Rosa Luxemburg 19050222 Der Bittgang des Proletariats

Rosa Luxemburg: Der Bittgang des Proletariats

[Die Neue Zeit (Stuttgart), 23. Jg. 1904/05, Erster Band, S. 711-714. Nach Gesammelte Werke Band 1/2, 1970, S. 523-527]

Nichts ist so geeignet, unser Denken nach allen Richtungen hin mit einem Schlage von den beengenden Fesseln der Schablone zu befreien, wie eine revolutionäre Periode. Die wirkliche Geschichte ist, wie die schaffende Natur, viel bizarrer und reicher in ihren Einfällen als der klassifizierende und systematisierende Pedant.

Als die erste Kunde von dem Bittgang der Petersburger Arbeiterschaft an den Zaren nach dem Ausland kam, da erweckte sie allgemein sehr gemischte und zweifellos bedrückte Gefühle. Ein seltsam Bild primitiver Naivität mit einem tragisch-großen Zuge zugleich, umflort von mystischem, fremdem und befremdendem Schleier, bot sich da dem realistischen Auge des nüchternen Europäers, der über die verhängnisvolle Verblendung eines ganzen Volkes bedauernd den Kopf schüttelte. Erst das Auffahren der Kanonen auf dem Ostrow-Wassilewski, erst der buchstäblich „blutige" Ernst, mit dem der seltsame Pilgerzug vom Zarismus aufgenommen wurde, hat uns an Paris, an die Barrikaden, an ganz moderne westeuropäische Reminiszenzen gemahnt. Und vollends waren wir beruhigt, dass es sich nicht um eine orientalische Karawane, sondern um eine moderne proletarische Revolution handelte, als wir vernahmen, dass in allen anderen Städten Russlands die Erhebung die landläufige Form des Generalstreiks, dazu mit massenhafter Verbreitung sozialdemokratischer Flugblätter, annahm. Bei aller Hochachtung für die besagten Flugblätter wäre es jedoch ein verhängnisvoller Irrtum, wollten wir uns einbilden, dass erst durch sie das revolutionäre Moment in die Bewegung hineingetragen wurde. Auch in der russischen Revolution, die soeben von uns erlebt wird, ist es der Sozialdemokratie als Aufgabe zugefallen, die revolutionäre Seite der proletarischen Erhebung bloß zu formulieren, zum klaren Ausdruck zu bringen, sie aus den Schalen einer elementaren Eruption zu befreien. Der revolutionäre Kern steckte in den Ereignissen von vornherein – so gut in den mit Windeseile verbreiteten Generalstreiks wie in dem Bittgang des Petersburger Proletariats selbst.

Die Illusion, dass an den politischen Missständen im Lande eigentlich ein „Missverständnis" zwischen dem Monarchen und dem Volke schuldig sei, das durch ein systematisches Intrigenspiel der „Berater" der Krone und der ganzen Hofkamarilla geschürt und erhalten werde, die sich zwischen das Volk und den irregeleiteten Fürsten schieben, diese Illusion braucht gar nicht als ein exotisches Gewächs der eigentümlichen Verhältnisse Russlands und seines mystischen Halbdunkels betrachtet zu werden. Wir in Deutschland haben es ganz speziell nicht nötig, weit in der Welt herum zu streifen, um ein analoges Beispiel zu finden. Ist es doch ein altes und ewig neues Requisitenstück aus dem politischen Weisheitsschatz des deutschen Liberalismus, dass er sich und anderen periodisch einredet, die ganze preußisch-deutsche Misere rühre hauptsächlich daher, dass der deutsche Kaiser von seinen Beratern „schlecht informiert" sei und ihm die Möglichkeit genommen werde, sich mit dem Volke in inniger Fühlung zu verständigen. Dass mit dem „Volke" in diesem Falle niemand anderer als die freisinnigen Mannen selbst mit ihren vielen Schmerzen über nicht zu den Ämtern zugelassene jüdische Richter und dergleichen Grundübel der sozialen Ordnung gemeint sind, ändert nichts an der tiefsinnigen Idee.

Nun liegt aber ein gewaltiger Unterschied zwischen dem politischen Werte einer solchen Illusion in den Köpfen eines verfallenden liberalen Bürgertums und einer aufstrebenden modernen Arbeiterklasse. Die Theorie vom „irregeleiteten Fürsten" ist ein vollkommen adäquater politischer Ausdruck derjenigen politischen Aspirationen, die in der Brust des heutigen deutschen Freisinns wohnen. Das bittende Winseln vor dem Throne als Mittel und das altweibische Gemäkel an den kleinen Schönheitsfehlern der besten der Welten, in der wir leben, als Zweck der liberalen Politik geben zusammen eine vollkommene Harmonie, ein absolutes Gleichgewicht ab, das der genannten Politik hundert Jahre ungestörten Daseins stets mit demselben Erfolg sichert und dem Liberalismus gestattet, immer hoffnungsvoll hinaufzublicken und ewig des himmlischen Taus der kaiserlichen Gnade zu harren, sich indes vom Antlitz jedwedes andere Nass geduldig wischend, das von oben kommt.

Hingegen liegt zwischen der Mythe vom „guten Fürsten" und den historischen Bestrebungen, den Klasseninteressen des modernen Proletariats ein klaffender Widerspruch. Diejenigen, die sich im ersten Augenblick über die demütig bittende Stellung des Petersburger Volkes entsetzten, womit es feierlich, mit feuchten Augen und des Gekreuzigten Bild in den Händen, zum Zaren wallfahrtete, haben bei dem Schauspiel die Hauptsache übersehen, den Umstand nämlich, dass die demütige „Bitte" der Volksmasse an den Zaren in nichts anderem bestand als darin, seine heilige Majestät möge sich gütig mit Höchstdero eigenen Händen als Alleinherrscher aller Reußen enthaupten. Es war die Bitte an den Autokraten, der Autokratie den Garaus zu machen, die Bitte an den Wolf, von nun an mit zarten Gemüsen statt mit warmem Blute fürlieb nehmen zu wollen. Es war das radikalste politische Programm, gekleidet in die Form einer rührenden patriarchalischen Idylle, es war der modernste Klassendrang eines tiefernsten reifen Proletariats, gesteckt in den phantastischen Einfall eines bunten Ammenmärchens. Und ebendieser Widerspruch zwischen dem revolutionären Kern der proletarischen Interessen und der primitiven Schale der Illusion vom „guten Fürsten" ist es, der den zündenden Funken der Straßenrevolution gebären musste, sobald er auf die Probe der Wirklichkeit gestellt wurde.

Die Probe aber sollte alsbald gemacht werden. Mit dem ganzen ursprünglichen Ungestüm der Volksmasse in stürmischen Zeiten drängt die Arbeiterschaft auf die tatsächliche Prüfung ihrer Auffassung, die sie ebenso heilig-ernst nimmt, wie die liberale Bourgeoisie alle ihre politischen Glaubensartikel zynisch-feig bei jeder Gelegenheit im Stiche lässt. Das Petersburger Proletariat macht mit seinem Zarenglauben Ernst und zieht mit erschütternder Einfachheit großer Entschlüsse vor des Autokraten Schloss. Hier stellt es sich aber gleich heraus, dass das Gottesgnadentum, dass die monarchische Idee – so gut in Russland wie anderswo – eben ohne die schützende Schirmwand der „schlechten Berater", der Hofkamarilla und des Bürokratentums, ohne das rettende Halbdunkel, hinter dem es sich vor seinen Landeskindern versteckt, gar nicht existieren kann. Es genügt, dass die erregte Volksmasse auf den formell kindlichen, tatsächlich furchtbaren Gedanken kommt, sich einmal ihren Landesvater von Angesicht zu Angesicht anzusehen und die Mythe vom „sozialen König- oder Kaisertum" verwirklichen zu wollen, damit sich die Begegnung mit eherner Notwendigkeit in einen Zusammenprall zweier Todfeinde, in die Auseinandersetzung zweier Welten, in die Schlacht zweier Zeitalter verwandelt.

Nur die unverwüstliche Borniertheit des heutigen freisinnigen Pöbels kann sich dem Wahne hingeben, als sei an dem revolutionären Ausgang der Episode an der Newa der Umstand schuld, dass der Zar Nikolaus nicht zum Petersburger „Pöbel" gutmütig hinausgegangen war und ihn milde angehört hatte, als habe lediglich die verkehrte Bewirtung des proletarischen Pilgerzugs mit blauen Bohnen verhindert, dass das ganze Schauspiel in eine echt liberale Posse der Versöhnung des Landesvaters mit seinen lieben Kindern unter beiderseitig zusammenfließenden Freudentränen und gegenseitigem Hochlebenlassen, in ein rührseliges „Volksstück", in einen Iffland auslief, wie deren unzählige der deutsche Liberalismus noch seit den denkwürdigen Bürgermeisterstagen der Rotteck in Freiburg anno 1833 und bis auf die jüngsten Tage aufgeführt hat.

Das Schauspiel hat sich nämlich schon einmal in der Geschichte zugetragen, und zwar spielte sich der Anfang ganz nach dem liberalen Rezept ab. An jenem 5. Oktober 1789, als das Pariser Proletariat, die Weiber voraus, nach Versailles zog, um sich seinen dicken Capet nach Paris zu holen und mit ihm ein paar Worte unter vier Augen zu reden, da verlief die Sache anfänglich mit leidlichem Wohlanstand und in hübscher Ordnung. Ludwig XVI. gab, wenn auch mit etwas bebenden Lippen, die Versicherung, dass er vertrauensvoll und mit Vergnügen" zu seinen lieben Parisern zurückkehren wolle, und bald darauf gab es sogar auf dem Marsfeld eine große Vorstellung gegenseitiger Treueide und Ewigkeitsschwüre, die kein Ende nehmen wollten, gleichwie zwischen einem verliebten Primaner und einem errötenden Backfisch unter blühendem Fliederstrauch. Und doch verwickelte sich der gutmütige Ludwig alsbald so in das idyllisch begonnene Spiel mit dem Volke, dass er im letzten Schlusse seinen Speckkopf ganz und gar verlor.

Die russische Revolution hat anders begonnen, kann aber sehr leicht einen ähnlichen Ausgang in dieser Hinsicht nehmen. Und man muss es dem kleinen Nikolaus und seinen „schlechten Beratern" lassen, dass sie von ihrem Standpunkt die Situation viel richtiger eingeschätzt haben als die deutsch-liberalen Winkelkonsulenten des bedrückten Despotismus und dass sie den gefährlichen revolutionären Inhalt der demütigen Sprache des Petersburger Proletariats viel rascher erfassten als selbst mancher westeuropäische Sozialdemokrat, indem sie sich entschlossen, gleich auf den ersten Schritt des proletarischen Bittganges mit dem letzten Trumpf der Despotie zu antworten.

Wollten die lieben Vettern und Amtskollegen Nikolaus' aus den jüngsten Ereignissen etwas lernen, dann wäre es das erste, dass sie nicht streikende und nüchtern, offen kämpfende, wohl aber solche Arbeiter mit „der schwersten Strafe bis zum Zuchthaus" bedrohen sollten, die sich anmaßen, den Glauben an den „guten, irregeleiteten Fürsten" unter dem Volke zu hegen und zu verbreiten. Aus solchen ketzerischen Irrlehren entstehen dann im geeigneten Augenblick die gefährlichen Einfälle der Volksmasse, den Landesvater von Angesicht zu Angesicht zu informieren und ihn um verschiedenes zu „bitten", was man ebenso ungern gewährt wie das Abschlagen des eigenen Kopfes.

Und wir selbst können unter den vielen Lehren, die sich aus der russischen Revolution ergeben, wieder einmal an dem Petersburger Beispiel lernen, in den revolutionären Massenbewegungen den Inhalt aus der oft widerspruchsvollen äußeren Form herauszufühlen, statt sie miteinander zu verwechseln. Sollte irgendwo einmal das Proletariat auf die Idee verfallen, spontan vor die verehrten gesetzgebenden Versammlungen und die Regierungsgebäude mit dem feierlichen Entschluss zu ziehen, die großmütige Übergabe des politischen Staatssteuers von den herrschenden Klassen an die Arbeitermassen höflichst erbitten, andernfalls aber, wie die Petersburger Arbeiter, „lieber sterben zu wollen", und sei es mit dem Pfarrer Naumann selbst an der Spitze, dann können wir ruhig für die Zwingburgen der kapitalistischen Lohnsklaverei schon jene Plakate anfertigen lassen, die auf dem Platze der erstürmten Bastille prangten: „Hier wird getanzt."

Kommentare