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N. K. Krupskaja 19240411 Über Wladimir Iljitsch

N. K. Krupskaja: Über Wladimir Iljitsch

[Zuerst veröffentlicht am 11. April 1924 in der „Prawda“ Nr. 83. Nach N. K. Krupskaja: Das ist Lenin. Eine Sammlung ausgewählter Reden und Artikel. Berlin 1966, S. 22-29]

Über Wladimir Iljitsch wird jetzt sehr viel geschrieben. In solchen Erinnerungen wird Wladimir Iljitsch häufig als ein Asket, als ein tugendhafter Philister und guter Hausvater geschildert. Das entstellt sein Bild etwas. So war er nicht. Er war ein Mensch, dem nichts Menschliches fremd war. Er liebte das Leben in seiner ganzen Mannigfaltigkeit, nahm es gierig in sich auf.

Unser Leben wird als ein Leben voller Entbehrungen geschildert. Das stimmt nicht. Not, in der man nicht weiß, wofür man sich Brot kaufen soll, kannten wir nicht. Haben denn etwa die Genossen Emigranten alle so gelebt? Zwar hatten einige von ihnen zwei Jahre lang keinen Verdienst und erhielten auch kein Geld aus Russland, so dass sie regelrecht hungerten. Doch bei uns war das nicht der Fall. Allerdings lebten wir einfach. Besteht denn aber die Freude des Lebens darin, satt und luxuriös zu leben? Wladimir Iljitsch verstand es, dem Leben Freude abzugewinnen. Er war sehr naturliebend. Ich spreche schon gar nicht von Sibirien, aber auch in der Emigration fuhren wir ständig irgendwohin ins Grüne, um aus voller Brust zu atmen, wir liefen weit, sehr weit hinaus, und kehrten zurück, trunken von Luft, Bewegung und Eindrücken. Die Lebensweise, die wir führten, unterschied sich beträchtlich von der Lebensweise anderer Emigranten. Kamen sie zu Besuch, liebten sie endlose Gespräche, bei einem Glas Tee und in Rauchwolken gehüllt, hechelten sie alles wieder und wieder durch. Wladimir Iljitsch wurde von solch nutzlosem Geschwätz schrecklich müde und wusste es immer so einzurichten, dass er einen Spaziergang unternahm und entwischte. Ich erinnere mich, wie wir im ersten Jahr unseres Emigrantenlebens in München einmal Martow und Lenins Schwester Anna Iljinitschna zu einem Spaziergang mitnahmen, um ihnen unseren Lieblingsplatz zu zeigen – das wilde Ufer der Isar, an das man nur gelangte, wenn man sich durchs Gebüsch hindurcharbeitete. Unsere Begleiter waren nach einer halben Stunde so müde und missgestimmt, dass wir uns beeilten, sie in einem Boot nach dem kultivierten Teil der Stadt zu fahren und dann allein wieder zu „unserem“ Platz zurückzukehren. Sogar in London brachten wir es fertig, in die freie Natur hinauszugelangen, obgleich es gar nicht so einfach ist, sich von dieser riesigen, rauchgeschwängerten, nebelverhangenen Großstadt zu entfernen, besonders wenn man nicht mehr als anderthalb Pennys für den Omnibus ausgeben möchte.

Als wir später in der Schweiz lebten, schafften wir uns Fahrräder an, so dass wir den Radius unserer Spazierfahrten bedeutend ausdehnen konnten. Ich entsinne mich, wie einmal in London Wera Iwanowna Sassulitsch voll Zorn einem Genossen, der geglaubt hatte, Iljitsch würde einzig und allein im Britischen Museum sitzen, und sehr erstaunt war, als Lenin zu einem Spaziergang aufbrach, sagte: „Aber nein. Er liebt die Natur sogar leidenschaftlich!“ Ich erinnere mich, wie ich damals dachte: „Ja, das stimmt wirklich.“

Ganz besonders liebte es Iljitsch, das Leben und Treiben der Menschen zu beobachten. Wo bin ich mit ihm in München, London und Paris nicht überall gewesen! Er las gern Plakate, auf denen verschiedene Versammlungen von Sozialisten in den Vororten, in kleinen Kaffeehäusern, in englischen Kirchen angekündigt wurden. Er wollte das Leben der deutschen, englischen, französischen Arbeiter sehen, wollte hören, wie sie nicht in großen Versammlungen, sondern im Kreise vertrauter Genossen sprechen, woran sie denken, was ihr Leben ausmacht. Was haben wir nicht allein an verschiedenartigsten Wahlversammlungen in Paris besucht! Wir kannten das Leben der Arbeiter in unserem jeweiligen Gastland besser, als Emigranten es sonst zu kennen pflegen. In Paris schwärmten wir, wie ich mich erinnere, eine Zeitlang für eine französische revolutionäre Chansonette. Wladimir Iljitsch schloss Bekanntschaft mit Montegus, einem außerordentlich talentierten Verfasser und Sänger revolutionärer Lieder. Als Sohn eines Kommunarden war Montegus ein Liebling der Arbeiterviertel. Eine Zeitlang sang Iljitsch sehr gern dessen Lied „Salut à vous, soldats de 17" (Seid gegrüßt, Soldaten des 17. Regiments – eine Grußhymne für französische Soldaten, die sich geweigert hatten, auf Streikende zu schießen). Iljitsch gefiel auch ein Lied von Montegus, in dem sozialistische Abgeordnete verspottet wurden, die von politisch wenig bewussten Bauern gewählt worden waren und für ihre 15.000 Francs Abgeordnetendiäten im Parlament die Freiheit des Volkes verschacherten. Damals fingen wir an, Theater zu besuchen. Iljitsch fand überall Anschläge, die auf Theatervorstellungen in den Vororten von Paris hinwiesen und in denen bekanntgemacht wurde, dass Montegus auftreten werde. Mit einem Stadtplan von Paris bewaffnet, schlugen wir uns bis zur entferntesten Vorstadt durch. Dort hörten wir uns gemeinsam mit der versammelten Menge ein Lied an, sahen ein Stück, das meistens sentimental-schlüpfriger Unsinn war, mit dem die Bourgeoisie die Arbeiter gern füttert. Dann jedoch trat Montegus auf. Die Arbeiter empfingen ihn mit tosendem Beifall. Er aber, mit einer Arbeiterjoppe bekleidet, um den Hals ein Tuch gebunden, wie französische Arbeiter es tragen, sang ihnen Lieder über aktuelle Tagesereignisse, in denen er die Bourgeoisie verspottete. Er sang von dem schweren Schicksal der Arbeiter und von der Arbeitersolidarität. Die Volksmenge der Pariser Vorstädte setzt sich aus Arbeitern zusammen. Diese Menge reagiert lebhaft auf alles: auf eine Dame mit hohem modischem Hut, über die sich das ganze Theater mokiert, und auf den Inhalt des Theaterstücks selbst. „Ach, du Schuft!“ ruft ein Arbeiter dem Schauspieler zu, der einen Hauswirt darstellt und von einer jungen Mieterin verlangt, dass sie ihm zu Willen sei. Iljitsch gefiel es, sich völlig mit der Menge dieser Arbeiter zu vermischen. Einmal trat Montegus auf einer unserer russischen Abendveranstaltungen auf. Bis in die tiefe Nacht hinein saß er danach mit Wladimir Iljitsch zusammen und sprach von der kommenden Weltrevolution. Der Sohn eines Kommunarden und ein russischer Bolschewik – jeder erträumte die Revolution auf seine Weise. Während des Krieges begann Montegus allerdings patriotische Lieder zu schreiben.

Ein andermal besuchten wir Wahlversammlungen, zu denen die Arbeiter ihre Kinder mitbrachten, weil niemand da war, der zu Hause auf sie hätte aufpassen können. Wir hörten den Rednern zu, sahen, was die Menge berührt, was sie elektrisiert, hatten unsere Freude an der mächtigen Gestalt eines Schmiedes, der den Redner begeistert ansah, und an der noch halb kindlichen Gestalt seines Sohnes, der sich an seinen Vater schmiegte und den Redner, ebenso wie der Vater, förmlich mit den Augen verschlang. Wir hörten einen sozialistischen Abgeordneten erst vor einem Arbeiterauditorium sprechen und gingen dann hin, um zu hören, wie er vor einer Versammlung von Intellektuellen und Beamten sprach. So beobachteten wir, wie die großen und zündenden Ideen, von denen das Arbeiterauditorium loderte, trübe erloschen, wie sie vom Redner in eine für das Kleinbürgertum annehmbare Farbe gekleidet wurden. Man wollte doch so viel Stimmen wie möglich ergattern! Von einer Versammlung zurückgekehrt, summte Iljitsch ein von Montegus geschriebenes und gesungenes Lied von einem sozialistischen Abgeordneten: „T’as ben dit, mon ga!“1

In London besuchten wir häufig den Hydepark, um Straßenrednern zuzuhören. Der eine sprach von Gott, der andere davon, wie schlecht die Handlungsgehilfen leben, der dritte von Gartenstädten. Wir gingen nach Whitechapel, dem Londoner Judenviertel, lernten dort russische Matrosen und arme Juden kennen, hörten uns ihre von Leid und Verzweiflung erfüllten Lieder an. Wir besuchten einen Zirkel, in dem ein junger englischer Sozialist über den Munizipalsozialismus referierte, während ein altes Parteimitglied, das tags zuvor als sozialistischer Pfarrer in einem Gottesdienst besonderer Art in der sozialistischen Kirche der „Sieben Schwestern“ figuriert hatte, auseinandersetzte, man müsse den Auszug der Juden aus Ägypten als Vorbild für den Auszug der Arbeiter aus dem Reich des Kapitalismus in das Reich des Sozialismus betrachten, und den jungen Redner des Opportunismus bezichtigte …

Wer es versteht, das Leben, das Leben der Menschen in seiner Vielseitigkeit, in seinen eigenartigen Erscheinungsformen zu beobachten und darin Anklänge an das eigene Erleben zu finden – genießt der nicht das Leben, kann der etwa ein Asket sein?

Wladimir Iljitsch liebte die Menschen. Er stellte keine Bilder von Menschen, die er liebte, auf den Tisch, wie irgend jemand das kürzlich geschildert hat. Aber er empfand leidenschaftliche Liebe zu den Menschen. So war er zum Beispiel Plechanow zugetan. Plechanow spielte eine große Rolle in der Entwicklung Wladimir Iljitschs. Er half ihm, den richtigen revolutionären Weg zu finden, und deshalb war Plechanow für ihn lange Zeit von einer Aureole umgeben; jede noch so unbedeutende Differenz mit Plechanow schmerzte ihn tief. Auch nach der Spaltung hörte er sich aufmerksam an, was Plechanow sagte. Mit welcher Freude pflegte er Plechanows Worte „Ich möchte nicht als Opportunist sterben“ zu wiederholen. Selbst 1914, als der Krieg ausgebrochen war, war Wladimir Iljitsch furchtbar aufgeregt, als er seine Rede gegen den Krieg auf einer Kundgebung in Lausanne vorbereitete, auf der Plechanow das Wort ergreifen sollte. „Wird er es denn wirklich nicht begreifen?“ fragte Wladimir Iljitsch. In den Erinnerungen P. N. Lepeschinskis gibt es eine ganz unglaubwürdige Stelle. Lepeschinski erzählt, Wladimir Iljitsch habe ihm einmal gesagt: „Plechanow ist tot, ich aber, ich lebe.“ Das kann er unmöglich geäußert haben. Es handelt sich wahrscheinlich um irgendeine andere Nuance, die Lepeschinski nicht erfasst hat. Niemals pflegte Wladimir Iljitsch sich Plechanow gegenüberzustellen.

Junge Genossen, die die Geschichte der Partei studieren, sind sich wahrscheinlich nicht klar darüber, was die Spaltung mit den Menschewiki bedeutete.

Wladimir Iljitsch liebte nicht nur Plechanow, sondern auch Wera Sassulitsch und Axelrod. „Du wirst Wera Iwanowna ja sehen, das ist ein kristallklarer Mensch“, sagte mir Wladimir Iljitsch am Abend meiner Ankunft in München. Auch Axelrod war für ihn lange Zeit mit einer Aureole umgeben.

In der letzten Zeit, nicht lange vor seinem Tode, fragte er mich nach Axelrod (er zeigte auf seinen Namen in der Zeitung und fragte „Was?“). Er bat darum, Kamenew telefonisch über ihn zu befragen, und hörte sich den Bericht aufmerksam an. Einmal erzählte ich ihm von A. M. Kalmykowa, und nachdem er „Was?“ gefragt hatte, wusste ich, dass er sich nach Potressow erkundigte. Ich erzählte ihn, was ich wusste, und fragte: „Soll ich Einzelheiten in Erfahrung bringen?“ Er schüttelte den Kopf. „Und jetzt, sagt man, stirbt auch Martow“, sagte mir Wladimir Iljitsch nicht lange vor dem Augenblick, da ihm die Stimme versagte. Und in seinen Worten erklang ein weicher Ton.

Persönliche Anhänglichkeit an Menschen hat den politischen Standpunkt Wladimir Iljitschs niemals beeinflusst. Wie sehr er auch Plechanow oder Martow liebte, politisch hatte er mit ihnen gebrochen (und wenn er mit einem Menschen politisch brach, so brach er mit ihm auch persönlich, anders konnte es gar nicht sein, weil sein ganzes Leben mit dem politischen Kampf verbunden war), weil das für die Sache notwendig war.

Aber seine persönliche Anhänglichkeit an Menschen machte Spaltungen für Wladimir Iljitsch unvorstellbar schwer. Als es auf dem II. Parteitag klar wurde, dass die Spaltung mit Axelrod, Wera Sassulitsch, Martow und anderen unvermeidlich geworden war, hatte Wladimir Iljitsch, erinnere ich mich, Schreckliches durchzumachen. Die ganze Nacht saßen wir auf und fieberten. Wenn Wladimir Iljitsch nicht so viel Leidenschaft in seine Freundschaft mit anderen gelegt hätte, wären seine Kräfte nicht so früh verbraucht worden. Politische Ehrlichkeit im wahren, tiefen Sinne dieses Wortes – eine Ehrlichkeit, die dazu befähigt, sich in den eigenen politischen Urteilen und Handlungen von allen persönlichen Sympathien und Antipathien frei zu machen, ist nicht jedem eigen, und wer sie besitzt, dem ist sie keine leichte Gabe.

Wladimir Iljitsch hatte stets großes Interesse für andere Menschen. Ständig „schwärmte“ er für jemand. Kaum hatte er an einem irgendeine interessante Seite entdeckt — und schon sog er sich, wie man so sagt, an ihm fest. Ich erinnere mich des zweiwöchigen „Romans“ mit Natanson, der ihm durch sein Organisationstalent aufgefallen war. Es war von niemand anders mehr die Rede als von Natanson. Besonders stark klammerte sich Wladimir Iljitsch an Neuankömmlinge aus Russland. Von seiner Stimmung angesteckt, unter dem Einfluss der Fragen Wladimir lljitschs, pflegten die Menschen, ohne es selbst zu bemerken, ihm den besten Teil ihrer Seele, ihres Ichs zu offenbaren, der sich in ihrer Einstellung zur Arbeit, wie sie sie organisierten und an sie herangingen, widerspiegelte. Unwillkürlich poetisierten sie ihre Arbeit etwas, wenn sie Iljitsch davon erzählten. Iljitsch schwärmte schrecklich für die Menschen, er schwärmte schrecklich für die Arbeit. Beides verflocht sich miteinander. Und das machte sein Leben so ungewöhnlich reich, intensiv und erfüllt. Er nahm das Leben in all seiner Kompliziertheit und Vielseitigkeit in sich auf. Bei Asketen aber kommt das ja wohl kaum vor.

Am allerwenigsten war Iljitsch – mit seinem Verständnis für das Leben und die Menschen, mit seiner so leidenschaftlichen Einstellung zu allem – jener tugendhafte Spießbürger, als der er jetzt zuweilen dargestellt wird: ein mustergültiger Hausvater mit seiner Gattin, mit Kindern; Bilder der Angehörigen stehen auf dem Tisch, da ist ein Buch, ein wattegefütterter Hausrock, ein schnurrender Kater sitzt auf seinen Knien, und das alles in einer herrschaftlichen „Einrichtung“, in der Iljitsch sich vom gesellschaftlichen Leben „erholt“. Jeder Schritt Wladimir lljitschs wird durch ein Prisma philisterhafter Sentimentalität filtriert. Es wäre besser, weniger solche Sachen zu schreiben.

Wladimir Iljitsch verachtete nichts so sehr wie alle möglichen Redereien, Klatschereien und Einmischung in das persönliche Leben anderer. Er hielt eine solche Einmischung für unzulässig.

Als wir in der Verbannung lebten, sprach Wladimir Iljitsch häufig von diesen Dingen. Er sprach von der Notwendigkeit, sich sorgfältig von allen wie immer gearteten Verbanntengeschichten abzugrenzen, wie sie gewöhnlich auf Grund von Redereien und Klatschereien, vom Lesen in fremden Herzen, von müßiger Neugier aufkommen. Das ist versinkendes Spießbürger- und Philistertum.

In London kam es 1902 zu einem heftigen Konflikt zwischen Wladimir Iljitsch und einem Teil der Redaktion der „Iskra“, der einen Genossen verurteilen wollte, weil er sich in der Verbannung angeblich einer ungehörigen Handlungsweise schuldig gemacht hatte. Die Untersuchung der Umstände verband sich natürlich mit grober Einmischung in sein persönliches Leben. Wladimir Iljitsch protestierte scharf dagegen und lehnte es rundweg ab, sich an solchem Ärgernis, wie er es nannte, zu beteiligen. Später warf man ihm vor, kein Feingefühl zu besitzen ...

Mir scheint, die Forderung, nicht mit gierigen Händen in einer fremden Seele zu wühlen, war gerade ein Beweis für wahres Feingefühl.

1 Gut gesagt, mein Junge!

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