Rosa Luxemburg‎ > ‎1912‎ > ‎

Rosa Luxemburg 19120914 Blinder Eifer

Rosa Luxemburg: Blinder Eifer

[Vorwärts (Berlin), Nr. 215 vom 14. September 1912. Nach Gesammelte Schriften, Band 3, 1973, S. 173-176]

[Am Montag sandte uns Genossin Rosa Luxemburg eine Zuschrift zum Fall Radek. Da wir der Ansicht sind, dass diese Affäre sich sehr wenig zur Diskussion vor der deutschen Parteiöffentlichkeit eignet, ersuchten wir Genossin Luxemburg, ihre Abwehr in der „Bremer Bürger-Zeitung" zu veröffentlichen, die mit großem Eifer eine Kampagne für Karl Radek führt. Genossin Luxemburg sandte darauf ihre Einsendung an unser Bremer Parteiblatt. Dieses sah sich jedoch nicht veranlasst, der Zuschrift der Genossin Luxemburg Raum zu geben. Wir fühlen uns deshalb nunmehr, wo Genossin Luxemburg ihren Wunsch wiederholt, [verpflichtet,] ihr als der in Deutschland bekanntesten Vertreterin der Sozialdemokratie Polens und Litauens die Möglichkeit zu verschaffen, zur Abwehr gegen sehr heftige Anklagen zu Worte zu kommen. Genossin Luxemburg schreibt:]

Die „Bremer Bürger-Zeitung" beobachtet im Fall Radek eine Haltung, der gegenüber man gerade dann nicht schweigen kann, wenn einem die Interessen und das Ansehen der radikalen Richtung in der Partei am Herzen liegen. Nummer für Nummer betreiben unsere Bremer Freunde eine larmoyante Agitation, die den Zweck hat, die polnischen Parteiinstanzen, die Radek verurteilt haben, in jeder Weise herunterzureißen, sie der gewissenlosesten Tendenzgerichtsbarkeit zu beschuldigen, um Radek in geschmackvoller Parallele mit Pfarrer Traub, den Märtyrer seiner Ansichten, hinzustellen. Dass Radek seinerseits Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um sich als das Opfer eines versuchten Justizmordes auszugeben, ist menschlich verständlich. Dass allerlei gekränkte Leberwürste unter den polnischen Studenten und Emigranten im Auslande sowie alle Elemente, denen der polnische Parteivorstand je auf die Hühneraugen getreten ist, ihrerseits, von Radek bestürmt, gern die Gelegenheit ergreifen, um mal in der Öffentlichkeit ihrer „tiefsten Überzeugung" von der Grundschlechtigkeit der Führer der polnischen Sozialdemokratie Ausdruck zu geben, das ist wiederum nichts Überraschendes und kann jemandem, der die Verhältnisse kennt, je nach dem nur widerlich oder lächerlich vorkommen. Besonders rührend wirkt z. B. der feierliche Schwur des russischen Kronzeugen Radeks, „des greisen Gründers der Sozialdemokratie Russlands", Axelrods, und seiner Freunde, die uns da erzählen, dass in der russischen „Parteigerichtsverfahrungspraxis" keine außerordentlichen Gerichte bekannt seien und dass dort alles so schön „mit weitesten Rechtsgarantien für den Angeklagten" und allen Formalitäten ablaufe, beinahe wie vor dem englischen Hause der Lords. Dabei weiß jedermann, der in den Dingen nicht ganz unbewandert ist, dass gerade in der Emigrantenwelt der russischen Partei infolge der Fraktionskämpfe leider das wildeste Faustrecht tobt, wovon die bekannte Broschüre Martows1, eines der Freunde „des greisen Gründers" (auch ins Deutsche übersetzt), ein ausreichendes Beispiel bildet. Jedermann weiß, dass in jenen Kreisen nicht bloß einzelne, sondern ganze „angeklagte" Gruppen und Richtungen ohne ordentliches und ohne außerordentliches Gerichtsverfahren einfach von einer gegnerischen Gruppe oder Fraktion in der Hitze des Gefechts für ausgeschlossen aus der Partei und aller Ehre verlustig erklärt werden. Hat es doch diese schöne „Parteigerichtsverfahrungspraxis", gegen die sich gerade die polnische Sozialdemokratie seit jeher in schärfster Weise wendet, zu guter Letzt dahin gebracht, dass man den „greisen Gründer" und seine Freunde heute fragen muss, wo denn jene russische Gesamtpartei eigentlich existiere, von der sie reden, und was von ihr außer Trümmern noch übrig geblieben ist?

Ferner weiß jedermann, der die Verhältnisse kennt, dass die jetzigen sechs Kronzeugen Radeks ausgerechnet jene Richtung der russischen Bewegung vertreten, die Radek vor zwei Jahren in der deutschen Parteipresse selbst als die „Liquidatorenrichtung", d. h. den äußersten opportunistischen Flügel, gekennzeichnet hat. Wer wird sich wundern, dass diese russischen Genossen gegen die polnische Parteileitung den größten Hass empfinden und ihm gern bei dieser Gelegenheit Ausdruck verleihen, wenn man weiß, dass die polnischen Parteiführer nicht bloß aus der polnischen Bewegung einen starken Damm gegen die opportunistische Richtung errichtet haben, sondern dass sie auch als Mitglieder des russischen Zentralkomitees geholfen haben, jene Richtung in Russland selbst mit starker Faust jahrelang niederzuhalten, und dadurch in schärfsten Gegensatz zu Axelrod und seinen Freunden geraten sind.

Dies alles gehört zu den wenig erquicklichen Interna der russischen Bewegung, die in die deutsche Presse hinein zu zerren sicher weder klug noch notwendig war. Dass aber ein ernstes deutsches Parteiblatt auf diese ganze Mache so blindlings hereinfällt und noch ohne jegliche nähere Kenntnis der Sache und der Verhältnisse, einzig und allein auf die Sachdarstellung Radeks hin, sich herausnimmt, die Führer und Instanzen einer Bruderpartei öffentlich in schwerster Weise zu verdächtigen – der redaktionelle Leitartikel vom 9. d. M. leistet sich in dieser Hinsicht so ziemlich das Unerhörteste, was man sich vorstellen kann –, das finde ich einfach unverzeihlich. Die „Bremer Bürger-Zeitung" wendet sich mit Recht gegen das Treiben der opportunistischen Blätter, welche die Person Radeks partout mit der Göppinger Sache und überhaupt mit der radikalen Richtung verkoppeln möchten. Es ist aber dieselbe widersinnige Taktik von umgekehrter Seite, wenn unsere Bremer Freunde gewaltsam die Radeksche Person zur Fahne des Radikalismus machen wollen. Dabei erledigt sich die Legende von dem politischen Märtyrertum Radeks durch zwei ganz einfache Tatsachen. Erstens sind die polnischen Wortführer ohne Ausnahme selbst Vertreter der radikalen Richtung und haben – jeder einzelne von ihnen – in ihrer 20-jährigen Arbeit in der russisch-polnischen Bewegung mehr für die Sache des revolutionären Marxismus geleistet als zwei Dutzend Radeks. Zweitens hat Radek nie in der polnischen Bewegung die geringste Rolle als Vertreter irgendeiner besonderen Richtung gespielt, nie an der Bestimmung der Haltung dieser Partei in prinzipieller und taktischer Hinsicht im geringsten teilgenommen, überhaupt ist nie in den brennenden Fragen der Theorie und der Taktik meines Wissens auch nur ein polnischer Artikel von ihm veröffentlicht worden. Mir ist nur ein nicht veröffentlichter Artikel Radeks in einer taktischen Streitfrage nachträglich bekannt geworden: Es war dies eine Befürwortung der „neutralen" Gewerkschaften, wie sie in Polen von der opportunistischen PPS im Gegensatz zu den sozialdemokratischen Gewerkschaften praktiziert wurden. (Der Artikel befindet sich in der Abschrift noch im Besitz der Redaktion.) Die „taktischen" Ideen der jüngsten Opposition Radeks gegen den polnischen Parteivorstand sind für mich bis jetzt ein Geheimnis.

Und schließlich ist der „Bremer Bürger-Zeitung" bekannt, dass der polnische Parteivorstand das zweifelhafte Vergnügen, sich mit der Radekschen Angelegenheit zu befassen, wiederholt und dringend der deutschen Partei abzutreten wünschte und nur nach formeller Ablehnung von dieser Seite in den sauren Apfel beißen musste.

Die Bremer Freunde werden also wohl gut tun, die Sache etwas ruhiger und vorsichtiger anzufassen. Durch derartig blinden Eifer nützt man der Sache des Radikalismus nicht, man kann ihr eher schaden.

1 L. Martoff: Retter oder Zerstörer? (Wie und wer zerstörte die Russische Sozial-Demokratische Arbeiter-Partei), Paris 1911.

Kommentare