, nicht in Abrede stellen können, sondern durch sein Schweigen bestätigt. Daraus geht hervor, dass der Herr Minister des Innern sich widerstrebend verhält gegen die Einführung von amtlichen Wahlurnen und dass er nicht gewillt ist, alles das zu tun, was erforderlich ist, um ein wirklich geheimes Wahlrecht zum Reichstag zu ermöglichen. Damit ist bewiesen, was wir ja stets gewusst haben, was wir aber niemals haben so evident beweisen können wie in diesem Fall.

Wenn dem Herrn Minister die Veröffentlichung dieses Schriftwechsels oder wenigstens der Antwort, die sein vorhergegangenes Schreiben in seinem Inhalt deutlich erkennen lässt, sehr unangenehm war, so war ihm natürlich auch die Tatsache sehr unangenehm, dass mit einer bis dahin unbekannten Klarheit aufgedeckt worden ist die vollkommene Abhängigkeit der gesamten Reichspolitik von der preußischen Politik.

Diese Abhängigkeit ist auch bereits bekannt gewesen; aber die Form, in der sich diese Abhängigkeit äußert, war noch niemals so bekannt wie gegenwärtig. Es war niemals so bekannt, welche Wege von den Vertretern der Reichsregierung genommen werden müssen, ehe sie imstande sind, irgendeine Initiative in der Reichsgesetzgebung zu entfalten. Es ist niemals so deutlich zutage getreten wie bei diesen Mitteilungen des Herrn Staatssekretärs Delbrück, dass die preußische Politik in einer ganz bestimmten organisierten Weise sich systematisch als Hemmschuh an die Reichspolitik legt,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

und es verhindert, dass im Reich irgend etwas zustande kommt, was nur im entferntesten den Charakter des Fortschritts tragen könnte.

Aber, meine Herren, besonders unangenehm ist dem Herrn Minister des Innern schließlich die Wohnungsfrage gewesen. Das klang ja nun in der Tat beinahe wie eine Drohung, das klang beinahe wie ein Pronunziamento des Herrn Delbrück, wie eine Flucht in die Öffentlichkeit. Ob Herr Delbrück bereits gewusst hat – wie der Herr Minister des Innern darzustellen sucht –, dass die Veröffentlichung des preußischen Wohnungsgesetzes unmittelbar bevorstand, ob also Herr Delbrück in der Budgetkommission des Reichstags gewissermaßen eine unzutreffende Darstellung des Sachverhalts gegeben und dadurch die Öffentlichkeit und den Reichstag getäuscht hat, das ist eine Sache, über die man im Zweifel sein kann. Aber ich möchte mehr der Auffassung zuneigen, dass innerhalb der preußischen Regierung und zwischen der preußischen und der Reichsregierung heftige Gegensätze bestanden haben, die noch zu keiner vollkommenen Klärung, zu keinem Entschluss hatten führen können, und dass schließlich doch der Druck, der vom Reich ausgeübt worden ist, und die Flucht in die Öffentlichkeit dazu beigetragen haben, dass Preußen sich rascher entschlossen hat und nunmehr zu der Veröffentlichung geschritten ist.

Meine Herren, wie die Sache auch sei, blamabel für Preußen ist und bleibt diese ganze Angelegenheit. Wenn wir auch nach wie vor bei der Auffassung bleiben, dass ein Reichswohnungsgesetz am Platze sei – dass jetzt Preußen wenigstens gezwungen worden ist, einen Wohnungsgesetzentwurf vorzulegen, der selbstverständlich keineswegs allen Anforderungen genügt, sondern sehr starke Kritik verdient, so ist dieser Entwurf doch ein erfreuliches Ergebnis, das sicherlich wesentlich durch den Druck, der vom Reich aus auf Preußen ausgeübt worden ist, erzielt wurde.

Meine Herren, es besteht eine Spannung zwischen Herrn Delbrück und dem Herrn Minister des Innern, wie sie wohl seit langer Zeit innerhalb des preußischen Ministeriums nicht zutage getreten ist. Man kann wohl sprechen von einem Duell ohne Binden und Bandagen zwischen dem Herrn Minister des Innern von Dallwitz und dem Herrn Staatssekretär des Reichsamts des Innern Delbrück. Wer da schließlich auf der Strecke bleiben wird, werden wir ja sehen. Wir sind der Überzeugung, dass die Herren in den Reichsämtern nicht so fest sitzen wie die Herren in den preußischen Ämtern, und so wird wahrscheinlich Herr Delbrück als ein weiteres Opfer der junkerlichen Ministerstürzerei fallen, die sich in diesem Falle mit der Ministerstürzerei des Zentrums paart. In diesem Punkt sind sie ja ein Herz und eine Seele. Es ist charakteristisch, dass die Herren von der Deutschkonservativen Partei auch in der Enteignungsfrage hier in diesem Hause längst nicht so scharfe Worte gefunden haben wie die Herren von der Freikonservativen Partei, wenn sie natürlich auch ihren Ärger ausgedrückt haben, dass das Zentrum sich dort mit offenen und verkappten Reichsfeinden zusammengetan hat.

Meine Herren, so sehen wir, wie die Gegensätze unter den verschiedenen bürgerlichen Parteien, vom Zentrum begonnen bis zu den Deutschkonservativen, zwar sehr stark sind, wie aber doch diese Parteien wiederum in der Gegnerschaft gegen die Reichsregierung im Grunde genommen einig sind und infolgedessen gehört wohl keine große Prophetengabe dazu, um zu sagen, dass das Grab bereits geschaufelt wird, in das dereinstens Herr von Bethmann Hollweg und Herr Delbrück gelegt werden.

Nun, meine Herren, wir können uns nur freuen über die schäumende Wut, die die Aktion des Reichstags in der Enteignungsfrage hier in diesem Hause ausgelöst hat, und über die schäumende Wut der preußischen Fronde über jeden Versuch der Selbständigkeit in der Reichsregierung. Meine Herren, jetzt sind Sie darüber einig: Das Reich soll an die Kette gelegt werden von Preußen. Freilich, das Reich liegt schon an der preußischen Kette; die Kette soll kürzer gemacht werden, möchte ich mich besser ausdrücken. Und dabei machen auch die Herren von der Freikonservativen Partei mit, die sich im Reich Reichspartei nennen; meine Herren, „Reichspartei", die gegen das Reich und seine Selbständigkeit, seinen jetzigen Bestand und sein jetziges Wesen vom preußischen Abgeordnetenhaus aus Sturm läuft! Meine Herren, „Reichspartei", die jetzt, nachdem sie bei dem Reichstagswahlrecht keine guten Geschäfte mehr gemacht hat, lieber das Reich in Scherben schlagen als dulden möchte, dass es auf diesem Wege weitergeht, und am liebsten einen innerpolitischen Konflikt schlimmster Art entfesseln möchte, um auf diese Weise zu erreichen, dass das Deutsche Reich sich immer deutlicher und in alle Ewigkeit nach dem bekannten staatsmännischen Worte als ein verlängertes Preußen enthüllt, mehr noch, als es gegenwärtig der Fall ist.

Meine Herren, die Reichsfeindschaft der Deutschkonservativen Partei war ja seit langer Zeit bekannt. Das Sündenregister, das die Herren in dieser Beziehung auf dem Gewissen haben, ist Ihnen in den „Denkwürdigkeiten" des früheren Reichskanzlers, Fürst von Hohenlohe, aufgemacht worden und inzwischen oft genug bereits auch von der Tribüne dieses Hauses aus. Ihnen ist das Reich ein notwendiges Übel. Das Reich ist dazu da, damit es dafür sorgt, dass der breiten Masse der Bevölkerung die nötigen Mittel abgenommen werden, damit Sie auch bei Ihrer reaktionären inneren Politik in der Lage sind, das aus den Steuergroschen der Reichssteuerzahler genährte deutsche Reichsheer aufrufen zu können zum Schutze Ihrer heiligsten Güter bei Streiks und bei anderen Gelegenheiten.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Nun, meine Herren, das Deutsche Reich ist inzwischen glücklicherweise etwas stärker geworden, als es den Herren von der Rechten lieb ist, und so dürfen wir wohl sagen, dass im Grunde genommen diese ganze Aktion, dieses Theatergedonner, das Sie nun hier wieder vom Stapel gelassen haben, nur Ihre eigene Unsicherheit zeigt und weiter zeigt, dass das Reich anfängt, Ihnen über den Kopf zu wachsen. Das, meine Herren, passt Ihnen natürlich nicht.

Meine Herren, es ist in vielen Zeitungen von der Rede des Herrn Abgeordneten von Kardorff gesagt worden: Wer hätte sich dem Eindruck seiner Ausführungen entziehen können, die doch so deutlich gezeigt hätten, dass sie von einer ehrlichen Weltanschauung getragen seien! Meine Herren, die Ehrlichkeit dieser Weltanschauung in allen Ehren! Es ist richtig: Die Herren sind ehrlich bereit, dafür zu sorgen, dass die breite Masse der Bevölkerung politisch entrechtet bleibt.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Sie verfolgen ganz ehrlich eine Politik, das Volk wirtschaftlich auszubeuten, sozial und politisch zu unterdrücken.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Mit einer anerkennenswerten Ehrlichkeit vertreten Sie diese politische Weltanschauung. Ja, meine Herren, ob es aber gerade eine besondere Ehre ist, nun eine solche brutale Unterdrückungspolitik ehrlich und offen zu vertreten, das möchte ich doch noch dahingestellt sein lassen. Man könnte gerade als Anwalt und Kriminalist versucht sein, allerhand Parallelen zu ziehen und zu fragen, ob solche „Ehrlichkeit" unter allen Umständen ein Vorzug ist oder ob dann und wann nicht anstelle des Wortes „Ehrlichkeit" besser ein anderes Wort gebraucht wird, das das Gegenteil von Scham bedeutet.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich möchte in Bezug auf die Ehrlichkeit der Weltanschauung, die hier zum Ausdruck gekommen ist, hinweisen auf die Rede des Herrn Grafen von der Groeben, die ja für uns den Anlass zu etwas erregten Szenen gab7: Wie Herr Graf von der Groeben in demselben Atem, in dem er Ausnahmegesetze gegen die Sozialdemokratie und ein Arbeitswilligengesetz forderte, auf der Tribüne mit von Tränen erstickter Stimme eine rührselige Rede hielt über die Tränen der armen „Arbeitswilligen", die der Sozialdemokratie zur Last fallen. Diese Tränen des Herrn Grafen von der Groeben und das Lachen, mit dem ein Teil der Herren gestern das Sündenregister aufnahm, das ihnen Herr Wenke vorhielt, diese Unzahl von Ungesetzlichkeiten, die ihnen nachgewiesen worden sind

(Lachen rechts.)

Sie wissen genau, dass das alles die Wahrheit ist, Herr von Pappenheim, trotz Ihres Lachens, Ihr Lachen bestätigt es nur–, dieses Lachen über die eigenen schweren politischen Sünden, über die Politik, die in Preußen getrieben wird, und diese Tränen, die fast vergossen worden sind über die „Arbeitswilligen" in demselben Atem, in dem Sie Ausnahmegesetze fordern, das sind zwei Tatsachen, die man nebeneinanderstellen muss und die eine Charakteristik dieses Hauses bilden, wie sie schöner nicht gedacht werden kann.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Dass einem Menschen, der nicht Fischblut in den Adern hat, bei derartigen Szenen die Galle überläuft, werden Sie nicht verhindern können. Das ist ganz selbstverständlich, und wenn solche Szenen, wie sie vorgestern von dem Herrn Grafen von der Groeben provoziert worden sind, Ihnen nicht lieb sind, so sorgen Sie dafür, dass eine derartige „ehrliche" Weltanschauung, wie sie Herr Graf von der Groeben zum besten gegeben hat, sich nicht an das Tageslicht wagt.

Ich gestatte mir, darauf hinzuweisen, dass die deutsche Sozialdemokratie nicht eine politische Erscheinung darstellt, die auf irgendein quos ego, das ihr aus dem Dreiklassenhause zugerufen wird, verschwinden könnte, denn sie ist eine naturnotwendige Erscheinung. Wollen Sie bezweifeln, dass auf unserer Seite alle guten Geister stehen und dass Sie nur imstande sind, gegen die Sozialdemokratie mit vergifteten Waffen zu kämpfen?

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Wollen Sie behaupten, dass Sie ehrliche Begeisterung für die Interessen der großen Massen der Bevölkerung hegen? Ich brauche nur an Herrn von Heydebrand und an seinen Spott über die Massen des Volkes zu erinnern, ich brauche nur daran zu erinnern, wie gerade in den letzten Tagen wieder in der konservativen Presse, von der „Deutschen Tageszeitung" bis zur „Kreuz-Zeitung" und zur „Post", Spott und Hohn getrieben ist mit der Massenherrschaft, mit der großen, unwissenden, törichten Menge, die keinerlei politische Fähigkeit besitze, sich selbst zu regieren, und deshalb von Ihnen regiert werden müsse.

Alle Ihre Versuche, die Sozialdemokratie zu vernichten, müssen notwendig ergebnislos bleiben. Wenn jemand sich stark fühlt, stark fühlt in seiner Weltanschauung, in seiner Begeisterung, in seiner Politik, wenn er weiß, dass er für wirklich große Ideale kämpft, dann fühlt er sich auch stark genug, um mit geistigen Waffen mit allen anderen Mächten fertig zu werden.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Aber darin – und das ist die „ehrliche Begeisterung", die Herr von Kardorff zur Schau getragen hat, das ist die „ehrliche Begeisterung" des Herrn von Zedlitz und des Herrn Grafen von der Groeben, dieser starken Männer –, dass Sie sich nicht stark genug fühlen, mit der Sozialdemokratie fertig zu werden, dass Sie nach dem Polizeiknüppel rufen, dass Sie um Hilfe rufen bei der gesetzgebenden Gewalt, damit Ausnahmegesetze an die Stelle des Kampfes mit geistigen Mitteln treten –, in diesem Ihrem Schrei nach dem Ausnahmegesetz liegt ein deutliches Eingeständnis der vollkommenen inneren Ohnmacht.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich brauche nicht das berühmte, mit einem etwas unparlamentarischen Ausdruck versehene Wort eines berühmten italienischen Ministers zu zitieren, das sich über die Politik der Ausnahmegesetze auslässt: Wer nur mit Ausnahmegesetzen regieren kann, dessen Herrschaft ist geliefert.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Die „Kreuz-Zeitung" hat gestern die Lehren der Geschichte in ihr Gegenteil umzukehren versucht. Während das Totenglöcklein läutet für alle scharfmacherischen Anschauungen, während das deutsche Volk niemals so wenig wie gegenwärtig geneigt war, sich dergleichen ausnahmegesetzlichen Züchtigungen, eine solche politische Prügelpädagogik von Ihnen gefallen zu lassen, sucht die „Kreuz-Zeitung" nachzuweisen, dass eine rücksichtslose Gewaltpolitik unter Umständen die humanste Politik sei,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

und dass sich bisher noch stets gezeigt habe, dass eine solche brutale rücksichtslose Politik größere Erfolge habe als eine Politik der Nachgiebigkeit.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Das erinnert an die heutigen Ausführungen des Herrn Abgeordneten Hammer

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

der auf einen Zuruf meines Freundes Hoffmann – nachdem er in Bezug auf Treptow8 von einer Annexion gesprochen hatte und mein Freund Hoffmann ihm sagte: nun, sonst sind Sie doch nicht so sehr gegen die Annexion – ausdrücklich erklärte: Nein, sonst bin ich dafür, sonst würde ich kein Preuße sein.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Das ist richtig. Da hat Herr Hammer einmal die Wahrheit gesagt, so, wie vorhin Herr Strosser die Wahrheit gesagt hat, als er zugab, dass die Konservative Partei dann und wann die Sozialdemokraten bei den Wahlen unterstützt habe, wofür ihm freilich alsbald der Kopf gewaschen worden ist von dem Herrn Hauptgewaltigen der Konservativen Partei, der offenbar nicht der Auffassung ist, dass man immer die Wahrheit sagen müsse.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Wie die Sache auch immer liegen mag, die Sozialdemokratie lässt sich nicht ins Bockshorn jagen durch solche Attacken, wie sie hier beliebt worden sind, zumal Ihnen allen das Feuer auf den Nägeln brennt. Es ist wahr, dass Sie alle Veranlassung hätten, mit Rücksicht auf die auswärtigen Gefahren sich etwas mehr an Ihre innenpolitischen Pflichten zu erinnern. Es ist wahr, dass Sie heute und in der nächsten Zeit das ganze deutsche Volk mehr brauchen als das tägliche Brot, und in dieser selben Zeit treiben Sie eine Politik der Provokation und innenpolitischen Verhetzung, die Ihnen selbst so unangenehm sein wird, wie sie der Sozialdemokratie nur angenehm sein kann.

Wenn vorhin die Herren vom Zentrum meinten, dass wir uns vor Reichstagsneuwahlen scheuten, nun, dann dürfen wir beruhigt sagen: Solange die Herren so schöne Reden über die Sozialdemokratie halten, wie wir sie jetzt wieder hier gehört haben, werden alle Gefahren, denen wir etwa unterliegen könnten, von vornherein gebannt sein.

(Zuruf des Abgeordneten Hoffmann)

Es wurde von den Rednern des Zentrums und ebenso auch von einigen anderen Rednern auf den angeblichen Terrorismus der Sozialdemokratie hingewiesen und damit die Forderung nach einem Arbeitswilligengesetz begründet. Das Geschrei nach dem Arbeitswilligengesetz, mit dem die Konservative Partei im Reichstag ein so klägliches Fiasko erlitten hat – im ganzen haben Sie 53 Stimmen dafür bekommen; das Arbeitswilligengesetz hat naturgemäß sehr viel mehr Freunde als diese 53, denn wir sind gewiss, dass auch von der Nationalliberalen Partei eine ganze Menge geneigt sein wird, für ein solches Gesetz zu stimmen –, wird ja immer durch die Behauptung von dem sozialdemokratischen Terrorismus unterstützt. Diese Behauptung werden wir immer wieder mit aller Schärfe zurückweisen, weil es in Wahrheit einen sozialdemokratischen Terrorismus nicht gibt.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten. – Lachen.)

Es sind nun manche Einzelheiten angeführt worden. Ja, meine Herren, dass gelegentlich Terrorismus bei Arbeiterkämpfen vorgekommen ist, darüber wird man nicht im Zweifel sein können. Aber wer war es denn, der diesen Terrorismus geübt hat? Wollen Sie denn behaupten, dass alle die 2000 Verurteilungen, die mit Hilfe einer rücksichtslosen Klassenjustiz im Ruhrkohlenrevier erzielt worden sind

(„Oho!" rechts. – „Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

die mit Hilfe des systematischen Denunziantentums der christlichen Gewerkschaften erzielt worden sind, ausschließlich Sozialdemokraten betroffen hätten? Wenn wir einmal einen Fall von konservativem Boykott hervorheben, dann wird regelmäßig gesagt, das hätte nicht die Konservative Partei gemacht, es sei irgendeine einzelne Person gewesen. Wie wollen Sie nun die Sozialdemokratische Partei verantwortlich machen für Einzelfälle von gelegentlichem Terrorismus, von Ausschreitungen, die einmal vorgekommen sind, wenn die Sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften ständig ihre ganze Mühe darauf verwenden, zu verhindern, dass derartige Ausschreitungen vorkommen!

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Was ist die Ursache für solche etwaigen Ausschreitungen und solchen Terrorismus, über den Sie da jammern? Das ist die Aufregung in der Arbeiterschaft, die hervorgerufen wird durch die ganze Unterdrückungspolitik, die gegen die Arbeiter getrieben wird.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Diese ganze Unterdrückungspolitik, die gerade in den Bergwerksbetrieben den Bergarbeitern gegenüber die allerschlimmste ist, ist nichts anderes als Terrorismus.

Der Herr Abgeordnete Gronowski hat es vorhin fertiggebracht zu sagen, die Sozialdemokratie trüge die Schuld an den Wirkungen des Streiks im Ruhrrevier im vorigen Jahre;

(„Sehr wahr!" im Zentrum.)

die Sozialdemokraten hätten die Arbeiterschaft aufgehetzt. Ich kann behaupten, dass Herr Gronowski genau weiß, wie aufgeregt die Arbeiterschaft im Ruhrgebiet war, wie die Bemühungen auch des alten Bergarbeiterverbandes monate- und monatelang nur darauf gerichtet waren, diese aus den Verhältnissen mit Notwendigkeit herausgewachsene Unzufriedenheit zu dämpfen, und wie es unter verhältnismäßig ungünstigen Umständen zum Streik gekommen ist, nicht, weil es so gewollt war, sondern weil die Aufregung der Bergarbeiter angesichts der rücksichtslosen Unterdrückung ihrer Interessen durch die Bergherren es nicht mehr anders zuließ.

Im Übrigen, meine Herren, sollte der Herr Abgeordnete Gronowski wahrlich über den Bergarbeiterstreik nicht allzu viel sprechen.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

An diesen Bergarbeiterstreik knüpfen sich die traurigsten Erinnerungen

(Abgeordneter Hoffmann: „Sehr richtig!")

für die christliche Gewerkschaftsbewegung. – Herr Trimborn, Sie gehören ja zur Kölner Richtung9, wenn Sie zur Berliner Richtung gehörten, würden Sie wahrscheinlich anders reden. Statt den Kopf zu schütteln, würden Sie dann wahrscheinlich nicken. Denn Ihre Berliner Freunde – wenn man noch so sagen darf, ohne Sie zu verletzen – haben ja, wie Sie wissen, gegen Ihre Organisation, die christliche Gewerkschaftsorganisation im Saarrevier, ein Flugblatt verbreitet, das ein wörtlicher Abdruck eines Flugblattes war, das Ihre christliche Gewerkschaftsorganisation im Frühjahr des vergangenen Jahres gegen den alten Verband verbreitet hatte,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten)

und damit zum Ausdruck gebracht, wie ich Ihnen schon bei anderer Gelegenheit vorgehalten habe, dass, wenn damals die Sozialdemokratie die christlichen Gewerkschaften des Streikbruchs bezichtigt hat, sie im Recht war; denn die christlichen Gewerkschaften haben jetzt die Berliner des Streikbruchs bezichtigt und haben sich von den Berlinern gefallen lassen müssen, mit denselben Flugblättern bekämpft zu werden, mit denen sie damals die sogenannte sozialdemokratische Gewerkschaft zu bekämpfen versucht haben.

Also, meine Herren, es ist, wie mir scheint, wirklich kein Ehrenblatt für Sie. – Aber wie verzweifelt die Situation in diesem Punkte für die christlichen Gewerkschaften liegt, das beweisen ja die Vorgänge im Saarrevier.10 Ich will mich nicht weiter darüber verbreiten. Ich will nur darauf hinweisen, dass, nachdem der alte Verband dokumentarisch nachgewiesen hatte, wie hier ohne jede genügende Veranlassung schließlich die Waffen gestreckt worden sind, die Arbeiterschaft verraten, die Waffengemeinschaft mit dem freien Verbände abgelehnt worden ist, obwohl er sich bedingungslos bereit erklärt hatte, jeden Kampf gemeinsam mit den früheren Verrätern, den christlichen Gewerkschaften, zu führen. Sie wissen, wie von den christlichen Gewerkschaften die sozialdemokratischen Bemühungen, gelinde gesagt, mit Schmutz beworfen worden sind. Ich will nur darauf hinweisen, dass die Herren Imbusch und Genossen, nachdem der freie Verband dargelegt hatte, dass die Nichtbeteiligung der christlichen Gewerkschaften am Streik erfolgte, obwohl durch die Androhung des Streiks nicht der geringste Erfolg erzielt worden war, mit einer geradezu talmudistischen Logik in einer besonderen Nummer ihres Organs zu beweisen versuchen, dass diese Bewegung trotz alledem einen großen Erfolg für die christlichen Gewerkschaften gebracht habe. Man braucht dieses Elaborat der christlichen Gewerkschaften nur durchzulesen, um zu erkennen, in welch verzweifelter Lage sich die christlichen Gewerkschaften im Saarrevier befinden.

Meine Herren, ich möchte mich bei dieser Gelegenheit nicht allzu sehr in Einzelheiten vertiefen, mit denen ich mich noch bei anderer Gelegenheit befassen kann. Aber ich möchte noch auf eins hinweisen. Es war Herr Strosser, der bei seiner jüngsten Rede darauf hinwies, dass die Deutschkonservative Partei alle ihre Kraft einsetzen würde, um den schwarzweißen Preußenadler zu verteidigen. Interessant ist, wie der Herr Abgeordnete Marx dieses Bild aufgegriffen hat und wie er davon sprach, dass man in der Kirche endlich volle Freiheit gewähren möge – womit wir vollkommen einverstanden sind –, damit sie als ein stolzer Adler ihre Schwingen entfalten und gen Himmel fliegen kann. Nun, meine Herren, diese Vergleiche mit dem Adler sind sehr gefährlich. Es empfiehlt sich, dann und wann daran zu denken, dass der Adler nicht nur nach der Legende der König der Vögel ist, sondern auch ein recht gefährliches Raubtier.

Meine Herren, Preußen und das Reich! Diese Frage ist allerdings jetzt aufgeworfen mit einer Rücksichtslosigkeit und Schärfe wie kaum jemals zuvor. Es hat sich herausgestellt, dass zwischen dem Deutschen Reich und dem jetzigen junkerlichen Preußen in der Tat eine vollkommene Inkompatibilität besteht; dieses Preußen und dieses Reich können auf die Dauer nicht nebeneinander bestehen;

(Lachen rechts.)

es heißt nicht mehr: Preußen und Reich, es heißt in der Tat nur noch: Junkerpreußen oder Reich.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Es gibt nur noch eine Alternative: Sie möchten, dass das junkerliche Preußen siegt über das Reich und dass das Reich in Trümmer geht. Wir wollen, dass das Reich siegt und Ihr Junkerpreußen in Trümmer geht,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

ein freies Preußen an seine Stelle tritt und damit das Deutsche Reich, befreit von dem preußischen Joch, endlich aufatmen und dem Wohl des deutschen Volkes dienen könne.

(Lachen rechts).

Dazu brauchen wir ein freies Wahlrecht. Sie wollen uns dieses freie Wahlrecht nicht konzedieren. Herr von Zedlitz möchte sogar das jetzige Wahlrecht noch rückwärts revidieren und die Möglichkeit, dass überhaupt Sozialdemokraten in den Landtag kommen, gänzlich ausschließen. Und der Herr Minister von Dallwitz hat sich dieser Politik, des „nun aber gerade nicht" bekanntlich angeschlossen. Meine Herren, über Sie wird die Weltgeschichte zur Tagesordnung übergehen. Die große Masse der deutschen und der preußischen Bevölkerung, die mündig geworden ist, hat sich entschlossen, ein freies Wahlrecht zu erobern, und wenn Sie auch hundert Mal nach dem Staatsanwalt und der Polizei und nach Ausnahmegesetzen schreien, so demonstrieren Sie damit bloß die ganze innere Hohlheit Ihrer Herrschaft, so beweisen Sie nur, dass Ihre Tage gezählt sind, so zeigen Sie nur, dass es der Masse der deutschen und preußischen Bevölkerung trotz aller Ihrer gewalttätigen Neigungen in absehbarer Zeit möglich sein wird, dass preußische Volk von der Junkerherrschaft zu befreien,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

zu befreien von der Herrschaft der ungekrönten Könige und dafür zu sorgen, dass an Stelle der Ausbeutung, der politischen Unterdrückung, der preußischen Polizeiwirtschaft ein den Interessen des Volkes entsprechender Zustand gesetzt werde. Meine Herren, um dieses Ziel zu erreichen, dazu werden uns Ihre Sünden und Ihre Scharfmachereien die allerbesten Werkzeuge sein.

Ich kann meine Ausführungen nicht besser schließen, als dass ich dem Herrn Abgeordneten von Kardorff und dem Herrn Abgeordneten von Zedlitz noch einmal versichere: Wir danken Ihnen von ganzem Herzen für die schönen Reden, die Sie in den letzten Tagen gehalten haben.

(„Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

Und wenn Sie etwa meinen, meine Herren, dass wir Angst gehabt hätten vor Ihrem Gedröhn – wir können Ihnen sagen, nicht für fünf Pfennig Angst haben wir vor Ihnen und vor all Ihren Drohungen. Wir fassen Ihre Drohungen und Scharfmachereien – da wir die Macht kennen, auf die wir uns stützen können, die Macht der menschlichen Fortentwicklung – viel mehr von der komischen als von der ernsten Seite auf.

(„Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, die Ausführungen des Herrn Abgeordneten von Kardorff haben die Sozialdemokratie nicht zum Erbleichen gebracht, und sie haben keineswegs dazu gedient, die Sozialdemokratie kleinlaut zu machen. Im Gegenteil, die Tatsache, dass die gesamten Debatten dieser drei letzten Tage sich wieder fast ausschließlich um die Sozialdemokratie gedreht haben, diese Tatsache hat wieder einmal deutlich vor aller Welt demonstriert, welche Macht die Sozialdemokratie darstellt, und bewiesen, dass das preußische Abgeordnetenhaus und die Herren Scharfmacher gegenüber der voran reitenden Sozialdemokratie nur die Rolle spielen,

(Lachen rechts.)

die nach jenem bekannten Wort gewisse Tiere spielen, wenn man rasch an ihnen vorüber reitet.

Meine Herren, die Sozialdemokratie ist stark, stärker als Sie denken, und Sie, meine Herren, sind schwach, schwächer als Sie denken, und der Sieg wird auf unserer Seite sein

(Lachen rechts. – „Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

1 Am 25. April 1912 hatte Karl Liebknecht im preußischen Abgeordnetenhaus die reaktionäre Innenpolitik des preußischen Staates scharf angegriffen und dabei auch die engen Beziehungen der preußischen Polizei zum zaristischen Russland gebrandmarkt, das er als „das barbarischste und verächtlichste unter allen Staatswesen in Europa" kennzeichnete. Darauf machte ein anderer Sozialdemokrat den Zwischenruf „Außer Preußen!" In der sich anschließenden erregten Debatte kamen die Sozialdemokraten nicht mehr zum Wort, um auf die Anschuldigungen der reaktionären Parteien zu antworten. Deshalb erschien im „Vorwärts" vom 28. April 1912 ein Artikel unter dem Titel „Eine reaktionäre Affenkomödie", in dem die Argumente der sozialdemokratischen Fraktion dargelegt wurden. Dem verantwortlichen „Vorwärts"-Redakteur Wachs wurde wegen dieses Artikels am 8. November 1912 ein Beleidigungsprozess gemacht. Ein am 23. Mai 1913 durchgeführtes Revisionsverfahren verschärfte die im Urteil erster Instanz ausgesprochene Geldstrafe auf eine Gefängnishaft von sechs Wochen.

2 Es handelt sich um die Zwangsenteignungen polnischer Grundbesitzer auf der Grundlage eines im November 1907 im preußischen Abgeordnetenhaus eingebrachten und am 20. März 1908 von der Regierung beschlossenen „Gesetzes über Maßnahmen zur Stärkung des Deutschtums in den Provinzen Preußen und Posen". Das Enteignungsgesetz beruhte auf dem sogenannten Ansiedlungsgesetz vom 26. April 1886 und seiner Verschärfung im Jahre 1904. Alle diese Gesetze, zu denen 1912 noch das sogenannte Besitzbefestigungsgesetz trat, waren Instrumente der Unterdrückung der nationalen Minderheiten durch den imperialistischen deutschen Staat. Ende 1912 begann die Regierung die ersten Zwangsenteignungen polnischer Besitzer durchzuführen. Diese Aktionen führten am 29. und 30. Januar 1913 zu einer Interpellation der polnischen Fraktion im Reichstag. Die Reichsregierung erklärte frech^ die Enteignung polnischer Gutsbesitzer für die Zwecke der preußischen Ansiedlungskommission fiele in den Bereich der Landesgesetzgebung und ginge deshalb den Reichstag nichts an. Daraufhin nahm die Mehrheit des Deutschen Reichstages einen von der polnischen Fraktion gestellten Misstrauensantrag gegen den Reichskanzler' an, den Bethmann Hollweg jedoch ignorierte.

3 Das Reichsgesetz vom 4. Juli 1872 gegen den Jesuitenorden war eine der ersten scharfen Maßregeln der sogenannten Kulturkampfgesetzgebung, mit der Bismarck versuchte, den Einfluss der katholischen Kirche in Deutschland zurückzudrängen und dadurch die Vormachtstellung des junkerlich-bourgeoisen Militärstaates Preußen im neugeschaffenen Deutschen Reich zu festigen. Das Gesetz verbot den Jesuitenorden und die ihm verwandten Orden für das Reichsgebiet und erzwang die Auflösung ihrer Niederlassungen. Die katholische Zentrumspartei beantragte immer wieder die Aufhebung dieses Gesetzes. In einer Eingabe der bayrischen Bischöfe an den Bundesrat vom 16. Juli 1912 forderte das Zentrum eine authentische Auslegung des Begriffes „verbotene Ordenstätigkeit". Das erfolgte durch den Bundesratsbeschluss vom 28. November 1912: „Verbotene Ordenstätigkeit ist jede priesterliche oder sonstige religiöse Tätigkeit gegenüber anderen sowie die Erteilung von Unterricht." Das Gesetz selbst wurde erst 1917 aufgehoben.

4 Seit 1911 gab es Bestrebungen, die Monopolstellung der Standard Oil Company des amerikanischen Ölkönigs Rockefeller in Deutschland durch ein deutsches staatliches Petroleummonopol zurückzudrängen. Die Reichsregierung brachte im Herbst 1912 einen entsprechenden Gesetzentwurf ein, der am 7. und 9. Dezember 1912 behandelt wurde. Da die mit dem amerikanischen Öltrust verbundenen deutschen Monopole an einem staatlichen Monopol nicht interessiert waren und die sozialdemokratische Fraktion den Entwurf in der vorliegenden Fassung ebenfalls ablehnte, wurde er an eine „Prüfungskommission" abgeschoben. Das Projekt kam nicht zustande.

5 Gemeint ist die Elektrifizierung der Berliner S-, Ring- und Stadtbahn. Die Red.

6 Der konservative Abgeordnete von Oldenburg-Januschau hatte am 29. Januar 1910 im Reichstag gefordert, dass der Kaiser imstande sein müsse, den Reichstag von einem Leutnant und zehn Mann schließen zu lassen. Die Red.

7 Karl Liebknecht hatte die demagogischen Darlegungen von der Groebens am 31. Januar 1913 mehrmals mit dem Zwischenruf: „Schämen Sie sich!" unterbrochen und war deshalb zur Ordnung gerufen worden. Die Red.

8 Gemeint ist die von der Stadt Berlin angestrebte Eingemeindung Treptows. Die Red.

9 Zwischen dem Verband der katholischen Arbeitervereine (Sitz Berlin) – daher Berliner, manchmal auch Breslauer oder Trierer Richtung genannt – und den interkonfessionellen christlichen Gewerkschaften (Kölner Richtung) bestand ein jahrelanger Wettlauf um die Gunst des Papstes. 1912 sprach sich Papst Pius X. in der sogenannten Gewerkschaftsenzyklika zugunsten der Berliner Richtung aus, ohne dass die Rivalitäten zwischen den beiden Organisationen restlos beigelegt werden konnten.

10 Ende 1912 verlangten die Bergarbeiter im Saarrevier außerordentliche Kampfaktionen gegen die Grubenverwaltung. Diese hatte eine verschärfte Arbeitsordnung angekündigt und zeigte keine Bereitschaft, den berechtigten Lohnforderungen der Arbeiter nachzugeben. Angesichts der Kampfbereitschaft der Kumpel sah sich die Leitung des Gewerkvereins christlicher Bergarbeiter (Kölner Richtung) zu dem Versprechen gezwungen, Anfang Januar 1913 den Streik auszurufen, falls die Forderungen der Arbeiter nicht erfüllt würden. Die Unaufrichtigkeit der „Streikentschlossenheit" der Imbusch und Giesberts, der Führer der christlichen Bergarbeitergewerkschaft, äußerte sich unter anderem darin, dass sie die Unterstützungsangebote des sozialdemokratischen Bergarbeiterverbandes zurückwiesen. Die katholischen Arbeitervereine des Saarreviers (Berliner Richtung) lehnten den Streik von Anfang an ab. In einer Delegiertenkonferenz der Saarbergleute am 29. und 30. Dezember 1912 in Saarbrücken setzten die Führer der Kölner und Berliner Richtung gemeinsam gegen den Willen der Kumpel einen „vorübergehenden Waffenstillstand" durch. Damit würgten sie den Streik ab.

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