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Rosa Luxemburg 19040419 Der russische Terroristen-Prozess

Rosa Luxemburg: Der russische Terroristen-Prozess

[Vorwärts (Berlin), 21. Nr. 91 (Dienstag, 19. April 1904), S. 1, Sp. 1-3, verglichen mit der Wiedergabe in Gesammelte Werke, Band 6, Berlin 2014, S. 494-498]

Man schreibt uns:

Jetzt erst hat der Prozess der russischen Terroristen Gerschuni und Genossen, der auch in Deutschland so viel Aufsehen erregt hat, seinen Abschluss gefunden. Über den Prozess kursierten in der Presse verschiedene Gerüchte: Bald hieß es, der Führer der abgeurteilten Gruppe, Gerschuni, hätte kniefällig um Gnade gebeten, bald kam die Nachricht, der Urheber des Attentats auf den Fürsten Obolenski Katschura hätte stark belastende Aussagen über seine Genossen gemacht, dann wurde die Nachricht wieder dementiert und die bereits vollzogene Hinrichtung dreier Angeklagter gemeldet. Jetzt stellt es sich heraus, dass die allerdings zum Tode Verurteilten, wie das „Berliner Tageblatt" zu melden weiß, schließlich zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe „begnadigt" wurden. Bevor nun die russische Regierung ihre Lügen zu einem offiziellen Bericht zusammenflickt, sind wir in der Lage, auf Grund des von dem Struveschen „Oswoboschdjenije" veröffentlichten ungekürzten Originaltextes der gerichtlichen Anklageschrift über diesen Prozess näheren Aufschluss zu geben.

Die Gerichtsverhandlung vor dem Petersburger Bezirks-Kriegsgericht hat am 2. März d. J. und in folgenden Tagen unter dem Vorsitz des Herrn von Osten-Sacken stattgefunden. Angeklagt waren fünf Personen: der Apotheker Hirsch Gerschuni (der in der deutschen Presse missverständlich als Arzt und Stabskapitän figurierte) aus Litauen, Aron Weizenfeld aus Schitomir (Wolhynien), Michael Melnikow, ferner Leutnant der Artillerie Eugen Grigorjew und Frl. Ludmilla Remjannikowa. Die Anklage legt den Genannten die Teilnahme an drei terroristischen Attentaten zur Last, die im Jahre 1902 und 1903 ausgeführt wurden. Am 15. April 1902 ist bekanntlich der Minister des Innern Sipjagin dem Studenten Balmaschkow getötet worden, im August hat der Arbeiter Katschura Charkow auf den Gouverneur Obolenski geschossen, endlich im Mai 1903 ist der Gouverneur von Ufa Bogdanowitsch von zwei unbekannten Personen im städtischen Park erschossen worden. Außerdem werden die Angeklagten beschuldigt, zum Attentat auf Pobjedonoszew im April und Mai 1902 Vorbereitungen getroffen zu haben.

Es muss vorausgeschickt werden, dass die Anklageschrift einen äußerst peinlichen Eindruck macht. Sie stützt sich vor allem auf den Verrat zweier Mitglieder der terroristischen Gruppe: des Leutnants Grigorjew des Arbeiters Katschura. Ersterer, verhaftet am 21. Februar 1903 als erster von der Gruppe, und zwar festgenommen unter sonst für ihn ziemlich günstigen Verhältnissen – man hat bei ihm nur etwas Literatur der Sozialistischen Revolutionären Partei gefunden, und tatsächlich war er an keinem Attentat beteiligt – begann jedoch sofort die eingehendsten und ausführlichsten Angaben über seine Genossen zu machen, machte alle seine Bekanntschaften namhaft, schilderte mit allen Details die Zusammenkünfte, Gespräche, erkannte die Genossen in den ihm von den Gendarmen vorgelegten Fotografien, mit einem Worte: verriet absolut alles, was er wusste, offenbar in der Hoffnung, sich selbst durch die Aufopferung der Genossen die Gnade der Gendarmerie und des Gerichts zu erkaufen. Er war darin noch von seiner Frau, einer Jurkowskaja, aufs beste unterstützt, deren Bruder, also den eigenen Schwager, der reumütige Sünder zum Überfluss auch den Gendarmen denunzierte. (Übrigens sind Jurkowskaja und ihr Bruder in diesem Prozess nicht mit angeklagt worden.) Die Geständnisse der beiden sind denn auch für die Melnikow, Remjannikowa, vor allem aber für Gerschuni verhängnisvoll geworden. Melnikow war zwar bereits vor der Verhaftung Grigorjews, am 8. Februar 1903, jedoch unter einem falschen Namen festgenommen worden, so dass die Polizei über seine Persönlichkeit noch nicht im Klaren war und erst durch die Aussagen Grigorjews in seine ganze Tätigkeit Einblick gewann. Die Remjannikowa aber und Gerschuni sind direkt auf Grund der Angaben Grigorjews am 25. Februar resp. 26. Mai 1903 verhaftet worden.

Der Schreiner Katschura, der in diesem Prozess als zweiter Belastungszeuge fungierte, war für sein Attentat auf den Fürsten Obolenski bereits am 8. November 1902 zum Tode verurteilt und dann „auf Verwendung des Fürsten Obolenski" zur Zwangsarbeit begnadigt worden. Während der Untersuchungshaft sowie vor dem Gericht trat Katschura seiner Zeit mit großer Festigkeit auf, und sein Abschiedsbrief an die Genossen, in dem er seine Ansichten über den Terrorismus und die Motive seiner Tat darlegt, hat seinerzeit in revolutionären Kreisen, auch auf diejenigen, die seine Selbstbekenntnisse in politischer Hinsicht unreif finden mussten, tiefen Eindruck gemacht. „Ich bin", schrieb Katschura, „der Organisation der Terroristen beigetreten, weil ich überzeugt bin, dass es ihr gelingen wird, die Regierung davon abzugewöhnen, uns mit der Knute und mit rauer Faust zu bekämpfen. Ich bin überzeugt, dass es ihr gelingen wird, der Arbeiterbewegung wie der Bauernbewegung freien Spielraum zu erringen. Für einen solchen Zweck ist kein Opfer zu groß, und wenn mein Leben dafür erforderlich ist, so schätze ich mich glücklich, es für eine so heilige Sache hergeben zu dürfen." Der Mann, der diese Worte schrieb, wurde offenbar bald darauf in dem schweren Kerker von den Schergen der Zarenregierung soweit zermürbt, dass er im Juli vorigen Jahres bereit war – wenn man der Anklageschrift Glauben schenken will –, ein reumütiges Bekenntnis abzulegen und gab nun alles, was er wusste, an, wobei er seine Genossen Gerschuni und Weizenfeld belastete. Letzterer, dem es bis dahin gelungen war, der Aufmerksamkeit der Polizei zu entgehen, wurde denn auch gleich darauf in Jekaterinoslaw verhaftet, und so hatte die Gendarmerie die Fäden in ihrer Hand.

Es ist nun selbstverständlich, dass es Verräter, wie den Leutnant Grigorjew, und Schwachmütige, wie den armen Katschura, überall und stets bei einem revolutionären Kampf gegeben hat und gibt – zumal in einem wie dem terroristischen in Russland, der die höchsten Anforderungen an die Seelenstärke und die Selbstaufopferung des Menschen stellt.

Allein der auf diesen Verrätereien gegründete Prozess macht in diesem Falle zweifellos den Eindruck einer großen inneren Schwäche der terroristischen Richtung in Russland. Nachdem man sich nämlich aus allen Einzelheiten ein allgemeines Bild der Tätigkeit der terroristischen Organisation zu machen sucht, kommt man unwillkürlich zu dem Schluss, dass hier eigentlich nur ein ganzer und allerdings mit großer Seelenkraft begabter Mann eine Rolle spielte – der Gerschuni –, das übrige aber mehr revolutionärer Schein war als eine ernste Bewegung und eine Organisation. In der Anklage wird allen fünf Angeklagten die Zugehörigkeit zu der vielgenannten „Bojewaja Organisazia" – „Kampforganisation" – zur Last gelegt. Es wird aus den Akten der Anklage aber selbst klar, dass z. B. die „Zugehörigkeit" des Grigorjew, des Katschura, des Weizenfeld zur „Kampforganisation" lediglich darin bestand, dass sie immer wieder mit demselben Gerschuni und nur mit ihm, der bald in Petersburg, bald in Kiew, bald in Charkow auftauchte, verkehrten, im Übrigen aber von der Zusammensetzung, den Funktionen, den Mitteln dieser geheimnisvollen „Organisation" nicht die leiseste Ahnung hatten. Am Ende dürfte diese ganze „Organisation" vielleicht wenig mehr als aus Gerschuni selbst bestanden haben. Die materielle Schwäche dieses Treibens zeigt schon die Tatsache, dass Gerschuni einen so innerlich haltlosen Menschen wie den Leutnant Grigorjew, der nach allen seinen Verrätereien noch im Gerichtssaal auf die Knie fiel und um die Gnade des Zaren flehte, mit der Ausführung eines Attentats auf den Oberprokurator der Synode Pobedonoszew beauftragen, ihn dazu direkt drängen konnte. Ebenso wie den Grigorjew hatte Gerschuni auch den Katschura durch die ganze Einwirkung seiner offenbar faszinierenden Persönlichkeit zur Ausführung des Attentats auf Obolenski bewogen. In beiden Fällen aber verflog eben der Heroismus, sobald die persönliche Einwirkung Gerschunis beseitigt war. So heißt es, dass jener ergreifende Abschiedsbrief von Katschura von Gerschuni vor dem Attentat direkt in die Feder diktiert und dann sogleich von Gerschuni wieder abgenommen wurde. Genauso verfuhr Gerschuni mit dem Grigorjew, den er unbedingt dazu anhalten wollte, vor der Ausführung des geplanten Attentats auf Pobedonoszew ein politisches Bekenntnis im terroristischen Sinne schriftlich abzufassen.

Im Ganzen lässt sich aus dem Prozess von Gerschuni und Genossen deutlich herausfühlen, wie sehr die terroristische Bewegung in Russland heutzutage des Bodens entbehrt, wie sie gewissermaßen in der Luft hängt. Dass die ersten Attentate in den Jahren 1901 und 1902 – die von Karpowitsch und Balmaschkow – nur spontane und individuelle Akte der Erbitterung, der Notwehr waren, unterliegt kaum einem Zweifel. Diese ersten Ausbrüche der oppositionellen und revolutionären Anspannung der Energie in der russischen Gesellschaft kamen von selbst, genauso wie jener Schuss von Wera Sassulitsch auf Trepow im Jahre 1878 von selbst kam, als einfache naturnotwendige Reaktion auf die unmenschlichen, unerträglichen Bestialitäten verschiedener Diener des Absolutismus. Sie kamen unerwartet für die Gesellschaft, wirkten aber sofort wie ein befreiender Akt der Ermannung, der Erlösung aus der dumpfen Atmosphäre des knechtischen Schweigens und Duldens gegenüber allen Zumutungen des vertierten und vertierenden Regimes. Wir glauben auch, dass solche spontanen Notwehrakte für jeden zivilisierten Menschen vollkommen begreiflich sind, der nur eine Ahnung von den Schrecknissen des russischen Absolutismus hat und der sich die Welt nicht aus der Perspektive des preußischen Regierungsrates ansieht, für den nur die Personen der Regierenden heilig, nur ihre Ehre ein unantastbares Gut ist. Freilich verstehen es unsere Geheimräte sehr gut, gegen die afrikanischen Hereros, gegen die „bezopften Chinesen" zum „Rachefeldzug" zu hetzen und für jedes vernichtete Leben eines deutschen Kolonialabenteurers ein Leben – nein, Tausende von Leben als „Sühne" zu fordern; sie verstehen es wohl, für „die Ehre der Deutschen" nach Rache zu schreien, sobald irgendwo in Honolulu oder in Patagonien irgendjemand die Deutschen „mit scheelem Blicke" anzusehen wagt. Sie begreifen bloß nicht, dass zum Beispiel auch im russischen Volke, dessen Wohl und Menschenwürde tagtäglich aufs Grausamste von der eignen Regierung mit Füßen getreten wird, sich von Zeit zu Zeit die Verzweiflung in einzelnen Gewaltakten Luft macht. Wir unsererseits begreifen diese Erscheinungen vollkommen. Eine ganz andere Sache ist es allerdings, wie man solche terroristischen Akte als politisches Kampfmittel beurteilt. Und da muss gesagt werden, dass das Aufkommen des Terrorismus in Russland – wie paradox dies auch klingen mag – stets ein Zeichen der Schwäche der revolutionären Bewegung ist. Das Bedürfnis, in Attentaten auf einzelne Träger des Absolutismus der aufgespeicherten Erbitterung und Qual Luft zu machen, kommt nur in Momenten auf, wo keine ernste Massenbewegung als normaler Ausdruck und zugleich Sicherheitsventil der revolutionären Energie und des oppositionellen Geistes fungiert. Tatsächlich ist die terroristische Taktik aus der Enttäuschung nach den misslungenen Versuchen der siebziger Jahre, eine bäuerliche Massenbewegung ins Leben zu rufen, entstanden.

Andererseits trägt der terroristische Kampf in sich selbst als politisches Unternehmen den Beweis seiner inneren Schwäche. Läuft er doch auf den Plan hinaus, den Absolutismus durch die Furcht vor einer unsichtbaren, geheimnisvollen revolutionären Macht einzuschüchtern und zu Konzessionen oder gar zum Abdanken zu zwingen. Nun ist es aber höchst naiv zu glauben, dass irgendwelche Regierung vor einem unsichtbaren Feind, der nur ein halb mystisches Dasein führt, kapitulieren würde, dies tut sie nur vor einer sichtbaren, greifbaren realen Macht, die ihr begründete Furcht und Respekt einjagen kann, und eine solche Macht ist nur eine wirkliche klassenbewusste Volksbewegung, die als Ausdruck herangereifter historischer Notwendigkeiten auftritt. Zur terroristischen Bewegung hingegen genügt schon an sich, wie dies wieder der Gerschuni-Prozess so schlagend beweist, nur ein ganz winziger Kreis von Personen, die an sich von der sozialen Entwicklung und Bewegung des Landes ganz losgelöst sein können und deren Schwäche der Absolutismus nur zu leicht ergründen kann.

Derselbe Prozess zeigt aber auch deutlich, wie sehr sich das soziale Leben Russlands entwickelt hat, wie sehr sich die Verhältnisse geändert haben. Heute sind nicht nur alle theoretischen Voraussetzungen und Glaubensartikel der alten Terroristen – die geschichtliche Mission der kommunistischen Landgemeinde, die Bedeutung des Bauerntums als des künftigen Trägers der sozialistischen Umwälzung – von der marxistischen Kritik restlos weggespült worden. Heute gibt es auch bereits eine ernste und wachsende Massenbewegung des industriellen Proletariats in Russland, die naturgemäß die revolutionäre Energie des Landes absorbiert und Hoffnungen auf sich vereinigt. Und da findet der systematische Terror keinen Grund unter den Füßen, keine geeignete Atmosphäre, um eine ernste Bewegung, wenn auch nur wieder als ein verunglücktes Experiment für einige Jahre, ins Leben zu rufen. Der politische Tageskampf der Arbeiterschaft kann durch die Terroristen nur aufs Schwerste geschädigt und gefährdet werden, indem der Terror der Arbeiterbewegung immerhin Kräfte entzieht und falsche Illusionen erweckt. Und der Terror seinerseits vermag von der heutigen Arbeiterbewegung in Russland nicht frische Kraft zu schöpfen, sondern verliert umgekehrt in ihrer Atmosphäre naturgemäß den inneren Halt, den inneren Glauben an sich und die Werbekraft. Einzelne terroristische Akte werden wohl in Russland noch vorkommen, und sie werden wahrscheinlich so lange noch vorkommen, wie der zaristische Absolutismus existiert, denn – das mögen sich die Herren Bülow, Schönstedt und Richthofen bei ihrer Jagd nach Schnorrern, Verschwörern und Anarchisten gesagt sein lassen – der Absolutismus in Russland produziert den spontanen Terror ebenso naturgemäß, wie die Klassenherrschaft der Bourgeoisie in Westeuropa den Anarchismus produziert. Aber wie hier die Sozialdemokratie das einzige wirkliche Mittel gegen den anarchistischen Wahnwitz, so hat sich die im Geiste des Marxismus herangewachsene russische Arbeiterbewegung als das sicherste Mittel gegen die Illusionen des Terrorismus erwiesen. Die Zeiten des systematischen Terrors sind in Russland vorbei, und das beweist gerade der tief-tragische Prozess der Gerschuni und Genossen.

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