Franz Mehring 18931200 Hauptmanns „Weber"

Franz Mehring: Hauptmanns „Weber"

Dezember 1893

[Die Volksbühne, 2. Jg. 1893/94, Heft 4, S. 3-6. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 555-557]

[…] Die „Weber" von Gerhart Hauptmann sind die einzige Bühnendichtung der Gegenwart, die auf der vollen Höhe des modernen Lebens steht und für das Ende des neunzehnten Jahrhunderts eine ähnliche Bedeutung in der deutschen Literatur beanspruchen kann wie Schillers „Räuber" für das Ende des achtzehnten Jahrhunderts. […]

Die „Weber" sind ein Massenschauspiel, das den Massen gehört und den Massen von selbst verständlich wird. Wir sehen deshalb von einer eingehenden, kritischen Zergliederung ab und bieten unseren Lesern stattdessen lieber das literarische Material über die tatsächlichen Zustände, auf denen sich Hauptmanns Drama aufbaut. Beide Urkunden, sowohl das Weberlied wie der Aufsatz von Wilhelm Wolff über den Weber-Aufruhr von 1844, sind ohnedem wichtige Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterklasse. Man kann das Weberlied in gewissem Sinne die erste deutsche Arbeiter-Marseillaise nennen. Wir haben es in unserem vorigen Jahrgange bereits einmal veröffentlicht, so dass es die älteren Mitglieder des Vereins besitzen. Doch hoffen wir, dass es auch diesen willkommen sein wird, die Literatur zu Hauptmanns Schauspiel in einem Hefte beisammen zu haben. Wie sehr das Weberlied gewissermaßen das Rückgrat des Schauspiels bildet und namentlich seinen zweiten Akt zur mächtigsten Wirkung steigert, wird die Aufführung klarstellen.

Der Aufsatz von Wilhelm Wolff erschien in Püttmanns „Bürgerbuch" für 1845, das hier oder da einmal im antiquarischen Bücherverkehr auftaucht, aber sonst vollständig verschollen ist. Der Aufsatz ist somit so gut wie unbekannt, und es macht uns große Freude, ihn den Arbeitern wieder zugänglich zu machen.1 Wolff gehörte zu den ersten, der Bedeutung wie Zeit nach ersten Bannerträgern der deutschen Arbeiterklasse; es ist derselbe „kühne, treue, edle Vorkämpfer des Proletariats", dem Karl Marx den ersten Band des „Kapitals" gewidmet hat. Wilhelm Wolff war geboren am 21. Juni 1809 zu Turnau in Schlesien und starb im Exil zu Manchester am 9. Mai 1864. Er war der Sohn eines erbuntertänigen Bauern und lernte von Kindesbeinen an die scheußliche Lage der Fronbauern kennen. Von seinen Jünglingsjahren bis an seinen Tod stand er immer in erster Reihe, wo es die Interessen der Arbeiterklasse zu verfechten galt. Näheres über sein an irdischen Gütern armes, an Arbeiten und Kämpfen reiches Leben hat Friedrich Engels mitgeteilt in der Einleitung zu Wolffs „Schlesischer Milliarde", die manchem unserer Leser bekannt sein wird.

Aber nicht nur um des Verfassers willen ist der Aufsatz Wolffs interessant. Er ist an und für sich ausgezeichnet durch das liebevolle Verständnis für das Denken und Handeln der arbeitenden Klassen, durch die ökonomischen Einsichten, die er verrät. Beides tritt umso schärfer hervor, wenn man erwägt, dass Wolff vor nunmehr bald fünfzig Jahren schrieb, als nur erst die edelsten Charaktere, die erleuchtetsten Geister etwas von einer besonderen Arbeiterfrage ahnten. Ferner aber ist die Schilderung Wolffs die Grundlage aller späteren Darstellungen des Weber-Aufruhrs geworden. Ihr Vergleich mit Hauptmanns Schauspiel ergibt, wie sich der Dichter zu der historischen Wirklichkeit gestellt hat. Wir wissen nicht, ob er Wolffs Aufsatz studiert hat, und es ist übrigens auch ganz gleichgültig, ob er ihn kennt. Da Wolffs Darstellung maßgebend geworden ist für die Geschichte des Weber-Aufruhrs, so ist sie, mittelbar oder unmittelbar, auch zum Knochenbau des Dramas geworden. In der Tat berühren sich beide in vielen und wichtigen Punkten.

Wir sagen das selbstverständlich nicht, um den Dichter zu tadeln. Im Gegenteil steigt sein Verdienst umso höher, je vollständiger er den spröden Stoff der rauen Wirklichkeit dichterisch bewältigt hat. Gerade das Fernhalten aller bürgerlichen Romantik und das strenge Festhalten an dem historischen Verlaufe machte die Aufgabe des Dichters umso schwieriger und macht ihre gelungene Lösung umso erfreulicher. So wie Hauptmann den gegebenen Stoff nahm, musste er die Massen selbst in Bewegung setzen und noch dazu in einer mit episodenhafter Breite sich fortschiebenden Handlung, ohne die auf- und absteigende Bewegung um einen beherrschenden Mittelpunkt. Es war bis zu einem gewissen Grade ein Bruch mit aller bisherigen Bühnentechnik, den Hauptmann unternahm, und das kühne Unternehmen ist ihm in hohem Grade gelungen.

Keine dichterische Leistung des deutschen Naturalismus kann sich auch nur entfernt mit den „Webern" messen. Dagegen sind sie selbst gewissermaßen ein Prüfstein geworden, an dem sich erkennen lässt, was echt und was falsch ist am modernen Naturalismus. Die „Weber" stehen im schärfsten Gegensatze zu der „genialen" Kleckserei, die irgendein beliebiges Stück banaler und brutaler Wirklichkeit mit photographischer Treue abkonterfeit und damit wunder was erreicht zu haben glaubt. Die „Weber" quellen über von echtestem Leben, aber nur, weil sie mit dem angestrengten Bemühen eines feinen Kunstverstandes gearbeitet sind. Eine wie sorgfältige Abtönung und Abwägung war notwendig, um einem bunten Mosaik genrehafter Szenen dramatische Spannung zu geben! Welch ernsthaftes Nachdenken gehörte dazu, jene Fülle lebendiger, meist trefflich und mitunter ganz meisterhaft geratener Gestalten zu schaffen, aus denen die handelnden Massen bestehen mussten, wenn sie wirklich in dramatische Bewegung gesetzt werden sollten. Hauptmann hat in diesem Schauspiele den alten Satz erhärtet, der durch kein naturalistisches Renommieren umgestoßen werden kann: nicht nur das Talent, sondern auch der Fleiß macht den echten Künstler.

Doch damit sind wir schon in die kritische Zergliederung des Schauspiels gekommen, die wir eigentlich vermeiden wollten. Wir schließen mit dem Wunsche, dass unsere Mitglieder reichste Anregung aus der ausgezeichneten Dichtung schöpfen mögen.2

1 Wilhelm Wolffs Schrift „Das Elend und der Aufruhr in Schlesien" wurde erstmals nach 1845 von Mehring in der Monatsschrift „Die Volksbühne", 2. Jg. 1893/94, Heft 4, im Dezember 1893 wieder veröffentlicht.

2 Nach vielen anfänglichen Schwierigkeiten hatte die Freie Volksbühne am 10. Oktober 1893 durch Gerhart Hauptmann die Zustimmung zu einer Aufführung der „Weber" erhalten. Siehe auch „Gerhart Hauptmanns ,Weber' (1. 3. 1893), „Entweder – Oder“ (8. 3. 1893), „Um die Aufführung...“ (März 1893) und „Zu wenig und zu viel“ (6. 3. 1895).

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