Karl Liebknecht 19160610 Weitere Bemerkungen zur Anklageschrift

Karl Liebknecht: Weitere Bemerkungen zur Anklageschrift vom 10. Juni 1916 (Die Kriegslügen der deutschen Regierung)

[Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 9, S. 47-56]

An das

Königl. Kommandanturgericht

Berlin

Berlin, den 10. 6. 16

Zur Strafsache gegen mich:

Die Anklageschrift bietet eine Sammlung der Geschichtslegenden und Sprachformeln, die in der großen Zeit, da die deutsche Technik des Massenmordes Triumphe feiert, zu jeder Kundgebung des vorschriftsmäßigen Patriotismus gehören.

Sie variiert den Galimathias von dem „uns freventlich aufgezwungenen Krieg", den schon Anfang August 1914 das deutsche Weißbuch wider Willen grausam verhöhnte. Sie wagt es, in einem Krieg, der mit dem deutschen Überfall auf Belgien begann, von einem Überfall auf Deutschland zu reden.

Warum lässt sie sich die „russische Anstiftung" des Mordes von Sarajevo entgehen, den die deutsch-österreichischen Kriegstreiber als einen Segen des Himmels begrüßten, weil er ihnen die ersehnte Gelegenheit zum Losschlagen bot? Warum den „Befreiungskampf" gegen den Blutzaren, warum „das Krämervolk" des „perfiden Albion" und die „belgischen Franktireur-Bestien", die infam genug waren, ihr Vaterland ohne obrigkeitliche Mordkonzession in einer levée en masse zu verteidigen, ohne sich in der Überstürzung des Augenblicks so gut präparieren und organisieren zu können wie der seit Jahren sprungbereite deutsche Militarismus?A Warum schmückt sie sich nicht auch mit jenen ganz- und halbamtlichen Arabesken, die in den Kriegsfibeln weiterleben, von den vergifteten Brunnen, den erst nach 21 Monaten dementierten Fliegerangriffen auf Nürnberg, den ausgestochenen Augen, abgehackten Händen, pulvergefüllten belgischen Zigaretten usw.? Warum lässt sie die übrigen Requisiten der glanzvollen deutsch-österreichischen Kriegsregie ungenützt?

Warum spricht sie nicht von dem Extrablatt des „Lokal-Anzeigers", das bereits am 30. Juli 1914 die deutsche Mobilisation bekanntgab und auf dessen Geheimgeschichte – als Werk derer an der Moltkebrücke1 – gerade die Kanzlerrede vom 5. d. M. ein neues amtliches Licht wirft?2 Warum nicht von der „Blutschuld", die die russische Regierung durch die russische Mobilisation auf sich geladen habe, während die zynische Provokation des österreichischen Ultimatums an Serbien der gewollte Krieg war; während die Veröffentlichung der Order zu der im Geheimen längst fieberhaft betriebenen deutschen Mobilisation, wie die Kanzlerrede vom 5. d. M. wiederum ergibt, nur aus Gründen der Kriegsdemagogie bis zur Veröffentlichung der russischen Mobilisationsorder verzögert wurde; während die österreichische Mobilisation bereits vor der russischen erfolgt war? Warum nicht davon, dass Österreich schon im Sommer 1913 „unter der Maske eines Verteidigungskriegs" Serbien, gegen das es seit langem eine skandalöse wirtschaftliche und politische Abwürgungspolitik trieb, hatte überfallen wollen? Warum redet sie über den „Hetzkniff" der „Blutschuld" nicht mit der moralischen Überlegenheit des Grafen Reventlow3 („Deutsche Tageszeitung" vom 8. d. M.), dieses Ravachol4 der Weltpolitik, der das Sprachrohr mächtigster Kreise ist? Warum beruft sie sich nicht auf das jetzt konfiszierte Zeugnis Hardens („Zukunft" vom 22. April 1916)?5

Warum schweigt sie vom „Dreizack", der schon vor Dezennien „in unsere Faust" gehörte, und vom „Admiral des Atlantischen Ozeans"?6 Von den seit Jahren ausgearbeiteten Generalstabsplänen für den Einbruch nach Belgien, dessen nachträgliche Rechtfertigung durch die ausgeklügelte Unwahrheit von einer Preisgabe der belgischen Neutralität – durch Anschluss an die Entente – zur Gewalt und zum Treubruch noch die Heuchelei häufte? Von der Tatsache, dass 1913 die deutsche Regierung in Petersburg einen etwaigen russischen Einmarsch in Armenien als Kriegsfall erklärte? Von den geheimen deutschen Waffensendungen von 1913 nach Nordafrika – zur Bewaffnung der Eingeborenen? Von dem unmittelbar vor dem Kriege geschlossenen deutschen Orient- und Afrika-Abkommen mit England, durch das einige die Neutralität Englands erkauft zu haben meinten, während die imperialistischen Scharfmacher, denen es eine unerträgliche Fessel dünkte, es durch Krieg zu zerreißen trachteten? Von der deutschen Riesenwehrvorlage von 1913 und den Wagenmangel-Debatten seit 19137? Von den Besonderheiten des Vertuschungsfeldzuges für Krupp und die anderen Rüstungsinteressenten, der 1913 bereits systematisch einsetzte? Von der finanziellen und sonstigen wirtschaftlichen Kriegsvorbereitung? Von der Geheimgeschichte der waffentechnischen Kriegsvorbereitung Deutschlands, den 42-cm-Mörsern, den Unterseebooten, den Giftgasen usw.?

Warum schafft sie nicht die noch immer verheimlichten Dokumente über die Verhandlungen zwischen Berlin und Wien aus der Zeit vor dem 23. Juli 1914 zur Stelle, nach denen ich im vergangenen Herbst die Regierung im Reichstage formell fragte, eine Anfrage, auf die der Staatssekretär v. Jagow vielsagend auswich?

Die Anklage bestreitet den imperialistischen Charakter des Kriegs und die deutschen Eroberungspläne. Sie möge sich bei den Impresarien der Marokkopolitik, des Panthersprungs nach Agadir8, erkundigen, beim deutschen Generalstab, beim deutschen Kronprinzen, bei Herrn v. Tirpitz, bei Staatssekretär Solf, bei der Deutschen Bank und den übrigen Großbanken, bei der Schwerindustrie, als deren Lebensinteresse die Eroberung des französischen Minettegebietes (Briey und Longwy), möglichst auch des Nord-Departements mit seinen Erzfeldern und Belgiens vor und hinter den Kulissen seit Kriegsbeginn leidenschaftlich verfochten wird, ein Kriegsziel, dem auch die jetzige Offensive auf Verdun, das „Bollwerk des französisch-belgischen Eisenbeckens" („Deutsche Tageszeitung" vom 9. d. M.), ganz wesentlich dient; bei Herrn Ballin und anderen Vertretern des Reedereikapitals (Antwerpen, Calais usw. – vgl. auch „Deutsche Tageszeitung" vom 9. d. M.), bei denen um Rohrbach9, bei den Alldeutschen, bei den mächtigen Wirtschaftsverbänden, die die Denkschrift vom März 1915, bei den deutschen Professoren usw., die die Denkschrift vom Sommer 1915, bei Prof. v. Amira und seinen Eidgenossen, die die Denkschrift vom März 1916 verfassten; beim Flottenverein, bei der Kolonialgesellschaft, bei den Vorständen der bürgerlichen Parteien und Parlamentsfraktionen, bei den Teilnehmern an den Kriegszieldebatten der Budgetkommissionen des Reichs- und Landtags (die geheimen Stenogramme liegen auf den Büros dieser Parlamente!). Auch beim König von Bayern mit seinen dynastischen Aspirationen. Auch vor allen Dingen beim „Admiral des Atlantischen Ozeans" und beim Reichskanzler, dessen Eroberungspläne dem Reichstag – zunächst vertraulich – schon vor Jahr und Tag mitgeteilt wurden, dessen öffentliche Reden eine ganz klare Sprache führen (vgl. u. a. die Reichstagssitzung vom 5. April d. J.) und der in seiner Rede vom 5. d. M. unter der Maske einer Abwehr gegen Angriffe gewisser Annexionshetzer sich zur Befriedigung der eroberungswütigen „Post", „Täglichen Rundschau" und selbst der „Deutschen Tageszeitung" tatsächlich auf die Seite eben dieser Angreifer stellte (vgl. auch „Germania" vom 9. d. M.). Und ist nicht die Redensart von dem Frieden, der „uns für absehbare Zeit gegen einen Überfall (!) der vorliegenden Art sichert", gleich im Beginn des Krieges zur verschleiernden und demagogischen Bezeichnung des imperialistischen Kriegsziels in Kurs gesetzt? Möge man sich die Entrüstung über die Kriegsziele von Staatsmännern anderer Länder sparen.

Die Anklage bestreitet die HungersnotB, unter der die Masse der Bevölkerung seufzt, und versteigt sich zu der Behauptung, es mangle nicht an den erforderlichen Lebensmitteln. Die Reichstagssitzung vom 7. d. M. ist eine drastische Begleitmusik dazu10!

Die beliebte Floskel von dem „schändlichen Aushungerungsplan" (d. h. der Blockade!) Englands (beileibe nicht der deutschen Kriegswucherer, deren Treiben erst durch die Pflichtvergessenheit der deutschen Regierung ermöglicht und gefördert worden ist!) fehlt natürlich nicht. Warum aber lässt sich die Anklage die obligaten Empörungsworte über die amerikanischen Munitionslieferungen entgehen, deren ausdrückliche völkerrechtliche Sanktion auf Drängen der deutschen Regierung zu Nutz und Frommen der Krupp und Genossen in die Haager Verträge11 aufgenommen worden ist?

Die „Friedensbereitschaft" Deutschlands? Die, wie die Anklage schließlich selbst bestätigt, nichts ist als die Bereitschaft, die Unterwerfung der Gegner, die Anerkennung des Sieges der Mittelmächte entgegenzunehmen, d. h. Siegesbereitschaft! Als ob die angeblichen „Friedensreden" des deutschen Kanzlers nicht ein würdiges Gegenstück zu jenem „sentimentalen Friedenskaiserspiel" von Ende Juli 1914 wären, bei dem u. a. an die Solidarität der Fürsten (des Blutzaren und des deutschen Kaisers!) gegen ihre Völker appelliert wurde! Als ob der Theaterkampf, den der Kanzler am 5. d. M. unter dem Anschein führte, als ringe er aus Leibeskräften – ein neuer Laokoon – gegen mächtige annexionswütige Widersacher und strecke die Hände nach der Palme eines neuen „Friedensfürsten" – als ob dieser Kampf nicht in Wirklichkeit aufgeführt worden wäre nur für das beifallsfreudige Parterrepublikum gewisser „Sozialdemokraten", die man noch braucht! Und als ob ihm nicht nach dem Fall des Vorhanges alsbald ein Verbrüderungsfest lachender Auguren gefolgt wäre (vgl. „Post", „Tägliche Rundschau", „Deutsche Tageszeitung"). Als ob dieser Theaterkampf nicht eine bloße Neueinstudierung des klirrenden Turniers Bassermann-Bethmann aus dem August 1915 gewesen wäre! Spiel mit verteilten Rollen! Als ob nicht Graf Reventlow, soweit die deutsche Regierung in Betracht kommt, allen Grund hätte, zu jubeln, dass die Aussicht auf eine Verständigung mit England nun eine „hoffentlich ertrunkene Hoffnung" sei („Deutsche Tageszeitung" vom 7. d.M.).

Und die Stimmung der deutschen Zivilbevölkerung, der deutschen Armee? Nimmt die Anklage, gleich dem Admiralstabsbericht über die Seeschlacht am Skagerrak, „aus militärischen Gründen" Abstand, die ganze Wahrheit auszusprechen? Die jüngsten Reichstagsvorgänge passen vortrefflich zur Idylle, die die Anklage mit allem bukolischen Zauber ausstattet. Einst – lange! – stand ich im Reichstage allein, als Landesverräter katexochen. Andere Sozialdemokraten folgten. Und jetzt? Staatsverräter hin und Landesverräter her – wie ein Ball fliegt das Anklagewort vom Vizekanzler gegen den Konservativen Gräfe, von allerhand „Überpatrioten" gegen den Reichskanzler, von diesem gegen die „Piraten der öffentlichen Meinung", von der Kreissynode Köln-Stadt gegen die agrarischen und kapitalistischen „Wucherer", die „Verbündeten Englands". Ein Mummenschanz! Deutschland wimmelt von Landesverrätern! – Geduld! Es gibt noch Deutsche, die keine Landesverräter sind! Unter den patriotisch gemauserten Vaterlandsfeinden von einst, unter den Aposteln ihrer einstigen Ideale, unter den Sozialpatrioten, die sich Sozialdemokraten nennen; unter den martialisch dröhnenden Parvenü-Patrioten weiland demokratischer Couleur.

Von der Farce zur Tragödie!

Weiß die Anklage nichts von den Friedens- und Nahrungsmitteldemonstrationen und von den Hungerkrawallen in fast allen größeren Städten Deutschlands? Von den Hunderten Jahren Zuchthaus und Gefängnis, die deswegen verhängt wurden? Von dem fast allgemeinen Zensurverbot, diese Vorgänge und diese Prozesse zu publizieren? Von der präsidialen Zensur, die im Reichstage meine Anfragen darüber verhinderte? Weiß sie nichts von der Schutzhaft, die so viele unzufriedene Staatsbürger zwangsweise zur Räson bringen soll? Nichts von der immer häufigeren Strafe des Schützengrabens gegen politisch Verdächtige und Unruhige?

Sie wendet sich von der „feindlichen Lüge", als könne die Ruhe in Deutschland nur mit Gewalt aufrechterhalten werden. Aber ist der Belagerungszustand, der ganz Deutschland wie ein Alp bedrückt, das Volk wie eine schwere Kette zu Boden zieht, etwas anderes als die Gewalt höchster Potenz in ein raffiniertes System gebracht? Von Österreich, diesem Überrussland, ganz zu schweigen.

Die Möglichkeit eines „inneren Zwiespaltes" scheint der Anklage als ein bloßes Gespenst! Die Kirchhofsruhe der Militärdiktatur, die den Verzweiflungsschrei der Massen erstickt, gilt ihr als „Einigkeit"!

Die Anklage rühmt den Geist der deutschen Truppen. Ja, sind denn die Militärgefängnisse und Festungen nicht so überfüllt, dass viele Tausende von bestraften Soldaten in Zivilgefängnisse haben überführt werden müssen? Weiß die Anklage nicht, dass die Fälle von Dienstverweigerung und Ungehorsam in gewissen Teilen der Front sich vielfach so vermehrt haben, dass in geheimen Armeebefehlen die Gefahr einer Zerrüttung der gesamten „Moral" der Truppen betont wurde? Ist ihr unbekannt, dass die Truppen nicht selten nur durch den Revolver der Vorgesetzten vorangetrieben werden konnten, dass nicht nur Einzelne oder kleine Abteilungen, sondern mehrfach auch größere Verbände sich geweigert haben, länger an der Menschenmetzelei teilzunehmen, dem Befehl zum Sturmangriff den Gehorsam verweigert haben usw.? Dass die deutschen Soldaten im Stellungskrieg sehr oft zu den Gegnern in fast kameradschaftliche Beziehungen traten, dass diesem Fraternisieren durch Armeebefehle entgegengewirkt werden musste und laufend durch häufigen Wechsel der Truppen vorgebeugt wird? Ahnt sie gar nicht, wie groß die Zahl der deutschen Soldaten ist, die mit mir eines Sinnes sind?

Täuscht sie sich darüber, dass die von ihr so gerühmte Haltung der leider noch großen Mehrzahl auch der deutschen Soldaten nichts weniger als rühmenswert ist? Steht nicht jeder Soldat, der sich an der imperialistischen Menschenmetzelei teilzunehmen sträubt, moralisch turmhoch über dem, der „mit Begeisterung" daran teilnimmt?

Und die Wurzeln der Tapferkeit, der „Begeisterung" der proletarischen Soldaten? Mangel an Klassenbewusstsein, d. h. falsche Vorstellungen über ihre Situation in der heutigen Gesellschaftsordnung, falsche Vorstellungen, genährt durch jenes System der Täuschung, der geistigen Verkrüppelung, dessen sich die Regierungen, die herrschenden Klassen bedienen; und mangelnde Erkenntnis ihrer geschichtlichen Aufgabe: Das ist der intellektuelle Faktor! – Künstlich erhaltene Unselbständigkeit der Massen, Einschüchterung durch drakonische Disziplin, deren Fünfteltakt nach friderizianischem Rezept ist: „Mehr Angst vor dem Vorgesetzten als vor dem Feinde"; das heißt „Tapferkeit" aus Feigheit, aus Angst! „Tapferkeit" als die Wahl des kleineren Übels! Tapferkeit auch, weil sich der Einzelne im entscheidenden Moment in dringende persönliche „Notwehr" versetzt sieht. Dazu angestachelter Hass und sorgsam gezüchtete Brutalität: Das ist der „moralische" Faktor! – Bei vielen, die sich trotz alledem von diesen intellektuellen und moralischen Rühmlichkeiten gesäubert haben: der Irrtum, durch Siege den Frieden zu fördern, ein Irrwahn, der trotz aller krampfhaften Suggestion nach den Erfahrungen des Kriegs mehr und mehr verfliegt.

Jawohl – die Proletarier-Soldaten, die „mit hohem Schwung", „jubelnd" usw. in den Tod gingen oder noch gehen, sind Opfer eines schändlichen Trugs. Die ganze Anklage aber ist ein Beweis dafür, auf wie brüchigen Pfeilern die gepriesene „Begeisterung" ruht, für die die Regierung und die herrschenden Klassen allerdings auf den Knien danken können und für deren bisherige Erhaltung der heutigen Gesellschaftsordnung allerdings die Krone des Machiavellismus gebührt. Man wagt die Stimmung der Massen, die Disziplin der Truppen keiner sozialistischen Feuerprobe auszusetzen!

Die Anklage wirft mir „herabwürdigende Behandlung der tapferen Männer" vor. Weil ich sie aufrufe, sich aus der Würdelosigkeit ihres jetzigen Zustandes zu lösen! Weil ich den schnöden Missbrauch, den die Herrschenden mit ihnen treiben, weil ich ihre Herabwürdigung durch die Regierenden des Dreiklassenwahlrechts schonungslos aufdecke! Der Vorwurf „herabwürdigender Behandlung" der Soldaten, erhoben in einer Anklageschrift, deren Kern und Ziel eine Verteidigung des Militarismus ist, d. h. jenes Systems, das die Negation aller Menschenwürde bedeutet, das die „tapferen Männer" mit allen Mitteln der Vergewaltigung in willenlose Maschinen zu verwandeln sucht, dessen tägliches Brot Beschimpfungen und Misshandlungen der „tapferen Männer" sind – auch jetzt im „Volkskrieg", dessen Lebenszweck es ist, die Massen des Proletariats für Kapitalismus und Absolutismus zum Brudermord gegen ihre Klassengenossen im Ausland und nicht minder gegen ihre Klassengenossen im eigenen Land (den „inneren Feind") zu treiben! Der Vorwurf herabwürdigender Behandlung der „tapferen Männer", erhoben vom deutschen Militarismus, auf dessen Haupt – mehr als auf ein anderes – das Blut des belgischen Volkes und aller der im Krieg hingeschlachteten Millionen kommt, an dessen Händen auch das Blut streikender und um ihre Befreiung kämpfender deutscher Arbeiter klebt!

Über die Legalität derer, die sich über meine Illegalität entrüsten, ist genug gesagt; über die Verfassungswidrigkeit des Belagerungszustandes, über die wirklichen Landesverräter.

Wer hat das Gesetz verletzt? Die Verfassung umgestürzt? Die Regierung! Die Militärgewalt! Meine Verfolger!

Wer trägt die Schuld an der Erregung der Massen, an ihren Demonstrationen und Verzweiflungsausbrüchen? Die Verantwortlichen des Krieges, des Belagerungszustandes, des politischen und wirtschaftlichen Elends, dem das Volk überantwortet ist! Die Regierung! Meine Verfolger!

Will man mir die Pflicht ansinnen, mich dem Imperialismus, dieser Zusammenfassung aller dem Proletariat todfeindlichen Kräfte, zu verbünden? Das elementare Recht der Arbeiterklasse auf Selbstbestimmung, das Gebot des Klassenkampfes und der internationalen Solidarität stehen in erhabener Souveränität über jenen angemaßten Privilegien der herrschenden Klassen, denen heute noch Mark und Leben des Volkes ausgeliefert sind.

Ich, der ich die Klassengesellschaft, den Krieg und den Militarismus grundsätzlich ablehne, anerkenne kein Gebot und kein Verbot, auch kein militärisches, das meinen politischen und sozialen Pflichten widerstreitet; auch nicht das Gebot: „Morde deinen Nächsten!" Und dafür stehen mir bessere Gründe zur Seite als der deutschen Heeresleitung, die jenes „Not kennt kein Gebot" zur Maxime ihres Handelns erhob und das Völkerrecht zerfetzte.

Ich weiß mich dabei eins mit einer rasch wachsenden Zahl von Proletariern im Felde und in der Heimat. Und wenn der Kanzler jüngst verkündete: „Mit denen um Liebknecht" werde „das Volk nach dem Kriege abrechnen", so habe ich das Vertrauen, dass sich die Abrechnung des Volkes nach einer ganz anderen Seite richten wird – und hoffentlich gründlich und nicht erst nach dem Kriege.

Armierungssoldat Liebknecht

A Vor hundert Jahren, im deutschen Befreiungskrieg, fand bekanntlich die preußische Regierung die „echt preußische Idee" (Friedrich Engels) von der Verruchtheit unkonzessionierter Vaterlandsverteidiger so absurd, dass sie die Pflicht zum grausamsten Franktireurkrieg verkündete. Übrigens wurde im deutschen Osten nach dem Geständnis deutscher Zeitungen ganz munter gegen die Russen franktiriert. Die deutsche Scharfmacherpresse warf mir voller Verachtung vor, dass ich im September 1914 bei Löwen abgelehnt hätte, gegen ausfallende belgische Truppen mit zu franktirieren.

1 An der Moltkebrücke in Berlin hatte der Generalstab seinen Sitz. Die Red.

2 Am 5. Juni 1916 versuchte Bethmann Hollweg im Reichstag erneut, die Lüge vom deutschen Verteidigungskrieg und von den Friedensbemühungen der deutschen Regierung durch Hinweise auf die Vorgänge im Sommer 1914 zu begründen. Bei der Rechtfertigung gegenüber dem Vorwurf in einer anonymen Denkschrift, er habe die Mobilmachung um drei Tage verzögert und Deutschland dadurch großen Schaden zugefügt, gestand Bethmann Hollweg ein, dass diese Verzögerung u. a. dazu gedient habe, Russland die Schuld am Kriege zuschieben zu können. Er erklärte wörtlich, „dass, wenn wir diese drei Tage früher die Mobilmachung erklärt hätten, wir die Blutschuld auf uns geladen hätten, die Russland auf sich nahm, indem es … entgegen den heiligen uns gegebenen Versprechungen seinerseits mobilisierte". (Verhandlungen des Reichstags, XIII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 507, Berlin 1916, S. 1511.)

3 Ernst Graf zu Reventlow (1869-1943), bis 1899 aktiver Seeoffizier, dann Schriftsteller, marinetechnischer Berater an einigen Zeitungen, z. B. „Berliner Tageblatt", „Kreuz-Zeitung", „Deutsche Tageszeitung"; trat während des ersten Weltkrieges für eine rücksichtslose Kriegführung mit allen Mitteln ein, besonders im U-Boot-Krieg; war Hauptvertreter eines annexionistischen Friedens. Die Red.

4 Ravachol – genannt Leon Leger; französischer Terrorist, 1892 in Montbrison hingerichtet. Die Red.

5  Gemeint ist der Artikel „Wenn ich Wilson wäre", in dem der Verfasser aus der Sicht des Präsidenten der USA in teils ironischer Form den Krieg in Europa beurteilt. Im Artikel wird davon ausgegangen, dass alle kriegführenden Länder am Krieg schuldig sind, „unterschieden nur durch die Schuldlast und durch die Zeit ihrer Sünde" (Die Zukunft [Berlin], XXIV. Jg., 22. April 1916, S. 68). Über Deutschlands Anteil am Kriege heißt es: „In allen Zonen nisten Deutsche sich ein und arbeiten emsig, emsiger als irgendein Wettbewerber, für das Kapital und die Flagge des Vaterlandes. Das bedenkt nun, leider, nicht, dass es für so steilen Aufstieg, für so beispiellos auf jedem Tatgebiet blühenden Erfolg nur durch würdig bescheidene Stille Verzeihung erlangen könnte; auch nicht, dass die Feinde, auf deren Kosten es in Größe wuchs, noch leben, manche noch rüstig sind. Sein Schwert klirrt und aus schimmernder Wehr tönt oft die Verkündung der Absicht auf ein weiteres Machtgebiet" (ebenda, S. 69). Der Artikel orientierte auf einen Waffenstillstand.

6 Aussprüche Wilhelms II., die dem Streben des deutschen Imperialismus nach der Vormachtstellung auf dem Meer entsprachen, um so die aggressiven Eroberungspläne auch gegen England durchsetzen zu können. Die Red.

7 Im November 1912 hatte die sozialdemokratische Fraktion im Reichstag eine Interpellation zu dem außerordentlichen Waggonmangel bei den preußischen Eisenbahnen eingebracht, der sich besonders im niederrheinisch-westfälischen und oberschlesischen Industriegebiet bemerkbar gemacht und bei den Bergarbeitern zu Zwangsfeierschichten und Lohnausfall geführt hatte. Bei der Behandlung dieser Interpellation im Januar 1913 enthüllte Wilhelm Dittmann, dass außer schon bekannten auch militärpolitische Gründe für den Wagenmangel und für Verkehrsstockungen vorgelegen haben. Er verwies darauf, dass im Herbst 1912, bei Beginn des Balkankrieges, im Hinblick auf eine etwaige Mobilmachung Waggons zurückgehalten wurden und dass am 26. Oktober 1912 das gesamte Bahnnetz am linken Niederrhein auf vier Tage gesperrt worden war.

8 Anfang Juli 1911 wurde durch die Entsendung der deutschen Kriegsschiffe „Panther" und „Berlin" nach. Agadir versucht, die Forderungen deutscher Monopole in Marokko gegenüber Frankreich durchzusetzen. Durch diese Provokation wurde die zweite Marokkokrise ausgelöst und die Gefahr eines imperialistischen Krieges heraufbeschworen.

9 Paul Rohrbach (geb. 1869), chauvinistischer Schriftsteller, der den Kampf des deutschen Imperialismus um die gewaltsame Neuaufteilung der Welt zu rechtfertigen suchte; trat vor allem für die Expansionslinie Südosteuropa- Kleinasien ein. Die Red.

B Man spricht von einer „gut organisierten Hungersnot": Selbst das ist euphemistisch!

10 Der am 7. Juni 1916 im Reichstag erstattete Bericht der Kommission für den Reichshaushaltsetat über Ernährungsfragen und die anschließende ausführliche Debatte machten deutlich, wie angespannt die Lage auf dem Gebiet der Lebensmittelversorgung in Deutschland war. Was die Bevölkerung zu erwarten hatte, zeigte der Berichterstatter, der zu der Feststellung gezwungen war, „dass die Einschränkungen und Schwierigkeiten größer geworden sind als zuvor" und „dass jetzt auf dem weiten Gebiet der Lebensmittelversorgung Mangel und … Entbehrungen ertragen werden müssen". (Verhandlungen des Reichstags, XIII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 308, Berlin 1916, S. 1593/1594.) Auch kam man nicht umhin zu erwähnen, dass es in einigen Städten schon zu Lebensmittelunruhen gekommen war.

11 Von den 1899 und 1907 im Haag abgehaltenen sog. Friedenskonferenzen abgeschlossene Konventionen. Die erste Konferenz an der sich 26 Staaten beteiligten, schloss u. a. Vereinbarungen über die friedliche Beilegung internationaler Streitigkeiten und über die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges (Haager Landkriegsordnung). Die zweite Konferenz mit einer Beteiligung von über 40 Staaten beschloss u. a. Konventionen über Rechte und Pflichten der Neutralen im Landkrieg und über die Seekriegführung sowie eine Erweiterung der Haager Landkriegs Ordnung. Zu Vereinbarungen in Abrüstungsfragen führten beide Konferenzen nicht. Besonders die deutschen Imperialisten wollten sich in ihrer Kriegspolitik nicht durch internationale Verträge binden lassen.

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