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Karl Liebknecht 19140800 Die russischen Gefängnisgräuel

Karl Liebknecht: Die russischen Gefängnisgräuel

Bericht1

[Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Zentrales Parteiarchiv, NL 1/16. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 7, S. 422-434

Die je nach Gelegenheit improvisierte unmittelbare Gewalt als Mittel der gesellschaftlichen Unterdrückung ist heute zu einem großen Teil abgelöst durch gesetzlich „geregelte" Gewalt, durch die Klassengesetzgebung und die Anwendung der Klassengesetze in Justiz und Verwaltung. Die wesentlich aus den Klassenkämpfen des Bürgertums bestimmte neuere staatliche Entwicklung sucht die „drei Gewalten" in persönlicher und organisatorischer Hinsicht zu trennen, die Anwendung der Gesetze teilweise in die Formen der Justiz zu kleiden oder doch der Kontrolle der Justiz zu unterstellen und die mit der Ausübung der Jurisdiktion betrauten Personen mit dem Anschein einer formalen Unabhängigkeit zu versehen, ohne damit das Wesen der Justiz als eines Gewaltmittels nennenswert zu wandeln. Die Strafvollstreckung liegt selbst in den fortgeschrittensten Ländern noch überwiegend in den Händen der auch nicht einmal formal unabhängigen Verwaltung.

Am Rücksichtslosesten enthüllen nicht nur die Gesetzgebung und die Verwaltung, sondern auch die Jurisdiktion und die Strafvollstreckung ihren Klassencharakter naturgemäß bei Angelegenheiten, die unmittelbar mit den wirtschaftlichen und politischen Kämpfen zusammenhängen oder gar zu diesen Kämpfen gehören.

Russland war bis zum Oktober 1905 ein absolutistisches Staatswesen ohne Phrase, in dem selbst die Vorspiegelung einer Trennung der Gewalten und einer richterlichen Unabhängigkeit fehlte. Seit dem Herbst 1905 herrscht in Russland der Absolutismus mit der Phrase des Oktobermanifestes; und selbst diese Phrase ist seit der Sprengung der I. Duma durch eine Reihe plumper Staatsstreiche zerfetzt, verhöhnt und preisgegeben. Die „konstitutionellen" Einrichtungen des heutigen Russlands, jene mitten in den Hexensabbat einer orientalischen Despotie gesetzten Zerrbilder, persiflieren zugleich die Idee der Konstitution und heben die unerträgliche Wirklichkeit der zarischen Schreckensherrschaft um so krasser hervor; der zarischen Schreckensherrschaft, die sich auf die Rohheit asiatischer Barbaren und die Stumpfheit zurückgebliebener Massen, auf religiösen Fanatismus und die Knute, auf korrupte Tschinowniks2 und den wirren Aberglauben schmutziger Mönche, auf die Pogromisten und Hooligans, auf die Spitzelprovokateure der Ochrana, die Asew und Genossen stützt.

Für die ganze zivilisierte Welt waren die Willkür und Grausamkeit, mit der der „vorkonstitutionelle" Zarismus die russischen Freiheitshelden zu zermalmen suchte, ein grauenhafter Spuk, dessen reale Gegenwärtigkeit von der ausschweifendsten Phantasie kaum lebendig begriffen werden konnte. Immer wieder schauerten die westeuropäischen Völker entsetzt auf, wenn ihnen die in Blut getauchten Federn jener Kämpfer und Dulder, die Schriften eines Dostojewski oder Kennan von Zeit zu Zeit neue Kunde gaben aus den Totenhäusern „Väterchens". Die Opfer jedoch, die der „konstitutionelle" Zarismus an Freiheit, Gesundheit, Leben erheischt hat und noch täglich weiter heischt, sind noch weit zahlreicher und grausamer. Wir schweigen von dem Blutstrom der russischen Revolution, die der Stolz und die Hoffnung der Welt war. Wir schweigen auch von den Metzeleien und Mordbrennereien, die unter dem Namen „Strafexpeditionen" von der Gegenrevolution mit Aufgebot von Kosaken und asiatischen Barbaren verübt wurden. Fast alle Provinzen und Gouvernements, in denen auch nur ein Funke des revolutionären Feuers geglüht hatte, wurden auf Jahre hinaus dem Kriegs- und Standrecht oder dem „verstärkten Schutz" unterworfen und damit der Verwaltungswillkür und der militärischen Räson ausgeliefert. Hekatomben auf Hekatomben fielen. Und nachdem die Kriegs- und Standgerichte ihre Henkersarbeit eingestellt hatten, wurde sie mit kaum verminderter Erbarmungslosigkeit von der sogenannten Justiz, von den Blutrichtern des Blutzaren, und von der Administration fortgesetzt. Es galt Rache zu nehmen für die Revolution, für jenes verzweifelte und heroische Aufbäumen des zertretenen Menschentums.

Auf die Proteste der I. und II. Duma folgte deren staatsstreichlerische Verjagung, auf das Manifest von Wiborg die Verfolgung der Manifestanten, deren einzige Schuld ihre Verfassungstreue war; auf den kühnen Kampf der sozialdemokratischen Fraktion der II. Duma jene niederträchtige Spitzelprovokation, die den Vorwand zur Oktroyierung der „Verfassung" vom 16. Juni 1907 bildete, und jene verächtliche Justizkomödie, deren Opfer zu einem Teil bereits den Quälereien der zarischen Folterknechte erlegen sind, während die Überlebenden trotz eines einmütigen Appells der besten Männer Europas noch immer vergeblich auf die Revision warten. Und in diesen Tagen sucht man der IV. Duma unter flagranter Verletzung der parlamentarischen Immunität gegen den heftigen Widerspruch selbst dieses dreimal gesiebten Parlaments einen der unerschrockenen Vorkämpfer der russischen Freiheit zu entreißen.

Ganze Landesteile wurden noch besonders vergewaltigt: Polen unterliegt noch heute dem „verstärkten Schutz". Finnlands Verfassung wurde eidbrüchig zerrissen trotz heroischen Widerstands des finnischen Volks und trotz empörter Proteste aus der ganzen Welt. Gesteigert wurde die Entrechtung jener bejammernswürdigen russischen Parias, der Juden, deren Bewegungsfreiheit durch täglich schikanösere Verordnungen eingeschnürt ist, die unaufhörlich von halboffiziellen Pogromen bedroht sind, gegen die systematisch der wüste Ritualmordwahn entfesselt wird und die man in hellen Scharen aus ihrem Vaterland vertreibt. 1250 Zeitungen wurden in den letzten 5 Jahren unterdrückt; allein 4386 Geldstrafen von zusammen rund einer halben Million Rubel wurden, zumeist administrativ, in der gleichen Zeit gegen die oppositionelle Presse verhängt.

Während sich die zaristischen Schergen in ihrer dumpfen Verständnislosigkeit Sieger wähnten, die dem russischen Volk triumphierend den Fuß auf den Nacken setzen könnten, erhob der kaum niedergeschmetterte revolutionäre Geist sein Haupt mit neuer Kraft. Die Bauernschaft blieb trotz aller Scheinreformen ein gärendes, gefährliches Element. Die russische Arbeiterklasse, die bereits in der Revolution neben der Bauernschaft die Hauptarbeit geleistet hatte, wuchs mit der rapiden Entwicklung von Industrie und Handel gewaltig an. Proletarischer Kampfgeist verbreitete sich mächtig, und proletarische Kampforganisationen schwollen unwiderstehlich empor, bis in der neueren Zeit auch das Bürgertum in weiteren Kreisen wieder zu einer schärferen Opposition getrieben wurde.

Die politische Rechtlosigkeit und die wirtschaftliche Schutzlosigkeit des verelendeten russischen Proletariats gebiert immer wiederholte Streikbewegungen, die mit Kosakenknuten, hauenden Säbeln und schießenden Flinten bekämpft werden. Aber aus diesen barbarischen Akten, deren entsetzlichster das Lena-Blutbad3 war, erwächst dem revolutionären Kampf nur stets frischer Ansporn.

So ist der neuere Befreiungskampf des russischen Volkes auf immer breitere Basis gestellt, eine über das Riesenreich verbreitete Massenbewegung, in der täglich Opfer fallen, Massenopfer, die von der Administration selbst bei völlig legaler Betätigung der spärlichen Bürgerrechte ganz nach dem Muster des vorkonstitutionellen Russlands ohne Richterspruch gefordert werden. Unter diesen Opfern stellen die Vorkämpfer der Arbeiterbewegung und des Sozialismus das weitaus größte Kontingent. Schon darum, aber auch im Namen der Menschlichkeit und des Kulturgewissens, deren edelste Vertreterin sie ist, hat die Internationale des Sozialismus die heilige Pflicht, sich mit der Lage jener Unglücklichen zu beschäftigen, die in den Kerkern des Mörderzaren und in den Eiswüsten der Verbannung dahinsiechen.

Eine noch unvollständige, auf amtlichen Quellen aufgebaute Statistik ergibt folgendes:

1906-1910 wurden zum Tode verurteilt wegen politischer „Verbrechen" 57354, d. h. fast aller in politischen Prozessen Verurteilten; hingerichtet 3741.

Die Schrecklichkeit dieser Ziffern erhellt besonders aus der Tatsache, dass in der Zeit von 1825-1905, also in den 80 Jahren vor der Revolution, in Russland zusammen nur 625 „Politische" zum Tode verurteilt und 192 „Politische" hingerichtet worden sind. In den ersten 5 Jahren der konstitutionellen Ära ist die Zahl der Todesurteile um das 180fache, die Zahl der Hinrichtungen um das 250fache gestiegen! In Deutschland betrug die Zahl der Hinrichtungen in der letzten Zeit durchschnittlich jährlich etwa 15.

Insgesamt wurden 1906-1910 wegen politischer Delikte 37.620 Personen gerichtlich verurteilt. Davon entfallen – von den 5735 Todesurteilen abgesehen – auf die Katorga5 8640, Arrestantenkompagnie 4144, Disziplinarbataillone 1292, Zwangsansiedlung 1858, sämtliche mit dem Verlust aller Rechte verknüpft.

Zwangsansiedlung" heißt Aussetzung hilfloser Personen in unwirtlichen Einöden; sie unterscheidet sich nicht viel von der Methode, durch die das jungtürkische Regiment die Hunde des alten Konstantinopels unschädlich machte. Die „Ansiedlungs"gebiete gehören zu den unfruchtbarsten und eisigsten der Erde: 30–50 Kälte herrscht monatelang in vielen Teilen. Dort müssen sich die „Ansiedler" ohne eine Kopeke Unterstützung mit den primitivsten Methoden des Lebens Notdurft zu erkämpfen suchen – gewaltsam auf die Stufe der Wildheit herabgedrückt. Auch Frauen sind darunter und Kinder. Und diese Strafe wird vielfach für die bloße Zugehörigkeit zur sozialdemokratischen Partei verhängt. Solcher Zwangsansiedler mag man heute 5000-6000 zählen!

Die gerichtlichen Verurteilungen werden durch eine enorme Zahl von administrativen Verurteilungen zu Gefängnis und Verbannung ergänzt.

Die Gefängnisse und Zuchthäuser, von denen die in Serentui, Akatui, Tobolsk, Orel, Jaroslawl und Moskau (Butyrski) am berüchtigsten sind, bieten nach amtlicher Berechnung, bei der die geringsten Anforderungen der Gefängnishygiene bereits missachtet sind, heute „Raum" für rund 140.000 Gefangene, d. h. für fast 50 Prozent mehr als noch vor 3 bis 4 Jahren! Tatsächlich befanden sich darin 1913 durchschnittlich rund 220.000, zuweilen bis 250.000; und inzwischen hat die Zahl noch weiter zugenommen – trotz der famosen Jubiläumsamnestie, die nur gemeinen Verbrechern zugute kam. Die Gefangenen sind vielfach enger zusammengepfercht als das Vieh in den Ställen, so eng, dass sie sich mitunter nur abwechselnd niederlegen können. Die Katorga-Gefangenen sind einen großen Teil ihrer Strafzeit Tag und Nacht an eiserne Ketten geschmiedet; nicht selten wird ihnen noch die Lederunterlage unter den Ketten genommen, so dass das Eisen direkt auf dem nackten Fleisch liegt, es zerreibt und zerschneidet.

Für die Ernährung der Gefangenen sind pro Tag und Kopf durchschnittlich 10 Kopeken ausgeworfen – viel zu wenig natürlich für die Ernährung von Menschen, besonders von solchen, die unter so abnormen äußeren und inneren Verhältnissen leben wie die russischen Gefangenen. Ein großer Teil dieses etatmäßigen Betrags bleibt aber noch an den Fingern der Diebesbande hängen, die die Rolle der russischen Bürokratie spielt; und für das, was übrigbleibt, werden nur allzu oft miserable Nahrungsmittel angeschafft, deren Zubereitung dann wieder aller Beschreibung spottet.

Die Kleidung ist in jedem Betracht unzureichend, zerlumpt und schmutzig. Die primitivsten Anforderungen der Reinlichkeit und Hygiene werden missachtet. Es erscheint unfassbar, dass Menschen in solchem Unrat und solcher Luft – die Luftklappen dürfen vielfach überhaupt nicht geöffnet werden – auch nur Wochen hindurch leben können. Die Bewegung im Freien ist den Gefangenen systematisch gekürzt oder ganz entzogen. Die Arbeit, ohne die selbst bei günstigen Existenzbedingungen jede Freiheitsentziehung zur unerträglichen Marter wird, ist zumeist abgeschafft. Nur ihre qualvollsten und gesundheitsschädlichsten Formen, wie Wollezupfen, werden erhalten oder eingeführt. Wo den politischen Gefangenen bisher Selbstbeschäftigung zustand, ist sie zum größten Teil beseitigt.

Der Gesundheitszustand der Gefangenen kann bei alledem nicht anders als entsetzlich sein. Schwindsucht und Dysenterie, Typhus und Skorbut halten mörderische Musterung. Die Sterblichkeit überschreitet alle Grenzen. 55 Prozent aller Todesfälle werden durch Schwindsucht verursacht.

Damit ist der Unmenschlichkeit noch nicht genug. Planmäßig werden die Gefangenen, und gerade die politischen Gefangenen, entwürdigt. Planmäßig werden die „Politischen" mit den gemeinen Sträflingen zusammengelegt und häufig der diktatorischen Gewalt der verworfensten unter ihnen, der „Iwane", überantwortet, die selbstverständlich die Lieblinge einer solchen Gefängnisverwaltung bilden. Rohe Beschimpfungen und Demütigungen sind ihr tägliches Brot; Misshandlungen begleiten sie vom Momente der Einlieferung an und vom Morgen bis in die Nacht. Ein barbarisches Disziplinarwesen, in dem die gerade jetzt wieder vom Justiz- und vom Polizeiminister als unentbehrlich begutachtete Prügelstrafe und der Dunkelarrest die Hauptrolle spielen, schwebt ständig über ihnen. In vielen Strafanstalten sind Folterungen ganz nach mittelalterlichem Muster an der Tagesordnung.

So wird in den Gefangenen, die nicht den Epidemien oder den vor den Zellenfenstern lauernden schussbereiten Wärtern anheimfallen, nach Kräften jeder Rest von menschlichem Empfinden und Menschenwürde erstickt. Nur die Flucht in den Tod ist den Unglücklichen als Rettung aus diesem infernalischen Dasein geblieben: So sind zu den Krankheitsepidemien echte Selbstmordepidemien getreten.

Dass bei alledem die Bestimmungen der Gesetze und Reglements, soweit sie den Gefangenen günstiger sind, in den Wind geschlagen werden, ist in dem Russland Väterchens eine Selbstverständlichkeit.

Wenn zur Zeit Dostojewskis und bis vor wenigen Jahren die politischen Katorga-Sträflinge nach Verbüßung einiger Jahre zur Arbeit außerhalb der geschlossenen Anstalten verwendet wurden, haben sie nach dem jetzigen Reglement die dreifache Zeit in den Strafanstalten selbst zu verbringen. Früher wurde ein solcher Gefangener bei einer Strafzeit von 15 Jahren bereits mit 4 Jahren zur. Außenarbeit zugelassen; jetzt hat er davon fast 13 Jahre zwischen den Zuchthausmauern zuzubringen, um dann als Zwangsansiedler den oben geschilderten Schrecken ausgeliefert zu werden. Und selbst dieses Reglement ist die Regierung im Begriff noch weiter zu verschlechtern.

So unterscheidet sich die Behandlung des politischen von der des gemeinen Verbrechers heute höchstens dadurch, dass sie die nichtswürdigere ist; und der frühere Zustand erscheint den Verdammten des Zarismus als ein „verlorenes Paradies".

Um eine Besserung dieser Zustände zu erzielen, um die Innehaltung wenigstens der Gesetze zu erzwingen, um die Augen der Öffentlichkeit auf das Furchtbarste zu lenken, das sich hinter den russischen Kerkermauern abspielt, werden von den Gefangenen jene tragischen Mittel immer häufiger angewandt: Hungerstreiks und Protestselbstmorde. Der Erfolg ist aber selten und nur vorübergehend. Zuweilen macht sich die Verzweiflung in Revolten Luft; sie werden grausam niedergeschlagen.

Schreckensschreie aus diesen Höllen haben die Aufmerksamkeit der Kulturwelt erweckt. Das sind die verzweifelten Hilferufe von Menschen, die ihre ganze Kraft, ihr ganzes Glück dem Heil des getretenen russischen Volkes hingegeben haben, Hilferufe, die sich an die ganze Menschheit richten, die aber vor allem gehört werden müssen und gehört werden von der sozialistischen Internationale.

Wiederholt hat sich die russische Duma mit der Lage der Gefangenen und Verbannten befasst – vergeblich; die verbrecherischen Werkzeuge des Zarismus haben sich in ihrem Wüten nicht stören lassen. In mehreren westeuropäischen Staaten wurden die Zustände bereits zum Gegenstand parlamentarischer Verhandlungen gemacht, so in Italien, der Schweiz und Deutschland. Leider fanden diese Proteste bisher kein hinreichendes Echo. Und selbst die aufrüttelnden Schriften und Worte eines Kropotkin, einer Vera Figner, eines Pressensé vermochten bisher noch nicht den Sturm zu entfesseln, der die ganze gesittete Welt erfassen muss.

Die Regierungen der westeuropäischen Staaten, von deren Angehörigen gar mancher in den russischen Kerkern schmachtet oder schon hinweggerafft ist, und selbst manche Präsidien ihrer Parlamente bringen es gar über sich, den Blutzaren obendrein gegen Kritik und Protest in Schutz zu nehmen. Die deutsche Justiz ist zum Schirme des gekrönten Verbrechers wiederholt in Aktion getreten.

Die russische Geheimpolizei (Ochrana), als deren Heroen die Asew und Genossen angebetet werden, darf mit ihrem Gesindel ungeniert Westeuropa überfluten, obwohl sie gleichzeitig militärische Spionage treibt. Die politische Polizei westeuropäischer Staaten arbeitet mit der russischen zusammen, um die im Auslande befindlichen Russen zu überwachen und zu schikanieren. Deutsche Universitäten etablieren sich im Bunde mit russischen Polizei-Schergen gegenüber den russischen Studenten als Departements der politischen Polizei. Die Zahl der russischen Studenten wird an den deutschen Hochschulen kontingentiert und damit einer großen Zahl von bildungshungrigen Elementen, denen Russland die Ausbildung versagt, die Möglichkeit der Weiterbildung noch mehr verschränkt. Ausweisungen großen Stils, sei es aus eigener Initiative, sei es aus Liebedienerei für den Herrscher der Reußen, das skandalöse internationale Anarchistenabkommen6 und die Auslieferungsverträge mit Russland machen die übrigen europäischen Staaten nur allzu häufig zu Mitschuldigen des Zarismus.

Während der Zar, der Repräsentant und Mitschuldige dieses Systems, mehrere Jahre nach Niederwerfung der Revolution sein Haupt nicht außerhalb Russlands zu zeigen wagte, konnte er seit einigen Jahren, wenn auch mit den üblichen Vorsichtsmaßregeln, wieder verschiedene westeuropäische Staaten aufsuchen, den Triumph prunkvoller offizieller Empfänge erleben – noch zuletzt 1913 bei dem Hohenzollern-Jubiläum – und in den letzten Wochen begeisterte Ergebenheitstelegramme eines deutschen Fürsten buchen.

Gewiss bietet die internationale Lage in Europa dem Übermut des Zartums nur allzu viel Nahrung. Das Volk, dessen ruhmvolle Tradition der ritterliche Schutz der Humanität ist, das Volk, aus dem die Liga der Menschenrechte und ihr leider verstorbener Präsident, unser betrauerter Freund Pressensé, hervorgegangen ist, folgt als Trabant dem Wagen des Zaren; und die Hände Großbritanniens, des klassischen Landes der bürgerlichen Freiheit, sind gelähmt durch die englisch-russische Freundschaft. Deutschland aber, der mächtigste Staat des gegen Russland gerichteten Dreibundes, rutscht trotz alledem auf den Knien vor dem Zarismus, getrieben von diplomatischer Vorsicht und von ureigener Sympathie mit der russischen Knute.

Die Friedenspolitik des Proletariats, vor allem die Förderung der deutsch-französischen und deutsch-englischen Verständigung und die Solidarität des Proletariats der übrigen Welt mit dem russischen Proletariat, die rücksichtslose Bekämpfung jener kriegerischen Gefahren, die den Zaren immer mehr zum Fatum Europas erheben, die Bekämpfung der politischen Reaktion im Innern der westeuropäischen Staaten, die Vernichtung insbesondere des deutschen und österreichischen Halbabsolutismus sind die gründlichsten Mittel zur Beseitigung der Voraussetzungen, auf denen, soweit Westeuropa in Betracht kommt, die Möglichkeit und Wirklichkeit der heutigen zarischen Barbarei beruht.

Die Förderung der Freiheitsbewegung, vor allem des proletarischen Klassenkampfes in Russland ist das Mittel, um die Wurzeln der Romanow-Despotie, soweit sie in Russland selbst liegen, abzugraben.

Schöpfung und Sicherung eines freien Fremdenrechtes in den anderen Staaten, weiteste Gastfreundschaft gegenüber den russischen Flüchtlingen, Vertreibung der russischen Spitzel sind wenigstens geeignet, die geistige und physische Not eines Bruchteils des russischen Volkes zu lindern, seine Bewegungsfreiheit zu erweitern.

Auch spezielle Einwirkung auf die russische Justiz und Strafvollstreckung, auf die Lage der politischen Gefangenen und Verbannten Russlands ist außerhalb Russlands keineswegs unmöglich. Es gilt, allenthalben die öffentliche Meinung aufzuklären und aufzupeitschen. Es gilt, in den Parlamenten die Schande Europas zu brandmarken und den widerstrebenden Regierungen diplomatische Aktionen abzufordern, denn die Wahrung der primitivsten Grundsätze der Menschlichkeit ist – von den in den russischen Kerkern befindlichen Angehörigen westeuropäischer Staaten zu schweigen – eine Angelegenheit der ganzen Menschheit.

Unmittelbar kann für die Unglücklichen gewirkt werden durch Geldmittel für Nahrung, Kleidung, Bücher, Zeitschriften, durch Einrichtungen, die den Zwangsansiedlern und Verbannten den Erwerb des Lebensunterhalts erleichtern.

In zahlreichen westeuropäischen Staaten sind sehr verdienstvolle Hilfsvereine für die politischen Gefangenen Russlands gegründet, die sich einen Teil der obigen Aufgaben gestellt haben.

Resolution

Der Internationale Sozialistische Kongress in Wien spricht den russischen Freiheitshelden, die im Kampf um die Errettung des russischen Volkes Gesundheit, Freiheit, Gut und Blut opfern, seine Bewunderung aus und entbietet allen Genossen, die hinter zarischen Kerkermauern, in der Katorga und der Verbannung schmachten, in der Zuversicht eines baldigen Sieges der Revolution brüderlichen Gruß.

Der nur notdürftig verhüllte russische Absolutismus ist noch immer der stärkste Hort der internationalen Reaktion, und seine hinterhältige und beutegierige Politik bedroht den Weltfrieden ohne Unterlass. Das eigene Interesse des Proletariats aller übrigen Länder und die Pflicht der Solidarität machen es zu einer der bedeutsamsten Aufgaben der Internationale, mit allen Kräften die russische Freiheitsbewegung zu fördern und ihren Opfern beizustehen

Der Kongress erachtet als notwendig:

1. das internationale Proletariat aufzufordern, den Vorgängen in Russland verstärkte Aufmerksamkeit und dem russischen Freiheitskampf vermehrte Sympathie und Solidarität zuzuwenden;

2. durch eine umfassende Protestbewegung innerhalb und außerhalb der Parlamente den Kampf des russischen Volkes um Beseitigung der Gräuel in der russischen Justiz und Strafvollstreckung und um die gesetzliche Amnestie der politischen Gefangenen und Verbannten Russlands zu fördern und darauf hinzuwirken, dass die Regierungen auf diplomatischem Wege gegen diese Zustände einschreiten;

3. mit allem Nachdruck dafür einzutreten, dass die Auslieferungsverträge mit Russland gekündigt, die Anarchistenkonvention aufgehoben, die Kreaturen der russischen Polizei verjagt und den russischen Flüchtlingen das umfassendste Asylrecht gewährt, den schmachvollen Ausweisungen und den schikanösen Beschränkungen, denen die russischen Staatsangehörigen in den andern Staaten vielfach unterworfen sind, ein Ende bereitet wird;

4. durch Agitation in der Presse und in Versammlungen das Martyrium der russischen Friedenskämpfer den breiten Kreisen der Bevölkerung aller Kulturländer bekanntzumachen;

5. alle Bestrebungen zu fördern, die sich die materielle und moralische Unterstützung der politischen Gefangenen und Verbannten Russlands zur Aufgabe gestellt haben.

K. Liebknecht

1 Von Karl Liebknecht für die 5. Kommission des Internationalen Sozialistenkongresses, der vom 23. bis 29. August 1914 in Wien stattfinden sollte, vorbereitet. Die Red.

2 Bezeichnung für bestechliche zaristische Beamte. Die Red.

3 Am 4. April 1912 wurden die Arbeiter der Lena-Goldfelder in Sibirien, die gegen die unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen streikten, von Gendarmerie zusammengeschossen. Mehr als 500 Menschen wurden getötet und verwundet. Das Blutbad an der Lena löste gewaltige Proteststreiks im zaristischen Russland aus. Die Red.

4 Im Original: 3735. Die Red.

5Eine im zaristischen Russland mit zwangsweiser Deportation und schwerster körperlicher Arbeit verbundene Zuchthausstrafe. Bis 1917 in steigendem Maße von der zaristischen Regierung zur Unterdrückung der revolutionären Bewegung angewandt. Die Red.

6 Unmittelbar nach dem Attentat eines Anarchisten auf die Kaiserin Elisabeth von Österreich am 10. September 1898 hatte die italienische Regierung Vertreter der europäischen Staaten für den 28. November 1898 zu einer Konferenz nach Rom eingeladen, um ein detailliertes System zur gemeinsamen Bekämpfung des Anarchismus auszuarbeiten. Die Red.

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