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Karl Liebknecht 19130418 Preußische Zustände

Karl Liebknecht: Preußische Zustände

Aus der Rede im preußischen Abgeordnetenhaus in der dritten Lesung des Etats des Ministeriums des Innern

[Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, V. Session 1912/13, 10. Bd., Berlin 1913, Sp. 14 537/14 538, 14 569-14 590. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 6, S. 228-257]

In Bezug auf die Haltung der Herren Nationalliberalen zur Wahlrechtsfrage hat ja der Herr Abgeordnete von Gamp – das war das einzig Richtige in der Rede des Herrn Abgeordneten von Gamp – mit Recht darauf hingewiesen, dass die Herren Nationalliberalen selbst über die Frage der Reform in Bezug auf das öffentliche und indirekte Wahlrecht, geschweige denn über andere Reformen, so wenig einig sind, dass sie hier mit einem einmütigen Votum gar nicht auftreten können. Es war sehr interessant zu hören, dass der Herr Abgeordnete von Gamp – und in diesem Falle glaube ich ihm aufs Wort, objektiv genommen natürlich, subjektiv muss man ihm ja überall glauben – uns mitteilte, dass er wisse, dass eine große Menge von Mitgliedern der Nationalliberalen Partei in der Wahlrechtsfrage genau auf demselben Standpunkt stünde wie die Freikonservativen („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.), das heißt also auf demselben Standpunkt einer absoluten Negation jeder wirklichen Wahlrechtsreform, im Gegenteil, der Verschlimmerung des gegenwärtigen Wahlrechts im plutokratischen Sinne, wenn das überhaupt möglich ist. Meine Herren, wir haben das zwar früher bereits gewusst, aber ich halte es für nötig, dieses Zeugnis des Herrn Abgeordneten von Gamp noch ausdrücklich aufzugreifen und dafür zu sorgen, dass es nicht vergessen wird. Wenn wir uns nachher täuschen sollten, wenn die Herren von der Nationalliberalen Partei sich doch wirklich zuverlässiger zeigen sollten bei den Wahlrechts kämpfen, dann wird niemand froher sein als wir, wir begrüßen jeden Bundesgenossen. Wir entnehmen nur aus dem Vorangegangenen und aus dem Gegenwärtigen, dass wir für die Zukunft alle Veranlassung haben, das größte Misstrauen zu hegen („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), sind aber gern bereit, uns beweisen zu lassen, dass unser Misstrauen unbegründet war.

Meine Herren, am charakteristischsten oder, ich möchte sagen, am unterhaltendsten war die Wahlrede des Herrn von Gamp. Er hat offenbar das Abgeordnetenhaus mit dem Steuersenat des Oberverwaltungsgerichts verwechselt („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.), um hier seine Steuerreklamation anzubringen. Er hat das Hohe Haus, das wahrlich so furchtbar viel zu tun hat, eine halbe Stunde mit seinen höchst persönlichen Steuerschmerzen unterhalten. („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten. Zuruf des Abgeordneten Freiherr von Gamp-Massaunen.) Meine Herren, es ist immerhin bemerkenswert – darauf möchte ich hinweisen –, zu welchen scharfen und bösen Verdächtigungen der Berliner Steuerverwaltung der Herr Abgeordnete von Gamp sich hat hinreißen lassen (Abgeordneter Freiherr von Gamp-Massaunen: „Völlig unwahr!"), und zwar, weil in diesem Falle seine durchaus eigenen persönlichen Portemonnaie-Interessen in Frage stehen. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten. Abgeordneter Freiherr von Gamp-Massaunen: „Gar kein persönliches Interesse. Keine Ahnung davon!")

Meine Herren, vergleichen Sie damit die Empörung, die gestern in diesem Hause entstand, als ich mir meine Kritik der deutschen Klassenjustiz gegen die Jugendbewegung gestattete, und vergleichen Sie damit die Tatsache, dass es kein anderer als ein Parteigenosse des Herrn von Gamp, der Herr Abgeordnete von Woyna, war, der in den berühmten beredten Worten seiner ganzen inneren Empörung Ausdruck gegeben hat über die sozialdemokratischen – wie soll ich sagen? – Ausschreitungen und die unerhörten Angriffe gegen die intakte deutsche Justiz. Meine Herren, und das war unter dem Beifall des Hauses geschehen, und ich hatte meine Kritik erhoben aus idealen Gründen (Große Heiterkeit rechts.), erhoben um des Interesses der unterdrückten Bevölkerung willen. Aber Herr von Gamp hat das Recht, wenn es ihm ans Portemonnaie geht, die Behörden zu verdächtigen, wie es ihm passt. (Zuruf bei den Freikonservativen: „Unwahr!")

Wenn die Volksinteressen von Ihnen mit Füßen getreten werden und wir daraus scharfe Angriffe und Vorwürfe herleiten, dann geraten Sie in Feuer, explodieren Sie und wissen nicht genug des Zornes über die Sozialdemokraten auszuschütten, die sich dergleichen erfrechen. Daraus ergibt sich nur das eine, dass Sie an der alten feudalen Staatsauffassung festhalten: Nur das verdient, im Parlament behandelt zu werden, und nur die Interessen verdienen, den Behörden gegenüber geltend gemacht zu werden, die Ihnen, den herrschenden Klassen, am Herzen liegen. Ihre privaten Interessen sind die öffentlichen Interessen. Sie sind der Staat. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Der Staat ist für Sie nicht eine Institution der Volkswohlfahrt und des Allgemeinwohls, sondern auch eine Institution zur Unterhaltung und Vertretung der Interessen einer kleinen Clique der Besitzenden und in der Macht Befindlichen, die Sie hier repräsentieren. (Abgeordneter Dr. von Woyna: „Phrasen!")

Meine Herren, Herr von Gamp hat, abgesehen von dieser seiner Steuerreklamation, doch auch von dem Schutz der Arbeitswilligen gesprochen. Er hätte vielleicht in diesem Zusammenhang besser sprechen können von dem Schutz der Steuerwilligen, und dann hätte Herr von Gamp vielleicht nicht so sehr Subjekt wie Objekt einer entsprechenden Gesetzgebung, die man herausfordern könnte, sein müssen. Herr von Gamp hat vom Willen des Volkes gesprochen, das den Schutz der Arbeitswilligen erfordere. Der Herr Abgeordnete Pachnicke hat demgegenüber gesagt, das sei keineswegs der Fall, das deutsche Volk fordere kein Arbeitswilligengesetz, vergleiche Reichstag. Da ist dem Herrn Abgeordneten Pachnicke der Irrtum unterlaufen, dass er gar nicht gefragt hat, was ist denn das Volk, von dem der Herr Abgeordnete von Gamp gesprochen hat? („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.) Wenn man einmal weiß, was Herr von Gamp unter dem Volke versteht (Abgeordneter Freiherr von Gamp-Massaunen: „Arbeiter!"), dann ist das, was er sagt, ganz richtig. Für Sie gehören eben zum Volk nur die Scharfmacher, die Junker, die Getreidewucherer; alles übrige ist für Sie nicht Volk, sondern ist Plebs, der einfach zu zahlen hat, der politisch unterdrückt wird, keine Rechte hat. Das sind keine Bürger, sondern Untertanen. Staatsbürger, voll berechtigt sind nur Sie. Zum „Volk" gehören nur die, die, wie Herr von Gamp mit Recht gesagt hat, nach einem Arbeitswilligengesetz schreien.

Meine Herren, man muss nur immer den Jargon der Herren richtig verstehen, aus sich selbst heraus beurteilen können, dann wird man sehen, dass sie in sich selbst sehr konsequent und folgerichtig denken. Nur werden die Begriffe anders aufgefasst, als sie der normale Mensch auffasst. „Volk" ist ganz etwas anderes, als was jeder andere darunter versteht; Patriotismus, Vaterlandsliebe, Königstreue, alles das, auch natürlich Gottesglaube, Religiosität, alles das sind so ganz sonderbare, verschrobene Begriffe, wie Sie sie in Ihren Köpfen haben, ganz abweichend von den Begriffen, die man in der Masse des Volkes draußen besitzt. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) So haben Sie Ihre ganz eigenartige Weltanschauung, die man für sich selbst beurteilen muss als eine Rarität, die glücklicherweise bald aufhören wird, eine Gemeingefahr für das Vaterland, für Deutschland zu bilden, wie sie gegenwärtig noch eine Gemeingefahr bildet.

Die „Rotscheu" der preußischen Polizei

Ich möchte jetzt zu meinem eigentlichen Thema übergehen. (Unruhe rechts.) Ich möchte mich nicht befassen – wozu der Anreiz sehr groß wäre – mit dem Herrn Polizeipräsidenten von Jagow und seiner kaninchenhaften Fruchtbarkeit an Polizeiverordnungen („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.), die erst gestern wieder dazu geführt hat, dass drei, ich möchte sagen – ich finde im Moment nicht den richtigen Ausdruck – drei Polizeiverordnungen von ihm „geworfen" worden sind, wenn ich mich mal so ausdrücken darf. („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten. Heiterkeit.) Ich will mich auch nicht mit Missständen der Polizei einzelner Orte, zum Beispiel in Kassel, und den geradezu skandalösen Dingen befassen, die dort in der Presse geschrieben worden sind und die die Spatzen von den Dächern pfeifen, nicht mit dem Polizeikommissar Habe, mit Dingen, die auch in öffentlicher Gerichtsverhandlung den Stempel aufgedrückt bekommen haben und die trotz alledem noch nicht dazu geführt haben, dass von Obrigkeits wegen eingegriffen worden ist.

Ich möchte aber auf eine Polizeitat des Herrn Ministers – darf ich wohl sagen – eingehen, denn hier ist sicherlich der Herr Polizeipräsident von Jagow noch mehr als sonst bloßes Werkzeug in den Händen des Herrn Ministers gewesen.

Sie entsinnen sich, meine Herren, dass vor einiger Zeit der Herr Minister oder der Herr Polizeipräsident – das ist ja dasselbe – die Freie Volksbühne Berlin1 unter die Staatsaufsicht stellte. Damit wurde die Zensur über die Freie Volksbühne verhängt. Aber der Herr Minister, interpelliert, erklärte, er habe damit keineswegs einen unfreundlichen Akt gegen dieses an sich verdienstliche Unternehmen ausüben wollen, sondern nur aus Gründen der juristischen Akkuratesse habe er es mit seinem Gewissen, seinem so außerordentlich präzis geordneten juristischen Gewissen, nicht mehr vereinbaren können, dass dieser Schönheitsfehler bestände, dass gerade diese Organisation als eine geschlossene betrachtet werde, der Zensur nicht unterworfen sei. Inzwischen haben wir ja längst aus der Behandlung des Berliner Volkschors und der Behandlung der Berliner Freien Volksbühne erfahren, dass das natürlich Vorwände waren („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.) und dass es sich, was jedes Kind ja vorher wusste, trotz der Ausflüchte des Herrn Ministers um einen Akt der Unfreundlichkeit handelte gegen eine von der Arbeiterschaft selbst geschaffene Institution. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Besonders pikant ist nun aber der Vorgang vom Karfreitag dieses Jahres. Von der Freien Volksbühne wurde im Verein mit dem Volkschor, den ich eben auch bereits erwähnt habe, eine Karfreitagsaufführung geplant.

Meine Herren, Sie wissen, wie wenig ich in dem üblichen Sinne religiös bin. Ich habe keiner Kirche angehört, und ich glaube, trotz alledem habe ich in meinem Leben vielleicht mehr geistliche Musik gehört als sehr viele von Ihnen und habe eine Freude an dieser Musik, wie wahrscheinlich mancher von Ihnen sie nicht haben wird. Und so geht es natürlich sehr vielen, die durchaus nicht abgestempelt religiös sind. Wir würden es energisch zurückweisen müssen, wenn man denjenigen, die einer kirchlich abgestempelten Religiosität entbehren sollten, etwa verwehren möchte, die Werke unserer unsterblichen Kirchenkomponisten zu genießen. Es ist deshalb etwas durchaus in sich psychologisch Konsequentes, dass die Arbeiterschaft auch, soweit sie sich von der kirchlich-religiösen Weltanschauung losgemacht, losgerissen hat, trotz alledem besonders in den Ostertagen den Wunsch hat, die großen kirchlichen Musikwerke anzuhören. Und so hat denn die Freie Volksbühne im Bunde mit dem Volkschor in der „Neuen Welt" in der Hasenheide ein ernstes Konzert veranstalten wollen.

Es war zunächst geplant, den „Heiligen Franziskus" aufzuführen, das berühmte Oratorium von Edgar Thinel. Die Genehmigung wurde vom Polizeipräsidium Neukölln versagt, weil das Oratorium keine rein geistliche Musik enthalte. (Abgeordneter Hoffmann: „Hört! Hört!") Darauf wurde das Oratorium „Die heilige Elisabeth" von Franz Liszt eingereicht. Auch da kam der Bescheid, dass dieses vielfach in Kirchen und bei Kirchenkongressen aufgeführte Werk keine rein geistliche, sondern fast durchweg weltliche Musik enthalte. (Abgeordneter Hoffmann: „Hört! Hört!") Schließlich wurde dann das Oratorium „Die Seligpreisungen" von Cesar Franck, dem berühmten französischen Komponisten, eingereicht. Diese Aufführung wurde nachher gestattet.

Damit ist jedoch die Sache noch nicht zu Ende, wenn auch das bisher Berichtete natürlich bereits eine genügend gründliche Blamage wäre. Es wurde wegen der beiden ersten Verbote Beschwerde erhoben. Auf diese Beschwerde ist vom Berliner Herrn Polizeipräsidenten folgende Antwort eingegangen: „Anlässlich der Beschwerden, die Sie im Auftrage des Vorstandes der Freien Volksbühne gegen die Verfügung … eingereicht haben" – ich will nur das Wesentliche vorbringen –, „sind Fragen von grundsätzlicher Bedeutung hinsichtlich der Auslegung der Polizeiverordnungen über die Heilighaltung von Sonn- und Feiertagen zur Erörterung gekommen, über welche ich dem Herrn Minister des Innern auf Anordnung berichtet habe." – Also der Herr Minister des Innern ist ganz persönlich für das verantwortlich, was ich jetzt mitzuteilen habe. – „Auf Grund der Entscheidung des Herrn Ministers weise ich nunmehr die eingereichten Beschwerden aus dem Grunde zurück, weil die ,Neue Welt' in der Hasenheide nicht zu denjenigen Lokalen gehört, in welchen nach Paragraph 12 Ziffer 1 der Polizeiverordnung vom 7. Mai 1911 am Karfreitag Vorführungen geistlicher Musik stattfinden dürfen." („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, diese Verfügung des Herrn Polizeipräsidenten ist allein für sich genug Zeugnis von dem Geiste, der in unserem Ministerium des Innern herrscht. Eines Kommentars bedarf es da wohl nicht. Ich darf nur auf das eine noch hinweisen. Aus solchen Rücksichten ernste Musikaufführungen in Berlin verbieten bedeutet nichts anderes, als die Arbeiterschaft überhaupt gewaltsam von der Möglichkeit abzuschließen, sich an diesen Feiertagen ernste und geistliche Musik zu verschaffen. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Auch vom Standpunkt des Herrn Ministers müsste man doch wahrlich diese Maßregel geradezu als eine selbstmörderische Unbegreiflichkeit betrachten. Wenn Sozialdemokraten – will ich einmal annehmen – am Karfreitag geistliche Musik hören, so sollten Sie doch das Vertrauen haben, dass die Beschäftigung mit dieser Kunst dazu beitragen müsse, solche Gesinnungen und Auffassungen zu kräftigen oder zu erzeugen, an denen dem Herrn Minister des Innern so viel gelegen ist.

Nun, meine Herren, die Rotscheu der preußischen Polizei kann kaum mehr übertroffen werden. Offenbar hat der Herr Minister des Innern einen ganz besonderen Respekt vor den Worten „Neue Welt". Die „Neue Welt" hat's ihm offenbar angetan. Er denkt dabei an die sozialdemokratische „Neue Welt", die Zeitung, die ihm sehr unangenehm ist; er denkt daran, dass in diesem Lokal in der Hasenheide vielfach sozialdemokratische Demonstrationsversammlungen stattgefunden haben. Meine Herren, ich glaube, dass man eines weiteren Kommentars nicht bedarf. Der Herr Minister wird ja selbstverständlich die Billigung in diesem Hause finden. Ich trage das auch keineswegs in der Hoffnung vor, hier ein Majoritätsvotum gegen den Herrn Minister des Innern provozieren zu können. Ich trage es nur vor, weil ich mich darauf freue zu hören, dass natürlich die Mitglieder aller Parteien mit dem Herrn Minister ein Herz und eine Seele sind. Ich trage es nur vor, um die Verantwortlichkeit, die in diesem Moment vor allen kulturell gesinnten Elementen in Deutschland der Herr Minister mit dem Herrn von Jagow allein trägt, auch auf Sie, auf die Mehrheit dieses Hauses, noch auszudehnen („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.), damit es uns ein weiteres Kampfmittel gegen Sie sei.

Die Scharfmacherpolitik des Bauherrenverbandes

Ich möchte mich nun noch mit einigen Worten mit dem Herrn Abgeordneten von Wenden befassen. Herr von Wenden hat gestern seine Schmerzen einmal gegen die damalige Führung des Präsidiums dieses Hohen Hauses und sodann gegen die Ausführungen meines Freundes Hirsch in Bezug auf den Bauherrenverband entladen. Meine Herren, ob diese Entladung sonderlich geschickt war, darüber werden vielleicht die Meinungen geteilt sein.

Herr von Wenden hat sich zunächst einmal mit den Ausführungen meines Freundes Hirsch über den Reichsverband2 beschäftigt. Er hat ausschließlich zur Grundlage seiner Erwiderung jenes bekannte Brandenburger Urteil3 gemacht und hat aus diesem Urteil nur den einen Satz zitiert: „Es ist nicht erwiesen, dass er wider besseres Wissen gehandelt hat, aber er ist nicht von dem Vorwurf zu befreien, dass er die Vorsicht, die ein großer Verband anwenden muss, wenn er eine Broschüre veröffentlicht, außer acht gelassen hat."

Herr von Wenden hat gemeint, dass sei der Wesentlichste und für den Reichsverband blamabelste Satz in dem Zitat meines Freundes Hirsch. Er hat aber gerade denjenigen Satz zitiert, der eine Einwendung des Urteils bedeutet zugunsten des Reichsverbandes und hat die ersten Sätze weggelassen. Da steht: „Dabei hat sich herausgestellt auf Seiten des Reichsverbandes, dass er häufig Formen wählt im Kampf, die man objektiv nicht billigen kann." („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) „Er hat grobe Verbalinjurien gebraucht und nicht erwiesene schwere Vorwürfe." („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) „Den sozialdemokratischen Führern sind Motive unterstellt, wofür absolut kein Beweis vorhanden ist." („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) „Dann ist auch nachgewiesen, dass der Reichsverband in einem Teil seiner Veröffentlichungen Entstellungen und falsche Tatsachen gebracht hat." („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Das sind die wesentlichen Sachen, die hat mein Freund Hirsch vorgelesen. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Davon hat Herr von Wenden kein Wörtchen gesagt. Er war klug, er dachte, damit wirst du doch nicht fertig.

Schließlich hat er von fünf Punkten, die dem Urteil des Brandenburger Gerichts unterlegen waren, sehr wohlweislich wieder nur einen herausgegriffen – in der Beschränkung, meine Herren, zeigt sich der Meister! –, und zwar hat er nur den einen, vielleicht unrichtigsten Punkt herausgegriffen: „Religion ist Privatsache, das heißt Nebensache."4 (Zuruf des Abgeordneten von Wenden: „Dem ,Vorwärts' ist ja meine Rede schon zu lang gewesen!") – Herr von Wenden, ich beschäftige mich doch mit Ihnen nicht etwa, damit Sie nochmals eine Rede halten, sondern der Zweck meiner Ausführungen ist der, um aus Ihrer Rede dasjenige Kapital zu schlagen, das in unserem Interesse daraus geschlagen werden kann. Das ist die Aufgabe („Sehr richtig!" rechts.), die ich in diesem Moment zu erfüllen habe. Herr von Wenden hat mit seinen Ausführungen über den Reichsverband deutlich bewiesen, in welcher peinlichen Verlegenheit er sich befand, als er, der offenbar ein Mitglied des Reichsverbandes ist, den man hier nicht bei seinem Namen nennen darf, und der nun offenbar den Auftrag gehabt hat, diesen Verband hier aus dem Sumpfe herauszuziehen, hier seine Ausführungen machte. Aber ich glaube, es ist ihm nicht gelungen. Ich glaube, es ist ihm das Malheur passiert, dass er mit in den Sumpf hineingefallen ist. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten. Heiterkeit rechts.)

Mit dem Bauherrenverband hat Herr Abgeordneter von Wenden sich die Sache gleichfalls sehr leicht gemacht. Mein Freund Hirsch hat ihm gestern ja bereits das Wesentlichste entgegnet. Es handelt sich für uns in der Hauptsache ja nur darum: Ist dieser Bauherrenverband ein Scharfmacherverband im ausgeprägtesten Sinne des Wortes, das heißt, ist er ein Arbeitgeberverband zum Zwecke der Terrorisierung jeder Freiheitsbewegung in der Arbeiterklasse? Und: Ist er ein Arbeitgeberverband zum Zwecke der Terrorisierung auch aller derjenigen Arbeitgeber, die nicht nach dem Willen seiner Mitglieder tanzen? („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Gegen die Richtigkeit dieser beiden Tatsachen, die mein Freund Hirsch bewiesen hat, so sicher, wie man nur einen mathematischen Beweis führen kann, hat Herr Abgeordneter von Wenden nicht die Spur eines Gegenbeweises versucht. Er hat nichts weiter unternommen, als sozusagen eine Retourkutsche gegen die Sozialdemokratie anzuschirren; hat der Sozialdemokratie den berühmten Vorwurf des Terrorismus gemacht.

Meine Herren, Herr Abgeordneter von Wenden hat mir gestern, als er diese seine Rede hielt, aufrichtig leid getan. (Heiterkeit rechts.) Er hatte da ein so unglückseliges, geringfügiges, lächerlich dürres Material in den Händen (Abgeordneter von Wenden: „119 Urteile!"), um den Terrorismus der Sozialdemokratie zu beweisen. Er hat ein paar Bogen Papier aus der Fabrik des Reichsverbandes zutage gefördert und hat aus dieser Broschüre seine Weisheit vorgetragen. Wir könnten dem Herrn Abgeordneten von Wenden, wenn er uns darum bittet, noch 200, auch 500, sogar noch 1000 Urteile geben, die ganz ähnlich sind wie die dort abgedruckten. („Hört! Hört!" rechts.)

Mich wundert, Herr von Wenden, dass Sie die rund 1000 berühmten Urteile vergessen haben, die im Ruhrrevier anlässlich des letzten Streiks ergangen sind; das ist doch der schlagendste Nachweis für den Terrorismus der Sozialdemokratie. („Sehr gut!" und Lachen bei den Sozialdemokraten.) Was wollen dagegen die armseligen 119 Urteile und was Sie uns sonst gestern alles vorgeführt haben, besagen.

Herr von Wenden, wir haben Ihnen gestern zugerufen: Wir haben mehr Material. Wir wollten Ihnen zu Hilfe kommen, weil Sie uns leid taten. Nun, Herr von Wenden, ich muss Ihnen das eine sagen: Gerichtsurteile gegen die organisierte Arbeiterschaft, die mit heftigen Worten gespickt sind, die alles andere beweisen, nur keine Unparteilichkeit der Richter gegenüber der Arbeiterbewegung (Abgeordneter Dr. von Woyna: „Oho!") – ach, Herr von Woyna, denken Sie nur an Herrn von Gamp und das, was er hier von Berlin gesagt hat –, könnten wir Ihnen natürlich in Massen vorführen.

Wenn Herr von Wenden, als er gestern ein Urteil zitierte, gelegentlich in den begleitenden Text der Reichsverbandsbroschüre hinüber rutschte („Hört! Hört!" und Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.), so hat er damit freilich diesen Reichsverbandsschimpfereien einen Nimbus verliehen, den sie doch wohl nicht verdienen.

Aber, meine Herren, es gibt viele solcher Urteile, und wir haben sie oft genug bloßgestellt. Ist es ein Wunder, dass im heutigen Klassenstaat die Klassenjustiz Urteile gegen streikende Arbeiter in Hülle und Fülle aufweisen kann? Und wenn Sie zwanzig mal soviel Urteile hier beibringen könnten, gefällt von dieser Klassenjustiz, sie würden nicht eine Spur mehr beweisen, dass das richtig ist, was Sie gesagt haben.

Für uns liegt die Sache so: Wenn wir ein Urteil unserer Gerichtshöfe – das möchte ich auch Herrn von Woyna sagen – produzieren können, das den Anschauungen der Sozialdemokratie oder der sonstigen Arbeiterorganisationen recht gibt, dann ist dieses Urteil für uns allerdings in weitem Umfange eine Autorität, und zwar um deswillen, meine Herren, weil dieses Urteil dann gefällt ist nicht unter dem Einfluss irgendwelcher Klassenvorurteile, sondern nach schweren inneren Kämpfen der Richter, die sich in ihrer Gewissenhaftigkeit schließlich mühselig dazu gezwungen gefühlt haben, ihre Klassenvorurteile zu überwinden. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, mit Rücksicht auf diese besondere psychologische Grundlage haben wir ein Recht, solche Urteile für uns ins Treffen zu führen, aber Urteile derselben Richter, die sich gegen uns richten, abzuweisen, als aus Klassenvorurteilen hervorgegangen. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, wenn Sie diese unsere Auffassung nicht in ihrer Folgerichtigkeit vorstehen, so ist das nur ein Beweis dafür, dass Ihnen jedes soziologische Verständnis fehlt. (Heiterkeit rechts.) Ein Urteil, das unter Überwindung von Klassenvorurteilen, die notwendig vorhanden sind, gewonnen wird, ist natürlich ein kritisch ganz anders gesichtetes und bei weitem mehr der objektiven Wahrheit angenähertes, als ein Urteil, das mit dem Strome der Klassenvorurteile schwimmt, die in den Richtern lebendig sind. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Also, mit allen diesen Geschichten sind Sie nicht imstande, uns auch nur eine Spur unserer Sicherheit und Festigkeit zu nehmen.

Meine Herren, Herr Abgeordneter von Wenden hat schließlich meinem Freunde Hirsch Schmähworte angesonnen, die er gebraucht haben soll. Er hat dann schließlich als Schmähworte eine Anzahl von Ausdrücken meines Freundes Hirsch aufgezählt, die hier in diesem Hause Gang und Gäbe sind. (Lachen rechts. Zuruf: „So?") – Aber gewiss, meine Herren, Sie selbst gebrauchen sie doch fortgesetzt! (Widerspruch.) – Aber selbstverständlich gebrauchen Sie sie. Lesen Sie nur mal unseren Geschäftsordnungskommentar, welches Sammelsurium von Schimpfworten hier in diesem Hause gebraucht worden ist, ehe wir dagewesen sind!

Und dann vor allen Dingen, meine Herren, wir haben doch heute den Etat des Ministers des Innern. Ich möchte wissen, ob hier einmal eine so mit kräftigsten – ich will einmal sagen – Scheltworten, ich könnte auch sagen Schimpfworten, gesättigte, konzentrierte Lösung von Schimpfereien produziert worden ist, wie sie der Herr Minister des Innern gegen diejenigen Beamten produziert hat, die etwa sozialdemokratisch wählen sollten. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Das war ja doch geradezu ein Schnellfeuer von gröbstem Kaliber, was da unter Ihrem stürmischen Beifall herauskam. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, das war Ihnen natürlich nach dem Herzen. – Ach, kommen Sie uns nicht! Mit Ihnen werden wir immer noch fertig. (Heiterkeit.)

Wenn Sie aber im Übrigen etwas von Terrorismus wissen wollen und etwas Wahres darüber wissen wollen, dann empfehle ich Ihnen diese wunderschöne Schrift – ich glaube, wir legen sie am besten auf den Tisch des Hauses nieder, damit die Herren dann auch eine gewisse Verpflichtung haben, sie kennenzulernen.

im Übrigen, um den Bauherrenverband zu kennzeichnen, möchte ich Ihnen noch einen Brief des Pommerschen Bauherrenverbandes vom 5. März dieses Jahres vorlesen, in welchem es heißt: „Ew. Hochwohlgeboren! Nicht vorhersehbare Umstände haben die erste Besprechung in Stralsund über die Ziele unseres Verbandes nicht zu dem Ergebnis führen lassen, das besonders im Hinblick auf die an anderen Orten gemachten Erfahrungen erwartet werden konnte. Es ist daher zum Dienstag, den 11. März, 1Uhr, in Stralsund, Hotel Goldner Löwe, eine Zusammenkunft angesetzt. Die Vorverhandlungen zu den neuen Tarifverträgen – die alten laufen bekanntlich am 31. März ab – nehmen nach den Pressemeldungen einen immer günstigeren Verlauf, so dass mit ziemlicher Sicherheit der Ausbruch eines großen Streiks im Bauhandwerk vom 1. April dieses Jahres ab zu erwarten ist. Bis dahin muss der Pommersche Bauherrenverband gerüstet dastehen. Ich lade ein usw." Meine Herren, haben Sie nicht gehört, was ich Ihnen eben vorgelesen habe? Ich vermisse Ihre Entrüstung darüber. (Unruhe und Zurufe rechts.) Meine Herren, ich will es noch einmal wiederholen; vielleicht passen Sie jetzt auf. (Zurufe rechts.) „Die Vorverhandlungen zu den neuen Tarifverträgen" – Hören Sie bitte, Herr von Wenden, Sie sollten ein bisschen gewissenhaft achtgeben in diesem Moment. (Abgeordneter von Wenden: „Was?") – Sie haben doch von dem Bauherrenverband gesprochen; bitte, passen Sie auf. (Lachen rechts.) „Die Vorverhandlungen zu den neuen Tarifverträgen nehmen nach den Pressemeldungen einen immer günstigeren Verlauf" („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) – nun hören Sie weiter hin –, „so dass mit ziemlicher Sicherheit der Ausbruch eines großen Streiks zu erwarten ist." („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Also, meine Herren, die Leitung dieses Verbandes hat die unerhörte Frivolität (Lachen rechts.), den Ausbruch eines großen Bauarbeiterstreiks als einen günstigen Verlauf hinzustellen. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Daraus geht hervor, dass dieser Verband systematisch auf den Ausbruch dieses Streiks hingearbeitet hat („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten. Abgeordneter Strosser-Breslau: „Das tun Sie ja immer!") und dass er eine gemeingefährliche Arbeitgeberorganisation ist, die gar nicht genug vor aller Öffentlichkeit gebrandmarkt werden kann.

Meine Herren, eine patriotische Organisation, das ist natürlich sicher! In diesem Bauherrenverband werden ein paar hundert Bauherren vereinigt sein, und es kommen dabei ein paar zehntausend oder hunderttausend Arbeiter, wenn nicht mehr, in Betracht. Und diese Arbeiter, diese Volksgenossen durch die patriotischen Arbeitgeber brotlos zu machen, das können Sie mit Ihrer patriotischen Ehre vereinbaren! Das scheint Ihnen eine patriotische Ruhmestat! („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, ich meine wahrhaftig, dass der Stab über diesen Verband, aber damit auch über Herrn von Wenden und über alle die gebrochen ist, die ihm Beifall gerufen haben, über alle die – das möchte ich noch besonders betonen –, die, als ich eben diese unerhörte Frivolität vorgetragen habe, noch ihre Freude und ihre Zustimmung zu dem Verhalten des Bauherrenverbandes ausgedrückt haben. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, ich konstatiere, dass die rechten Parteien dieses Hauses dieses frivole Vorgehen des Bauherrenverbandes, das auf den Streik, auf die Brotlosmachung einer ungeheuren Zahl von Bauarbeitern hinausgeht, ausdrücklich und deutlich gebilligt haben. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Sie haben sich solidarisch erklärt, Sie tragen die Verantwortung mit für eine solche Scharfmacherpolitik! – Herr von Pappenheim, Sie scheinen ja in der Tat gewisse besondere Fähigkeiten zur Akrobatik zu besitzen. (Lachen rechts. Abgeordneter Hoffmann: „Zur Gesichtsmuskelverzerrung!") – Nein, davon spreche ich nicht, sondern zu gewissen Handbewegungen. Offenbar wollte Herr von Pappenheim andeuten, dass er Jongleurfähigkeiten besitzt, aber ich weiß nicht, ob das Abgeordnetenhaus der geeignete Ort ist, um solche Demonstrationen zu veranstalten.

Es kommt in diesem Schreiben des Bauherrenverbandes eine große innere Rohheit zutage („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), und zwar eine Rohheit gegen die eigenen Volksgenossen, meine Herren, gegen die eigenen Volksgenossen!

Nun vergleiche man damit die ungeheure Entrüstung, die wir hier in diesem Haus und im Reichstag von den Vertretern der großen Parteien dieses Hauses über die Ausschreitungen einiger unverantwortlicher, angetrunkener Leute in Nancy5 gehört haben. (Lachen und Zurufe rechts.) – Da freue ich mich. Sehen Sie, meine Herren, meine Prophezeiung ist eingetroffen, jetzt haben Sie auch plötzlich Verständnis dafür. (Große Unruhe rechts. Lebhafte Zurufe.)

Meine Herren, ich werde an anderer Stelle hoffentlich Gelegenheit haben, einmal die Presstreibereien, die in diesem Fall ja so eklatant allerhand sehr wenig anständige Hintergedanken gezeigt haben, zu enthüllen. Das Material darüber haben wir glücklich im Besitz. (Lachen und Zurufe rechts.) – Meine Herren, wir kommen schon noch dazu. Sie werden dabei nicht zu kurz kommen, Herr Abgeordneter Strosser, wir freuen uns ganz besonders darauf. (Lachen rechts.)

Die Militaristen fürchten den Frieden

Nun möchte ich Sie aber, damit Sie ein Pendant dazu haben – ich entschuldige natürlich die französischen Radaubrüder nicht, mich amüsiert nur der Radau, den Sie (nach rechts) in diesem Haus machen –, abgesehen von dem Beispiel des Pommerschen Bauherrenverbandes, der zeigt, welches Recht zur sittlichen Entrüstung Sie über Rohheiten von Ausländern haben, daran erinnern, was ich bereits neulich erwähnte: an das Verhalten der Göttinger Studentenschaft gegenüber dem Engländer – mit England sind wir ja jetzt sehr befreundet – gegenüber dem Engländer Norman Angell6, der dort über den europäischen Frieden und über sein bekanntes Buch reden wollte. Ich habe Ihnen neulich vorgetragen, wie sich da die Göttinger Studentenschaft betragen hat. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Ich kann sagen, dass man den Engländer dort in flegelhafter Weise in einer Demonstrationsversammlung behandelt hat.

Aber das ist für mich nicht das Wesentlichste. Ich habe hier vor mir den „Allgemeinen Anzeiger", Erfurt, vom 16. dieses Monats, ein Blatt, das in 150.000 Exemplaren erscheint und in Ihrem (nach rechts) Fahrwasser segelt. Darin steht unter anderem folgendes: „Der französische Sozialdemokrat7 wollte in Magdeburg nicht die Versöhnung der französischen Nation mit der deutschen fördern oder besiegeln, ohne vorerst einmal im Auftrag der sozialdemokratischen Parteileitung Deutschlands die deutsche Wehrvorlage schlechtzumachen und das Volk gegen sie aufzuhetzen." (Zurufe rechts.) – Meine Herren, hören Sie weiter zu! – „Er sollte mit hohem Respekt vom deutschen Volke sprechen, denn ihm ist, als er an dem geplanten Missbrauch des Gastrechts gehindert wurde, kein Haar gekrümmt worden, er konnte unbeleidigt und unberührt wieder nach Hause fahren. Dem alten Liebknecht war es vor Jahren auf einer ähnlichen Geschäftsreise in Frankreich etwas schlimmer ergangen: Er musste auf ein Schiff flüchten, um den Fäusten der französischen Patrioten zu entgehen." Jetzt kommt der schönste Satz dieses patriotischen „Allgemeinen Anzeigers", Erfurt: „Und wenn es heute dem als fanatischen Antimilitaristen bekannten jungen Liebknecht auf einer Agitationsreise in Frankreich einmal ebenso erginge, würde das ganze vaterländisch gesinnte deutsche Volk den Franzosen Dank dafür sagen", („Sehr richtig!" rechts.) – „Sehr richtig!", meine Herren, es ist „sehr richtig" gerufen worden! Ausgezeichnet! Ich hatte mir einen solchen Erfolg nicht versprochen – „und in der Ausweisung des Volksverhetzers ein Symptom des Friedens zwischen zwei Völkern erblicken."

Meine Herren, etwas Schöneres kann ich mir in der Tat gar nicht vorstellen, als hier in diesem Hause bestätigt zu hören, dass diese Prophezeiung des „Allgemeinen Anzeigers", Erfurt, in der Tat ins Schwarze trifft.

Also wenn die deutschen Sozialdemokraten im Ausland misshandelt werden würden, dann würde kein Hahn danach krähen, dann würden Sie (nach rechts) sich freuen. (Zurufe rechts.) Aber wenn es sich darum handelt, dass am Ende friedliche Zustände in Europa eintreten könnten bevor die Militärvorlage, an der man soviel Geld verdienen möchte, unter Dach und Fach ist. (Große Unruhe. Rufe: „Pfui!", „Gemeinheit!") So ist es, meine Herren. (Erneute große Unruhe. Rufe: „Unerhört!", „Pfui!") Und wenn Sie hundertmal mehr schreien, wir kennen unseren Pappenheim, wir kennen unsere Pappenheimer, wir kennen unsere Zedlitze und alles, was dazu gehört (Lebhafte Zurufe und erneute große Unruhe.), meine Herren, ja, dann muss Skandal gemacht werden, damit ja der befürchtete Friede nicht gar so rasch eintritt, damit der notwendige Lärm für die Militärvorlage noch vorhanden ist. (Zurufe rechts.) – Ja, Sie haben Angst vor dem Frieden, das ist die Sache.

Über Magdeburg spreche ich nicht mehr, schon um deswillen, weil es uns bereits gelungen ist, den Minister durch seine eigenen Worte genügend festzunageln und bloßzustellen, so schön, wie wir es uns nicht besser hätten wünschen können. im Übrigen ist ja bereits das Erforderliche gesagt und das Urteil gefällt und rechtskräftig geworden über diese Magdeburger Sache bei allen denen, die überhaupt urteilsfähig sind.

Wenn wir betrachten, wie es uns gelingt, Sie herauszulocken, wie Sie sich vorgestern in allerdings unbegreiflicher Unklugheit diesen furchtbaren Hereinfall geholt haben, so dass Sie schließlich wie die begossenen Pudel dagesessen haben, dann muss man sagen, es gibt kaum begeistertere Totengräber in der ganzen Welt. Es ist eine gute Ernte, die wir bei solchen Debatten machen.

Preußen – Dorado der Spitzel

Ich habe aber mit dem Herrn Minister über etwas anderes zu sprechen, was mir bedeutsam zu sein scheint. Ich möchte mich mit dem Herrn Minister über eine Sache unterhalten, die ein vollkommenes Gegenstück bildet zu der Ausweisung unseres Freundes Compère-Morel, eines anständigen und den Weltfrieden anstrebenden, solidarisch mit der großen Masse des deutschen Volkes auf eine Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland hinarbeitenden französischen Parlamentariers. Eine solche Ausweisung erscheint Ihnen (nach rechts) als eine Selbstverständlichkeit, und sogar der Herr Reichskanzler bemüht sich, seine Überzeugung von der Zweckmäßigkeit dieses Vorgehens in unbegreiflicher Verblendung auszusprechen. Aber das Kehrstück dieser Behandlung anständiger Menschen ist die Behandlung unanständiger Menschen, nämlich der Spitzel.

Die Spitzel haben in Preußen ihr Dorado. Außer Russland gibt es sicher kein Land, wo die Spitzel so sehr überzeugt sein können, dass ihre Milch und ihr Honig fließen, wie gerade in Preußen, und Herr von Dallwitz scheint besonders die Sonne seiner Gnade über diesen so außerordentlich nützlichen Gewächsen der menschlichen Gesellschaft leuchten zu lassen. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Die Spitzelei ist sehr ins Kraut geschossen, besonders unter Herrn von Dallwitz und Herrn von Jagow. (Abgeordneter Hoffmann: „Aber auch die dümmsten Spitzel!")

Wir haben vor kurzem wieder das Vergnügen gehabt, einen Herrn Bruhns zu entdecken, zu erwischen, zu photographieren und festzunageln, einen Mann, der sich unter der Maske eines Sozialdemokraten in unseren Wahlverein eingeschlichen und dort das Vertrauen zu erwecken gesucht hat und der dann schließlich, nachdem er entdeckt war, natürlich unter die Fittiche der christlichen Nächstenliebe der Polizei genommen worden ist, so dass es nicht möglich war, ihm weiter nachzusteigen.

Die Spitzel, auch dieser Herr Bruhns, sind zu ihrem Vorgehen nicht angestiftet aus sich selbst heraus. Es sind doch die Vorgesetzten, die die Spitzel anweisen und ihr Tun veranlassen. Wir haben eine Bestimmung in unserem Strafgesetzbuch, wonach der Anstifter gleich dem Täter zu behandeln und zu beurteilen ist. Daraus ergibt sich, dass, solange eine derartige Spitzelwirtschaft in unserer preußischen Polizei geduldet und veranlasst wird, der Herr Minister es sich gefallen lassen muss, dass wir ihm dieselbe Hochachtung entgegenbringen, die wir den Spitzelgentlemen entgegenbringen, denn er als Anstifter ist verantwortlich für alle diese Gentlemen. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten. Lebhafte Rufe rechts: „Unerhört!". Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident Dr. Krause: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, ich rufe Sie wegen dieser unerhörten Beleidigung zur Ordnung.

Liebknecht: Gut, ich habe gefehlt. Dann ergibt sich daraus, dass offenbar im Ressort des Ministeriums des Innern alles drunter und drüber geht, dann ergibt sich daraus, dass der Wille des Ministers nicht ausgeführt wird, denn wenn sein Wille ausgeführt wird, ist auch die Spitzelei sein Wille, und damit ist er verantwortlich für sie.

Wir werden es uns nicht nehmen lassen, jederzeit, entsprechend dieser ausgeübten, in die Tat umgesetzten Polizeimoral, die in unserer preußischen Polizei herrscht, jeden Polizeispitzel als einen Repräsentanten des Herrn von Dallwitz, des Ministers des Innern, zu betrachten. (Abgeordneter Hammer: „Kaltwasseranstalt!") – Das geht Ihnen wohl sehr nahe! Ich möchte Sie aus ästhetischem Interesse daran erinnern: Wir hatten vorhin einen kleinen Disput über den guten Ton. Vergessen Sie nicht, meine Herren, was Sie eben aus dem Munde Ihres allbeliebten stolzen Herrn Hammer gehört haben; man muss immer das Gesamtbild im Kopf haben.

Verfolgung der Jugendbewegung

Die Jugendbewegung des Proletariats hat im Vordergrund einer längeren Debatte in diesem Haus gestanden. Sehr drollig mutet es an, dass, nachdem mein Freund Hirsch in seiner Rede den berühmten Artikel jenes Lehrers über das sozialdemokratische Liederbuch in seiner ganzen Nichtigkeit und Unwahrhaftigkeit dargetan hat, ein Freund von den Herren von der Rechten, der Herr Mumm, gestern im Reichstag auftrat und alle diese ollen, längst widerlegten Kamellen vorgetragen hat als funkelnagelneue Weisheit. Daraus geht hervor – er hat es wohl aus einem Flugblatt verlesen –, dass diese Lügen weiter von Ihnen verbreitet werden, obwohl sie längst als Lügen dargetan sind. Aber Sie können versichert sein, wir sind an solche Taktik gewöhnt und wissen, dass sie uns nicht schadet. Deswegen quittieren wir einfach darüber. Dass die preußische Jugend von Ihnen und der preußischen Regierung als Freiwild betrachtet wird, dass Ihnen zur Beute zu fallen hat, um deren Seele Sie kämpfen, indem Sie den Eltern die eigenen Kinder zu entreißen suchen, darüber hat man oft genug gesprochen. Ich will nur auf einige Dinge eingehen.

Ich habe öfter davon gesprochen, wie systematisch man die Radfahr-, Turn- und dergleichen Arbeitervereine in Preußen verfolgt. Die Verfolgung geschieht auf Anweisung des Ministers des Innern: Ich bitte ihn, es zu bestreiten, wenn er es bestreiten kann. Dass es auf Anweisung der Zentralbehörde geschieht, ergibt die Tatsache, dass aus allen Ecken und Enden Preußens, Osten, Süden, Norden, Westen, überall die gleichartigen Klagen kommen.

Verwaltungs- und Strafbehörden gehen in gleicher Weise vor und benutzen dabei Formulare. Was besonders charakteristisch ist und gleichzeitig ein Licht wirft auf den Grund für diese Verfolgung, ist die Tatsache, dass in diesen Formularen vorgedruckt ist, dass Jugendliche Mitglieder dieser Organisationen seien. Dieser Kampf gegen diese Vereine ist hauptsächlich der Tatsache zu verdanken, dass die Jugend aus diesen Arbeitersportorganisationen heraus gejagt werden soll, damit sie Ihnen als Beute für Ihre Jugendfangbestrebungen hingeworfen werde. Nun, meine Herren, auch das ist uns ja nichts Neues. Es kommt nur immer eins zum andern. Sie bauen Ihr System weiter aus. Sie werden damit den gewünschten Erfolg aber nicht erzielen.

Eine besonders interessante Tatsache ist, in welch unerhört rücksichtsloser Weise die Berliner Polizeiverwaltung ihres Amtes waltet. Mein Freund Hirsch hat ja schon darauf hingewiesen, dass die Berliner Polizei unter der Maske der Baupolizei den Arbeiterjugendheimen die größten Schwierigkeiten schikanöser, kleinlicher Art bereitet, während doch zugleich Herr von Jagow der Vorsitzende oder ein hervorragendes Mitglied eines Vereins ist, der ein bürgerliches Jugendheim zur Bekämpfung der Sozialdemokratie schaffen soll.

Der Herr Minister des Innern hat auf diese schweren Angriffe kein Wort der Entgegnung gefunden. Er kann das ja auch nicht; denn es ist alles wahr. Wir registrieren nur, dass der Herr Minister, indem er kein Wort der Entgegnung oder der Abschwächung zu finden gewusst hat, damit bestätigt hat, dass er gegen die Richtigkeit dieser Angriffe nicht nur nichts sagen kann, sondern dass er diese Angriffe auch so leicht hinnimmt, dass er diese Dinge nicht einmal mit dem nötigen tiefen Ernst betrachtet, den die Sache erfordern sollte.

Meine Herren, wenn man bedenkt, wie skrupulös und gewissenhaft der Herr Minister in seinem juristischen Gewissen war, als es sich darum handelte, die Freie Volksbühne der Zensur zu unterstellen, dann muss man sich um so mehr darüber wundern, dass er in dieser Angelegenheit hier einfach schweigt. Vielleicht wird er noch etwas sagen, vielleicht werden wir eine Ausflucht von ihm zu hören bekommen. An der Tatsache kann aber nichts geändert werden. Die Polizei ist natürlich klug genug, über ihre Motive möglichst zu schweigen, und Gründe finden sich natürlich immer.

Nun aber etwas anderes. Es gehört ja eins zum andern. Am 28. Februar fand in Berlin eine Anzahl von Jugendversammlungen unpolitischen Charakters statt. Die Berliner Polizei hat die größte Zahl dieser Versammlungen gewaltsam auseinandergejagt, ohne jede Spur von Recht und ohne jede Spur einer Begründung sie einfach mit Gewalt auseinandergetrieben. Das besonders Merkwürdige ist dabei, dass in einigen Teilen Berlins Versammlungen mit ganz genau derselben Tagesordnung geduldet worden sind und zu Ende gediehen sind, ohne dass die überwachenden Polizeibeamten eingeschritten sind und sie für politisch erklären konnten. Die offenbare Willkür dieses Vorgehens ist durch diese Tatsache evident. Darüber hinaus müssen wir aber darauf hinweisen, wie sehr die Regierung in ihrem Verhalten ein Herz und eine Seele ist mit den bürgerlichen Parteien und mit der durch die Staatsgelder korrumpierten und aus-gehaltenen bürgerlichen Jugendbewegung. Ein schlagendes Exempel bietet Steglitz.

In Berlin hat man die Berliner Polizei bemüht, um die Arbeiterjugendversammlungen auseinanderzutreiben. In Steglitz sagten die tapferen Recken, das machen wir selber. Und so haben sie denn unter Duldung der Polizei mit dem unerhörtesten Lärm vor jetzt acht Tagen unter Anwendung von Gewalttätigkeiten, die an die schlimmsten radauantisemitischen Tage von Berlin erinnern, eine Arbeiterjugendversammlung unmöglich gemacht. Gestern Abend ist diese Versammlung nun fortgesetzt worden, und zwar unter der Disziplinierung der Steglitzer Arbeiterschaft. Da ist es denn möglich gewesen, in einer einigermaßen geordneten Diskussion die Verhandlung fortzuführen. Das ist möglich gewesen, weil die Arbeiterschaft die nötige Disziplin und Bildung besitzt, auch Gegner anhören zu können. Aber die Polizeimanieren, die die Steglitzer Jugendwehrjünglinge und ihre Mäzene haben, sind allerdings so, dass es nicht möglich ist, mit ihnen, ohne dass die Arbeiterschaft eingreift und Disziplin hält, in Ruhe zu verhandeln.

Meine Herren, ich will mich im Augenblick mit diesen Vorgängen nicht weiter befassen. („Bravo!" rechts.) – Gut, dann will ich mir erlauben, Ihnen noch ein Urteil des „Wandervogels" über die Pfadfinder vorzutragen. (Heiterkeit.) Die Pfadfinderorganisationen liegen Ihnen ja besonders am Herzen. (Zuruf im Zentrum: „Noch eine Stunde!") – Ja, wir tun immer das, was Ihnen am unangenehmsten ist. – Die Sache ist abgedruckt im „Vorwärts" vom 29. März. Da schreibt der „Wandervogel" über die Pfadfinder, diese Kerntruppe des Jungdeutschlandbundes8 des Herrn von der Goltz: „Offen heraus gesagt, trauen wir es diesen Leuten, worunter sich acht- bis zehnjährige Jungens befinden, eher zu als sonst einer Vereinigung, ob Turn-, Sport- oder Wanderverein", derartige Dinge zu begehen. „Gerade diese kleinen Kerle hausen wie Vandalen. Wozu haben sie denn auch ihre Beile und Messer? Beliebt haben sich die Pfadfinder übrigens bei den Wandervögeln ebenso wenig gemacht wie anderweit."

Meine Herren, es sind ja noch genug solche Urteile vorhanden. Ich brauche Sie nur an Herrn Goetz zu erinnern, den bekannten Turnerbund-Goetz und andere. Aber Ihre Jugendpflege wollen wir Ihnen überlassen, arbeiten Sie tüchtig in dieser Richtung weiter zum Vorteil der Sozialdemokratie, zum Vorteil der freien Jugendbewegung. Denn Sie haben sich kaum in irgendeinem Stück der inneren Politik so deutlich und plump demaskiert wie auf dem Gebiet der Jugendpflege und haben da ein geradezu unergründliches Material für unsere Agitation zur Aufreizung der Volksmassen geliefert. (Abgeordneter Strosser-Breslau: „Aufreizung!")

Meine Herren, es wird gegen uns eingewendet, diese Jugendpflegebestrebungen, die auch vom Militarismus unterstützt werden – mein Freund Hirsch hat ja die Verfügung des Kriegsministers vorgelesen –, seien deshalb keine politischen, weil darin nur der Geist der „Vaterlandsliebe" – in Ihrem Sinne natürlich immer, man muss immer die Anführungszeichen dazu machen –, der „Königstreue" usw. gepflegt werde. Nun, meine Herren, der Geist der Vaterlandsliebe und der Königstreue darf gepflegt werden, das ist unpolitisch. Jetzt aber frage ich Sie: Wenn wir den Geist der Menschenliebe und der Friedensliebe pflegen – ist das politisch? (Zuruf: „Ja!" Abgeordneter Hoffmann: „Herr von Woyna ruft: ,Ja!') Das ist Ihnen politisch, meine Herren. Wenn wir den Geist der christlichen Nächstenliebe pflegen – ist das politisch? (Zurufe.) Das ist Ihnen politisch. Aber, meine Herren, wenn man den Völkermord predigt, wenn man in Chauvinismus hetzt, wenn man militaristische Auffassungen in die jugendlichen Seelen zu ihrem Verderb, zum Zweck ihrer Verrohung hinein streut, wenn man das, was Sie fälschlich Vaterlandsliebe und Königstreue nennen, in sie hinein pflanzt – das ist keine Politik! Ach Gott, ich meine, diese innere, wie soll ich sagen, Zwiespältigkeit in Ihrer Politik und auch in Ihren Reden, in Ihrer Haltung, in Ihren Gedanken und Gesinnungen – für sich selbst und für die Masse der Bevölkerung –, diese doppelte Moral, die Sie treiben, diese Politik mit doppeltem Boden, die Sie führen, ist so vor der Welt bekannt. Es gibt nichts, was in dieser Beziehung über Preußen und die dort herrschenden Parteien hinausginge. Meine Herren, ich habe es nicht nötig, mich noch eingehender mit diesen Fragen zu befassen. Ich will mich auch damit begnügen, darauf hinzuweisen, dass die Bemerkungen meines Freundes Leinert über den belgischen Generalstreik9 von keiner Seite in diesem Hause angefochten werden konnten, und will auf den Anschauungsunterricht hinweisen, den Sie da bekommen. Das will etwas bedeuten: Eine Disziplinierung der Arbeiterklasse, der schlechtest gelohnten, ausgesogenen und sogar von der primitivsten Bildung zurückgehaltenen Arbeiterklasse – denn in Belgien gibt es sehr viele Analphabeten, wie Sie wissen –, und trotzdem hat die Sozialdemokratie, hat die Arbeiterbewegung es vermocht, diese Proletarier dermaßen zu disziplinieren, dass sie, an die 400.000, jetzt in diesem kleinen Land, ohne die Spur einer erwähnenswerten Ruhestörung in musterhaftester Ordnung diese große Entsagung, die dieser Streik in wirtschaftlicher Beziehung bedeutet, auf sich genommen haben, dieses ungeheure Opfer, das ihnen auf gelastet worden ist von gewissenlos herrschenden Parteien („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), das ihnen auf gelastet worden ist, weil sie auf eine andere Weise nicht in der Lage sind, zu ihrem politischen Recht zu kommen. Obwohl sie von der Gewissenlosigkeit herrschender Klassen gezwungen worden sind, diesen Kampf zu führen unter schwersten Opfern, bewahren sie dennoch diese große Disziplin, friedlich diesen gewaltigen Kampf durchzuführen. Das will etwas heißen, meine Herren! Zeigen Sie einmal, meine Herren, ein solches Bravourstück der Selbstbeherrschung, der Opferfreudigkeit, Sie, deren ganze Politik darin besteht, der Selbstsucht zu frönen, der Selbstsucht einer kleinen Klasse. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Das Dreiklassenwahlrecht ist vom Tod gezeichnet!

Meine Herren, es ist eine Tatsache, dass Preußen in seinen politischen Institutionen in Deutschland, in der Welt, abgesehen von Russland, jetzt wohl nahezu einzig dasteht. Man hat hier heute schon viel für und gegen Wahlreform gesprochen. Ich möchte mir eine kurze Bemerkung über das Herrenhaus gestatten. Dieses Hohe Haus der erlauchten und edlen Herren verdient doch wohl nicht ganz die Nichtachtung, die ihm heute erwiesen worden ist. Das Herrenhaus im Einzelnen zu zeichnen liegt mir fern. Mir ist nur ein neuer Zug an dem Herrenhaus interessant, der, wie ich glaube, vorgestern bei den Reichstagsdebatten zutage getreten ist.

Meine Herren, Sie wissen, dass unter anderen Herr Birkner aus Cadinen Mitglied des Herrenhauses gewesen ist. („Aha!" rechts.) Meine Herren, wie ist der Herr Birkner von Cadinen in das Herrenhaus gekommen? Er ist hineingekommen – wie ein Brief, der im Reichstag verlesen worden ist, eines Herrn, dessen Namen man hier wohl nicht nennen soll, aus dem Jahre 1898 beweist – wegen seiner „hochherzigen Betätigung seiner treuen patriotischen Gesinnung", das heißt, weil er das Gut Cadinen diesem betreffenden Herrn, dessen Namen ich nicht nennen will, geschenkt hat. Meine Herren, auf diesen Gedanken kommt man natürlich, wenn man von der hochherzigen Betätigung der treuen patriotischen Gesinnung liest. Man glaubt also, es handle sich bei der Ernennung zum Herrenhausmitglied um einen Akt des Dankes, eines gewissen ritterlichen Dankes, der allerdings den feudalen Charakter trägt, der in unsere moderne Zeit nicht hineinpasst. Aber weshalb wird man denn Herrenhausmitglied? Aus anderen Gründen wird man es überhaupt nicht als wegen derartiger Geschichten. Wir nahmen das hin.

Nun haben wir inzwischen gehört, dass es sich nicht um ein Geschenk gehandelt hat, sondern dass es sich um einen Kauf gehandelt hat. (Rufe rechts: „Etat des Innern!") Der Reichskanzler persönlich hat das bestätigt. Und, meine Herren, aus diesem ganzen Zusammenhang muss noch erwähnt werden, dass in dem Schreiben, das ich verlesen (Lebhafte Rufe rechts und im Zentrum: „Zur Sache!") – Meine Herren, ich bin bei der Sache (Widerspruch rechts und im Zentrum.) – Ich bin bei der Sache, ich bin bei der Frage des Wahlrechts, das ist im Augenblick (Große Unruhe und lebhafte Zurufe: „Das hat mit dem Wahlrecht nichts zu tun!") – Ich bin bei der Frage des Wahlrechts. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Ich habe die Verpflichtung, meine Herren, weshalb wollen Sie nicht, dass das erwähnt wird? Nur um deswillen, weil ich damit eine partie honteuse Preußens aufdecken will! („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten. Glocke des Präsidenten.) Das böse Gewissen zeigt sich (Lebhafte Zurufe und Unruhe rechts. Glocke des Präsidenten.)

Präsident Dr. Graf von Schwerin-Läwitz: Dieser Ausdruck ist unzulässig. Ich bitte außerdem, eine Handlung Seiner Majestät des Kaisers nicht in der Weise zu kritisieren, wie Sie das bisher getan haben (Zurufe rechts: „Unglaublich!"); ich würde sonst genötigt sein, Sie zur Ordnung zu rufen.

Liebknecht: Meine Herren, ich kritisiere keine Handlung Seiner Majestät, sondern ich habe mir nur gestattet, Tatsachen vorzutragen. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Ich trage weiter noch die Tatsache vor, dass in dem Brief von 1898 Herrn Birkner die bereitwillige Erfüllung der geäußerten Wünsche für seine treue, patriotische Gesinnung zugesagt war. Nachdem wir nun gehört haben, dass es sich nicht um ein Geschenk, sondern um einen Kauf gehandelt hat, so ergibt sich, dass es sich bei der Berufung ins Herrenhaus um eine Bedingung des Kaufvertrages gehandelt hat, daraus ergibt sich, dass die Einräumung eines Herrenhaussitzes erkauft werden kann. („Bravo!" bei den Sozialdemokraten. Stürmische Zurufe rechts. Große Unruhe. Glocke des Präsidenten.)

Präsident: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, die letzte Ausführung war durchaus ungehörig; sie widerspricht der Ordnung des Hauses. Ich rufe Sie zur Ordnung. („Bravo!" rechts. Zuruf bei den Sozialdemokraten: „Aber die Tatsache ist doch richtig!") Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie schon einmal zur Ordnung gerufen sind und dass ich beim dritten Ordnungsruf das Haus befragen werde, ob es von seinem geschäftsordnungsmäßigen Recht Gebrauch machen will.

Liebknecht: Die Wahlrechtsfrage muss im Vordergrund unseres Interesses stehen. Denn dass der nächste Landtag eine Wahlrechtsreform bringen wird, daran ist ja kein Zweifel. Es ist kein Wunder, dass die verschiedenen Parteien jetzt noch versuchen, programmatische oder programmatisch klingende, als programmatisch vorgespiegelte Erklärungen dazu abzugeben.

Meine Herren, wenn wir daran denken, dass der Herr Minister des Innern es heute wieder für erforderlich gehalten hat, seinen bestimmten Willen zum Ausdruck zu bringen, kein allgemeines, gleiches, geheimes und direktes Wahlrecht für Preußen zuzulassen, dass er bestenfalls ein abgestuftes Wahlrecht für Preußen zugestehen will, dann sehen wir, dass noch nicht genügend gewirkt worden ist, um die Herren mürbe zu machen und zu dem zu zwingen, wozu sie gezwungen werden müssen im Interesse des ganzen preußischen Volkes. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Der Herr Minister des Innern hat soeben wiederum gesagt, was er früher schon einmal gesagt hatte, dass das Königswort eingelöst worden sei durch die Wahlrechtsreformvorlage von 1910. Das ist nicht richtig. Gegen diese Auffassung müssen wir den schärfsten Protest erheben. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Die Reformvorlage von 1910 war das Gegenteil dessen, was versprochen worden war. Sie brauchen nur auf das Echo zu hören, das diese Vorlage im ganzen Volk hervorgerufen hat, nachdem Hoffnungen auf eine Wahlreform durch die Thronrede von 1908 erweckt worden waren. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Sie hat Ihnen schon manche Wunde geschlagen, diese Wahlrechtsvorlage von 1910, und die Regierung sollte auch lieber nicht allzu oft daran erinnern, meine Herren.

Der Herr Minister des Innern will mit einer neuen Vorlage warten bis zur Einigung der bürgerlichen Parteien. Meine Herren, zunächst einmal fehlt ja in den bürgerlichen Parteien selbst die Einigung. Da müsste der Herr Minister zunächst einmal abwarten, bis die Herren Nationalliberalen in sich homogen geworden wären. Und dann weiß ich nicht, ob in den übrigen Parteien, besonders im Zentrum, so eine vollkommene Homogenität besteht.

Aber meine Herren, dieses Warten bis zur Einigung der bürgerlichen Parteien heißt warten auf einen unmöglichen Tag („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), einen Tag, den man mit einem juristischen Ausdruck nicht nur bezeichnen kann als einen dies incertus an, auch nicht als einen dies incertus quando, sondern als einen dies incertus an et quando oder vielmehr einen Tag, von dem man sicher ist, dass er niemals eintreten wird, als den Sankt-Nimmerleins-Tag. Nein, Herr Minister – er ist im Augenblick nicht da. (Stürmische Heiterkeit rechts und im Zentrum. Zurufe rechts: „Ist ihm nicht zu verdenken!") – Meine Herren, es ist doch wirklich, als ob man in einer Kleinkinderschule wäre. (Große Unruhe und lebhafte Zurufe rechts. Glocke des Präsidenten.)

Präsident: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, ich rufe Sie zum dritten Male zur Ordnung und werde nach Paragraph 48 der Geschäftsordnung das Haus fragen, ob es Ihnen weiter das Wort belassen will. („Bravo!" rechts. Große Unruhe und Rufe bei den Sozialdemokraten: „Das ist absichtlich provoziert!") Ich bitte diejenigen Herren, welche den Herrn Abgeordneten Dr. Liebknecht noch weiter zu hören wünschen, sich von ihren Plätzen zu erheben. (Geschieht.) Das ist die Minderheit. Das Haus hat beschlossen, Ihnen das Wort zu entziehen. (Große Unruhe und Zurufe bei den Sozialdemokraten. Liebknecht: „Meine Herren, das Dreiklassenwahlrecht ist" – Glocke des Präsidenten. Liebknecht: „Das Dreiklassenwahlrecht" – Glocke des Präsidenten. Rufe rechts: „Ruhe! Ruhe!". Liebknecht: „Meine Herren, brüllen können Sie gut!". Zurufe rechts: „Ruhe!". Glocke des Präsidenten. Erneute lebhafte Rufe rechts: „Ruhe! Ruhe!") Das Wort hat der Abgeordnete Nissen.

Liebknecht: Meine Herren, das Dreiklassenwahlrecht (Lebhafte Rufe rechts: „Ruhe! Ruhe!". Glocke des Präsidenten. Liebknecht: „Das ist ja das reine Indianergeheul!". Hoffmann: „Das ist ja wie im Kuhstall!". Erneute Rufe rechts: „Ruhe! Ruhe!". Glocke des Präsidenten.)10

1 Nach dem Fall des Sozialistengesetzes, 1890, gründeten bürgerlich-halbanarchistische Kräfte den Verein Freie Volksbühne. Im Oktober 1892 schüttelten die klassenbewussten Arbeiter diese Führungsgruppe ab, die mit einer kleinen Anhängerschar die Neue Freie Volksbühne gründete. Zum Vorsitzenden der Freien Volksbühne in Berlin wurde Franz Mehring gewählt. 1894 beschloss die Berliner Freie Volksbühne die Selbstauflösung. Sie wollte sich nicht dem Beschluss über die Zensur ihrer Stücke durch die preußische Polizei beugen. Zwei Jahre später wurde der Verein unter der Leitung des Revisionisten Conrad Schmidt mit veränderten Satzungen wieder ins Leben gerufen. Mehring arbeitete im Vorstand mit, um vor allem mit historisch-materialistischen Analysen dramatischer Werke marxistisches Bildungsgut zu vermitteln, zugleich kämpfte er beharrlich gegen den opportunistischen Verfall der Volksbühnenbewegung, die einmal „die literarische Organisation der deutschen Arbeiterklasse" hatte werden sollen, die aber von Jahr zu Jahr immer stärker zu einer Stätte unverbindlichen bürgerlichen „Bildungsbetriebes" wurde.

2 Reichsverband gegen die Sozialdemokratie, eine nach dem sozialdemokratischen Wahlerfolg bei den Reichstagswahlen im Jahre 1903 im Mai 1904 gegründete Spezialorganisation des deutschen Monopolkapitals für den Kampf gegen die Sozialdemokratische Partei. Nach dem Wortlaut des Gründungsaufrufs stellte sich diese von den Arbeitern „Reichslügenverband" genannte Organisation die Aufgabe, „alle nicht sozialdemokratisch gesinnten Staatsbürger in Stadt und Land ohne Unterschied der Partei und Religion zum Kampfe gegen die Sozialdemokratie zusammenzuschließen". Finanziert wurde sie vornehmlich durch die Monopolkapitalisten an Rhein und Ruhr. An der Spitze dieser militaristischen, chauvinistischen und antidemokratischen Propagandaorganisation stand General von Liebert, der gleichzeitig Mitglied der Hauptleitung des Alldeutschen Verbandes und Vorstandsmitglied der Deutschen Kolonialgesellschaft war und auch im Deutschen Flottenverein eine erhebliche Rolle spielte. Der Reichsverband bestand bis 1914.

3 Am 30. September 1912 wurde vor dem Brandenburger Schöffengericht eine Beleidigungsklage des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie gegen den Redakteur der „Brandenburger Zeitung", Erich Baron, verhandelt. Der Anlass dazu war ein in dieser Zeitung enthaltenes satirisches Inserat. Im Verlauf des Prozesses wurde nachgewiesen, dass der Reichsverband mit Lügen und Verleumdungen arbeitete, was selbst in der Urteilsbegründung zum Ausdruck kam. Redakteur Baron wurde dennoch in erster Instanz zu einer Geldstrafe verurteilt. In einem Berufungsverfahren wurde das Urteil aufgehoben, da sich die angeblich beleidigenden Äußerungen nur gegen die politische Tätigkeit des Reichsverbandes gerichtet hätten, also keine persönliche Beleidigung gewesen seien. In dem vom Reichsverband gegen dieses Urteil eingelegten Revisionsverfahren wurde Baron endgültig freigesprochen.

4 Bei dem Zusatz: „das heißt Nebensache" handelte es sich um eine Unterstellung des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie. Die Red.

5 Am 14. April 1913 verhöhnten chauvinistisch beeinflusste französische Studenten in Nancy mehrere deutsche Reisende mit Witzeleien und Pfiffen, weil sie in ihnen deutsche Offiziere vermuteten. Die deutsche Monopolpresse bauschte dieses Vorkommnis maßlos auf, um nationalistische Gefühle zu erzeugen und für die Annahme des Heeresetats und der neuen Heeresvorlage Stimmung zu machen.

6 Angell, Norman, Pseudonym des bedeutenden englischen pazifistischen Schriftstellers R. N. Lane. 1910 erschien sein aufsehenerregendes Buch „Die große Täuschung. Eine Studie über das Verhältnis zwischen Militärmacht und Wohlstand der Völker". Angell war vor dem ersten Weltkrieg ein aktiver und konsequenter Vertreter der bürgerlichen Friedensbewegung. Auch während des Krieges und danach setzte er seine Tätigkeit fort. 1933 erhielt er den Friedensnobelpreis.

7 Compère-Morel. Die Red.

8 Er wurde 1911 durch den preußischen Generalfeldmarschall von der Goltz gegründet. Es handelt sich um eine vom imperialistischen Staat systematisch geförderte chauvinistisch-militaristische Dachorganisation, in der die Mehrheit der bürgerlichen Jugendvereine unter dem Deckmantel der „Jugendpflege" zusammengefasst wurde. Er richtete sich gegen die proletarische Jugendbewegung und diente der chauvinistischen Verhetzung und militaristischen Erziehung der Jugend.

9 Vom 14. bis 24. April 1913 kam es in Belgien zu einem Generalstreik, an dem 400.000–500.000 Arbeiter teilnahmen. Es war der erste umfassende, systematisch vorbereitete und organisierte Massenstreik, der nach der ersten russischen Revolution von 1905-1907 in einem westeuropäischen Land zur Erkämpfung unmittelbar politischer Ziele, für die Durchsetzung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts, geführt wurde.

10 Nach dem Bericht des „Vorwärts" vom 19. April 1913 verließ Liebknecht die Tribüne mit den Worten: „Und wenn Sie noch so viel schreien, das Dreiklassenwahlrecht ist doch vom Tod gezeichnet!" Die Red.

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