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Karl Radek 19110413 Sozialdemokratie und Rüstungsbeschränkung

Karl Radek: Sozialdemokratie und Rüstungsbeschränkung

[„Bremer Bürger-Zeitung“, Nr. 88-91, 13., 15., 18. und 19. April 1911]

I.

Die Rüstungstendenzen im Kapitalismus

Im Vorwärts (vom 4. und 8. April) veröffentlicht der Reichstagsabgeordnete Genosse Ledebour in polemischer Form gegen die Haltung der „Bremer Bürger-Zeitung“ und „Leipziger Volkszeitung“ eine Darlegung der sachlichen und taktischen Gründe, die die Reichstagsfraktion veranlassten, ein internationales Übereinkommen wegen der Einschränkung der Rüstungen zu fordern. Ledebour ist Hauptredner der Fraktion in den Fragen der auswärtigen Politik. Eine von so autoritativer Seite stammende Begründung erfordert eine eingehende Antwort; wir werden sie in einigen Artikeln zu geben versuchen. Natürlich werden wir nur auf die sachlichen Argumente des Genossen Ledebour antworten. Die persönlichen Liebenswürdigkeiten, mit welchen er uns zum Schluss seines Artikels bedachte, lassen wir unbeantwortet, zumal weil es unserer Meinung nach einer Diskussion über sachliche Gegensätze nicht dienlich ist, wenn man sie mit persönlichen Auseinandersetzungen würzt; zum andern, weil wir es nicht für nötig halten, ähnliche Anwürfe zu beantworten. Zur Sache haben wir zu bemerken:

Die Hauptthese Ledebours, die den Ausgangspunkt seiner Argumentation bildet, lautet:

„… es sind so viele und so starke kriegsgegnerische Tendenzen im Schoße der kapitalistischen Gesellschaftsordnung selbst am Werke, dass der Kapitalismus als restlos kriegerisch in seinem Gesamtwirken nicht mehr angesprochen werden kann. Kriegerische und friedliche Tendenzen wirken auf- und gegeneinander. Es ist mindestens zweifelhaft, ob die Resultate dieses Parallelogramms der Kräfte mehr dem Weltkrieg oder mehr dem Weltfrieden zustrebt.“

Diese Hauptthese beweist Ledebour mit eine Analyse sowohl der Quellen des Imperialismus als auch jener der gegenwärtigen Friedensbestrebungen. Folgen wir seiner Beweisführung:

Dem Kapitalismus immanent ist das Bestreben, die staatlichen Machtmittel auszunutzen zur Beraubung fremder Völker, zur Unterjochung fremder Länder, um sie im Interesse der heimischen Kapitalisten besser ausbeuten zu können. Träger dieses Triebes sind die Interessenten aller Art, die von einer solchen Gewaltpolitik Vorteil ziehen können: in erster Linie die Lieferanten von Kriegsmaterial, seien es Industrie- oder Handelskapitalisten wie die Krupp und Armstrong einerseits, die Tippelskirch & Co andererseits; dann das Finanzkapital, soweit es in der neuerlichen imperialistischen Periode in Kolonien und kapitalistisch unentwickelten Fremdländern durch die staatlichen Machtmittel sich Anlage- und Ausbeutungsmonopole zu schaffen sucht; schließlich natürlich die Ehrsüchtigen, die Kriegsknechte und Kolonialabenteurer sowie die Scharen der Patrioten, die durch die imperialistischen Ideologen beeinflusst und begeistert werden. […]

Aber der Kapitalismus erzeugt in seinem Schoße, “ so geht es weiter — „Gegenkräfte und Gegenströmungen, die an Kraft stetig zunehmen mit dem Wachstum des Kapitalismus selbst.

In erster Linie ist es das Proletariat. Aber nicht nur dieser Todfeind des Kapitalismus ist ein Gegner des Imperialismus und der Rüstungen.

[…] es gibt auch sogar kapitalistische Faktoren, die in gleicher Richtung wirken. Friedlich gerichtet ist vor allem dasjenige Industriekapital, das den Inlandsmarkt, aber auch den Auslandsmarkt mit Gebrauchsartikeln versorgt, sowie das Hand in Hand mit ihm über die ganze Welt hin arbeitende Handelskapital. Wie völlig unserer Kritiker in der „Bremer B[ürger]-Z[eitung]“ diese Tendenzen verkennt, geht aus einer Bemerkung hervor, der Kapitalismus sei genötigt, ‚neue Märkte zu erobern, was ohne Militär- und Marinerüstungen unmöglich ist‘.“

So Ledebour. Wir können leider seinen Ausführungen nicht zustimmen. Ihr wesentlicher Mangel, der dem Verfasser die Einschätzung der Macht des Imperialismus erschwert, ist seine Behandlung des Imperialismus als einer Politik von Gruppen kapitalistischer Interessenten, statt der Politik des gesamten Kapitalismus in seiner reifsten Epoche. Die Triebfeder des Imperialismus ist die Lage des Kapitalismus, wie er jetzt in den höchst entwickelten kapitalistischen Ländern lebt und webt. Die moderne kapitalistische Wirtschaftspolitik

strebt nach Anlagesphären für das Kapital und Absatzmärkten für ihre Waren. Nun verstehen wir, dass diese nicht besondere Aufgaben sind, sondern im Grunde ein und dieselbe Aufgabe. Wenn ich dem tot liegenden Kapital eine Anlagesphäre eröffne, es durch Extraprofite in die Produktionssphäre locke, so schaffe ich dadurch Ansatz für die Waren. Denn nicht das tot liegende Geldkapital, wohl aber das produktive Kapital kauft Waren; es kauft zunächst Arbeitsmittel und Arbeitskräfte; es gibt Arbeitern Beschäftigung und vermehrt dadurch die Nachfrage nach Verbrauchsgütern; es eignet seinem Eigentümer den Mehrwert zu, erhöht dadurch seine Kaufkraft und vermehrt neuerlich die Nachfrage nach Waren. Wenn ich dem Kapital Anlagesphären eröffne, so gebe ich dadurch den Waren einen neuen Absatzmarkt. Und umgekehrt! Wenn ich den Waren einen neuen Absatzmarkt erschließe, so verkürze sich die Umschlagzeit es Kapitals, so mehren sich die Profite, so fließen die tot gelegten Kapitalien der Produktionssphäre zu. Wenn ich den Waren einen neuen Markt erschließe, so schaffe ich dadurch auch dem Kapital neue Anlagesphären“.1

Mit diesen Worten charakterisiert Otto Bauer in seinem grundlegenden Werke „Die Nationalitätenfrage und die SozialdemokratieA die moderne Wirtschaftspolitik, d.h. den Schutzzoll und den Imperialismus und nachdem er die jetzige Lage des Kapitalismus geschildert, erklärt er weiter:

Die Konkurrenz auf dem Weltmarkte wird immer erbitterter, die Verschiebungen in den Konkurrenzbedingungen gehen plötzlich, ruckhaft vor sich. Jedes Wirtschaftsgebiet sucht sich daher auf dem Weltmarkt Absatzgebiete zu sichern, die diesem Konkurrenzkampfe entzogen sind. Die dem Kapitalismus angeborene Tendenz zur fortwährenden Grandezza, fortwährendem Streben nach Erschließung neuer Absatzgebiete und Anlagesphären gewinnt dadurch neue Kraft. Die staatlichen Machtmittel werden in verschiedener Weise in den Dienst dieser Tendenzen gestellt, von der förmlichen Einbeziehung von Kolonien in das heimische Zollgebiet bis zur „penétration pacifique“ (friedliche Eindringung, gelind gestärkt — wie in Marokko — durch Kanonen, K.R.)

In den Dienst dieses Strebens werden zunächst die militärischen Machtmittel gestellt. Heer und Flotte sichern einerseits das heimische Kapital gegen die Völker, deren Gebiet der Ausbeutung des Kapitals der hoch entwickelten kapitalistischen Nationen unterworfen wird; Heer und Flotte sichern andererseits das herrschende kapitalistische Land gegen den Wettbewerb der anderen kapitalistischen Länder.B

Und Rudolf Hilferding zeigt in seinem Buche „Das Finanzkapital“ (Wien 1910), das von den hervorragendsten Vertretern des Marxismus als wichtigstes, auf dem Gebiete der nachmarxistischen theoretischen Ökonomie erschienene Werk angesehen wird: 1. dass der Imperialismus Ausfluss der Interessen des Finanzkapitals ist, welches mit jedem Jahre nicht nur die ausschlaggebenden Industrien beherrscht, sondern durch die Beherrschung der Hypothekenbanken und Heranziehung des agrarischen Kapitals zu seinen Geschäften überhaupt die Politik des ganzen Kapitalismus bestimmt; 2. Dass es die Rüstungen nicht nur zur Eroberung und Festhaltung der Kolonien, nicht nur zur Eröffnung aller Märkte, sondern als Waffe im Kampfe gegen die Konkurrenz, auf den politisch nicht unterjochten Märkten gebraucht. Sie dienen ihm als Mittel durch deren Druck es bessere Bedingungen der Unterbringung seiner Anleihen erkämpft, Bestellungen an diese Anleihen knüpft, das regelmäßige Zufließen der Zinsen sichert und über die Sicherheit seines ausgeführten Kapitals wacht.

Daher der Ruf aller in fremden Ländern interessierten Kapitalisten nach der starken Staatsmacht, deren Autorität ihre Interessen auch in den fernsten Winkeln der Welt beschützt, der Ruf nach der Kriegsflagge, die überall gesehen werden muss, damit die Handelsflagge überall aufgepflanzt werden kann.“ „Die politische Macht wird somit im ökonomischen Konkurrenzkampf entscheidend und für das Finanzkapital wird die staatliche Machtstellung unmittelbares Profitinteresse.“C

Der Leser, der die marxistischen Arbeiten über den Imperialismus gelesen hat, wird sich fragen, warum wir diese schon zum Gemeingut des Marxismus gehörenden Auffassungen nicht in eigenen Worten, sondern in Zitaten aus den Arbeiten der bekannten marxistischen Theoretiker wiedergeben? Wir tun es nur, damit der Reichstagsabgeordnete Ledebour nicht glaube, es hier mit den Auffassungen des Grafen Reventlow oder eines anderen Flottenpatrioten zu tun haben. Denn er hält speziell die Auffassung von dem Zusammenhang zwischen politischer Stärke und wirtschaftlicher Expansion der imperialistischen Mächte für falsch und stellt ihr das verweste Dogma der Freihändler gegenüber, indem er schreibt:

mit Waffengewalt schlagen wir die kapitalistische Konkurrenz anderer Staaten auf dem Weltmarkt nicht aus dem Felde. Den Absatz unserer Waren erzwingen wir auch in unerschlossenen Ländern nicht mit der gepanzerten Faust. … Nicht Wehr und Waffen, sondern die Leistungsfähigkeit unserer Industrie und Tüchtigkeit unseres Handels schaffen und sichern uns Absatzgebiete in fremden Ländern.“

Aber er begnügt sich nicht damit, seine freihändlerische Auffassung der marxistischen entgegenzustellen, sondern er charakterisiert meine Behauptung, dass es unmöglich ist, neue Märkte ohne Marine- und Militärrüstungen zu erobern, mit folgenden kräftigen Worten:

Mit diesen Worten macht er (Ich! K.R.) sich ein Argument zu eigen, das nicht marxistisch, nicht sozialistisch ist, über das selbst aufgeklärte bürgerliche Nationaleinkommen die Achseln zucken und das nur noch in den plumpsten Sudelschriften der Flottentreiber sein Unwesen treibt.

In einer solchen Situation war es sehr angebracht, die plumpen Sudelschriften der Flottenvereinler zu zitieren, aus denen meine marxistische Auffassung des Imperialismus stammen soll. Wir hoffen, das wir dadurch dem Gen[ossen] Ledebour zur Erkenntnis verhelfen, dass wenn es so schwierig ist, die Auffassung des Marxismus von der der Flottenvereinler zu unterscheiden, es für ihn besser sein wird, sich in der Zukunft mit der Bekämpfung der ihm unangenehmen Auffassungen zu begnügen, anstatt ihrer Abstammung nachzugehen.

Nachdem es sich gezeigt [hat], wie sehr Genosse Ledebour die Macht des Imperialismus unterschätzt und sein Wesen misszuverstehen, gilt es, die nach seiner Meinung in der kapitalistischen Gesellschaft für den Frieden wirkenden Tendenzen zu untersuchen. Das soll in einem zweiten Artikel geschehen.

II.

Die Friedenstendenz im Kapitalismus

Wir stellten im vorigen Artikel fest, dass die Basis des Imperialismus viel breiter ist, als sie Gen[osse] Landauer darstellt. Das Industriekapital, das für den Export arbeitet, ist Anhänger der Rüstungen, weil es durch ihren Druck und durch Vermittlung des exportierten Kapitals Bestellungen bekommt, weil die Zersetzung der sozialen Verhältnisse in exotischen Ländern durch das dort importiere Kapital einen neuen, konsumfähigen Markt schafft. Dasselbe gilt für das Handelskapital. Aber auch das für den Inlandsmarkt produzierende Kapital ist rüstungsfreundlich, nicht nur darum, weil es sich von der allgemeinen Anbetung der Gewaltpolitik nicht freimachen kann, sondern weil es sich in immer wachsender Abhängigkeit vom Finanzkapital befindet. Diese Feststellung erübrigt jedes weitere Eingehen auf die Behauptung des Genossen Ledebour, dass diese Kreise [ab]rüstungsfreundlich sind.

Aber Gen[osse] Ledebour hat dafür noch ein zweites Argument, das, tiefer analysiert, sehr merkwürdige Konsequenzen seiner Auffassung zeigt! Er geht von der unzweifelhaften Tatsache aus, dass das moderne Proletariat mit jedem Jahre an Macht wächst und dass es kriegsfeindlich ist. Er schließt daraus, dass es schon heute einen merklichen Einfluss auf die Einschränkung der Rüstungen ausübt. Als Zeugen für seine Auffassung zitiert er Sir Edward Grey, der im englischen Parlament die Ansicht aussprach, dass die große, durch die Rüstungen herbeigeführte Steuerlast die soziale Revolution herbeiführen könne. Wenn dieses Argument irgend welche Bedeutung haben soll, so nur dann, wenn man sagt, diese Furcht vor der sozialen Revolution als Folge des Wettrüstens werde auch in anderen Staaten als Tendenz gegen die Rüstungen eine Rolle spielen. Und in dieser allgemeinen Form hat diesen Gedanken auch ein anderer Verteidiger des Standpunktes der Fraktion in der „L[eipziger] V[olkszeitung]“ in voriger Woche formuliert. Da der Imperialismus, also das Wettrüsten unzertrennlich mit dem Kapitalismus des jetzigen Staats verbunden ist, da er seine bedeutendste Waffe bildet, läuft dieses Argument Ledebours darauf hinaus, dass der Kapitalismus aus Angst vor seiner revoltierenden Einwirkung auf das Proletariat seine wichtigsten Lebensäußerungen einschränkt. Natürlich wird der Genosse Ledebour von einer solchen Konsequenz seiner Argumente abrücken wollen und sich darauf berufen, dass er doch den Imperialismus nicht als die wichtigste Erscheinung des modernen Kapitalismus anerkennt. Aber die Tatsache, dass der Genosse Ledebour sich den Kapitalismus anders vorstellt, als er ist, nimmt diesen seinem Argument nur den Charakter eines bewussten Reformismus — den was ist das Abstreifen der kriegerischen Natur des Kapital anderes als die berühmte revisionistische Fabel von der Milderung der Gegensätze der kapitalistischen Gesellschaft — die Konsequenz seiner Gedanken wird aber nicht aus der Welt geschafft.

So sieht es aus mit den kriegsfeindlichen Tendenzen der kapitalistischen Faktoren. Nicht besser wird's, wenn wir die Frage von dem Einfluss der Kriegsfeindlichkeit des Proletariats auf die Rüstungsbeschränkung aufwerfen.

[Aber] unsere Freunde in Leipzig und Bremen scheinen anzunehmen“, schreibt Ledebour, „dass das Proletariat zwar seine Macht zur völligen Abschaffung der Kriegsrüstungen geltend machen kann, sobald es die Oberhand gewonnen hat und die kapitalistischen Einrichtungen überhaupt beseitigen kann, nicht aber die Macht hat, auf Einschränkung der Rüstungen hinzuwirken, so lange es noch eine Minorität bildet im Staat.“

Wir wollen den letzten Satz nur in der Hinsicht einschränken: nach unserer Meinung hat das Proletariat keine Macht, so lange es als revolutionärer Kämpfer sich in der Minorität befindet, eine dauernde Einschränkung der Rüstungen zu bewirken. Denn es ist sehr gut möglich, dass es z.B. die Angst der Regierung vor dem Einfluss einer großen Erhöhung des Militärbudgets auf das Proletariat war, die sie bewog, angesichts der Wahlen, eine etwas kleinere Forderung zu stellen, was ein so bescheidener und optimistischer Beurteiler des Kapitalismus, wie es der Gen[osse] Ledebour in seinen letzten Reichstagsreden und Artikel ist, als Rüstungseinschränkung schließlich darstellen könnte. Aber nach den Wahlen wird’s auch einen Tag geben und wir werden sehen, ob die Klagen der Militärschriftsteller wegen der schwachen Fütterung des Molochs nicht auch erfüllt werden. Wir erkennen also die Möglichkeit der dauernden Einschränkung der Rüstungen nicht an, obwohl wir natürlich das Wachstum der proletarischen Macht und die Furcht des Kapitals vor ihm anerkennen, und dies nicht nur, weil die Entwicklung des Imperialismus sein Interesse an den Rüstungen erhöht, sondern auch weil immer neue Länder, selbst solche, die dieser Politik noch nicht gewachsen sind, in den Mahlstrom des Imperialismus geraten. Wenn im Mittelmeer, durch welches der Weg nach Indien geht, österreichische, italienische und mit der Zeit türkische Dreadnoughts erscheinen, dann müssen die alten Mittelmeerbeherrscher England und Frankreich ihre Position dort stärken. So ist es überall, wo neue Kräfte, die den Ausgang des Spiels beeinflussen können, zutage treten. Wenn der Regenerationsprozess den chinesischen Koloss so weit bringt, dass er seine Flottenpläne ausführen kann, wird dieser Prozess erst recht einen mächtigen Impuls bekommen. Zwar schreibt Ledebour:

Ist doch jetzt schon eine solche monopolistische Handelspolitik im Abflauen begriffen. In China, wo Bülow mit seinem Platz an der Sonne sie in die Wege leiten wollte, ist sie glücklicher Weise kläglich gescheitert. Sie wird langsam aber sicher verdrängt durch die Politik der offenen Tür. Es sind überall Entwicklungstendenzen am Werk, die dem Gemeinsamkeitsgedanken Raum verschaffen und der sozialistischen Weltwirtschaft vorarbeiten.

Aber dies ist nichts anderes denn eine Illusion, die in der Luft hängt. Wenn es bisher galt, dass keine herrschende Klasse ohne den erbitterten Kampf ihr Ausbeutungsmonopol aufgibt, so kann man dies auch von den Verhältnissen der alten kapitalistischen Welt zu den aufkommenden kapitalistischen Ländern sagen. Ohne Kampf werden die Nutznießer des Vorsprunges, den Europa und Amerika vor Asien haben, die Waffen nicht strecken, wie sie auch augenblicklich noch mit der Türkei und mit China liebäugeln mögen. In einer solchen Situation Hosianna dem Frieden zu singen, wie es Genosse Ledebour trotz verschiedener Klauseln tut, ist mehr als ein gewagtes Stück. Das Gesagte stellt mit genügender Schärfe klar, dass die Rüstungen so fest mit dem Wesen des Finanzkapitals zusammenhängen, wie zu ihm das Beherrschen des Staates gehört. Darum können wir den Militarismus ebenso wenig wie die kapitalistische Staatsgewalt aushöhlen oder Schritt für Schritt erobern, unser Streben geht deshalb dahin, sie zu zertrümmern. Wenn also der Optimismus in der Beurteilung der Entwicklungsmöglichkeiten unserer Macht, als Quelle der dauernden Einschränkung des Militarismus, konsequent und verständlich ist bei der „Breslauer Volkswacht“,D deren Redakteur, Genosse Loebe, ein ausgesprochener Reformist ist, so ist solcher Optimismus bei dem Genossen Ledebour mehr als verwunderlich. Also mit dem Einfluss des Proletariats auf die Einschränkungen der Rüstungen ist es auch nichts.

So bleibt es dabei, dass im Kapitalismus unserer Tage die Rüstungstendenzen so stark überwiegen, dass die Behauptung Ledebours, es sei zweifelhaft, in welcher Richtung die Entwicklung gehe, in der des Weltkrieges oder des Weltfriedens, als ganz unbegründet angesehen werden muss.

Mit dem mehrfach gebrachten Beweis, dass eine gänzliche Verkennung der Tendenzen des modernen Kapitalismus die Basis der Position Ledebours bildet, fällt diese Position selbst. Wir könnten damit schließen, um so mehr, weil Ledebour über die internationale Abrüstung, von der er in Kopenhagen sprach, gänzlich schweigt, von dem internationalen Rüstungseinschränkungsabkommen, das die Fraktion forderte, sehr wenig spricht. Aber es liegt im Interesse der Gründlichkeit der Aufräumung mit dem pazifistischen Einfluss auf die Partei, dass wir diese Fragen besprechen. Umso mehr, als sie zeigen werden, dass Ledebour jede durchdachte marxistische Basis für seine Haltung zu den Fragen der auswärtigen Politik fehlt.

III.

Die Möglichkeit der Rüstungseinschränkung

In den vorigen Kapiteln wurde gezeigt, dass die Grundlage der Fraktionshaltung, wie sie der Genosse Ledebour darstellt, eine sehr optimistische Beurteilung des Kapitalismus bildet. Aber in die Stimmung, aus der heraus der Antrag von der Fraktion gestellt wurde, ist schon seit Kopenhagen etwas Nüchternheit hineingekommen. Denn die Kopenhagener Resolution, auf die sich jetzt Genosse Ledebour zwecks Kräftigung seiner Position beruft — in Kopenhagen berief er sich umgekehrt auf die Haltung der Reichstagsfraktion — empfiehlt den parlamentarischen Vertretungen der Sozialdemokratie die Eindringung „immer neuer Anträge, die auf die allgemeine Abrüstung hinzielen, zunächst vor allem auf den Abschluss einer Übereinkunft, durch welche die Seerüstungen beschränkt und das Seebeuterecht beseitigt werden.“ Die Reichstagsfraktion und ihre Vertreter verlangten von dem Reichskanzler nicht, er solle Schritte tun, die „auf die allgemeine Abrüstung hinzielen“. Wir wissen nicht, weshalb die Fraktion die Abrüstungsidee fallen ließ; ob sie schließlich einsah, die allgemeine Abrüstung fordern sei gleichbedeutend dem Verlangen, der Herr Reichskanzler möge doch mal dem Sozialismus einführen oder weil die Fraktion aus realpolitischen Gründen der Hoffnung war, verstehe sich der Herr Reichskanzler nur erst einmal zu einer Einschränkung der Rüstungen, dann werde er den gemütlichen Spaziergang zum Sozialismus schon weiter mitmachen. Genug, die Abrüstungsidee ist flöten gegangen und wir brauchen gegen sie hier keine Kanonen aufzufahren. Es blieb bei der Forderung einer internationalen Verständigung über die allgemeine Beschränkung der Rüstungen. Und diese Forderung hält Genosse Ledebour aufrecht und erklärt:

Nur wer aus irgendwelchen Gründen sich auf Rüstungsbeschränkungen überhaupt nicht einlassen will, wird die Durchführbarkeit eines solchen Abkommens bestreiten können.“

Obwohl ich, wie andere Sozialdemokraten, auch nichts gegen die Rüstungsbeschränkung habe, obwohl ich die Möglichkeit eines vorübergehenden Abkommens zwischen einigen Mächten anerkenne, bestreite ich die Möglichkeit eines internationalen Abkommens, das — wie Genosse Ledebour hofft — folgende Resultate hätte:

Käme es aber dazu, dann würde die bösartigste, gerade dem Wettrüsten entstammende Kriegsgefahr aus der Welt geschafft und nach einiger Zeit würde dann auch der weitere Gedanke der Einschränkung der Rüstungen sich Bahn brechen.

Aber hören wir die Gründe an, die Ledebour für seine Behauptung anführt:

Auch da kann ich mich kurz fassen, ohne mich mit dem oft zitierten Satz zu begnügen: Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg! Von verschiedenen Seiten, so vom Genossen Bebel in seiner jüngsten Hamburger Rede, wie später von mir im Reichstag ist auf das einfachste Auskunftsmittel verwiesen, mit dem man die Rüstungsbeschränkung einleiten kann: eine Abmachung der Mächte dahin, dass sie über das Maß ihrer gegenwärtigen jährlichen Geldausgaben für Rüstungszwecke zu Wasser und zu Lande keineswegs hinausgehen werden.“

Genosse Ledebour hat sich wirklich sehr kurz gefasst! Wie alle genialen Ideen ist auch diese sehr einfach. Aber sie hat einen kleinen Fehler: man kann nämlich fragen: warum sollen die diesjährigen Rüstungsausgaben die Grenze bilden, von der an sich der kapitalistischen Wolf in ein vegetarisches Schaf verwandelt, warum setzen wir die Grenze nicht auf das Jahr 1910 zurück, in dem das Flottenbudget Englands um 50 Millionen Mark geringer und der Bau der österreichischen Dreadnoughts noch nicht beschlossen war. Das erste würde doch der deutschen Bourgeoisie, das zweite der italienischen angenehmer sein, oder warum sollte nicht mit dem Abkommen solange gewartet werden, bis Delcassé seinen Flottenplan, der jetzt zur Beratung steht, verwirklicht?

Das Bild, das wir hier entworfen haben, ist nur scheinbar eine Karikatur: denn es zeigt, dass die einfache Formel des Genossen Ledebour ganz willkürlich ist, dass es ganz unklar ist, warum sie so und nicht gerade anders ist. Und dieser Charakter der Formel entspringt der Tatsache, dass sie in der Luft hängt, Ledebours Friedenstendenzen schwebten, die konkreten kapitalistischen Tatsachen hinter sich lassend, in den freien Regionen der Phantasie, mit den Gebilden der Phantasie aber kann man umgehen wie man will, also auch willkürlich. Es ist also natürlich, dass Ledebour die Tatsache außer acht lässt, dass es eine ganze Reihe jungkapitalistischer Staaten gibt, die sich auch an dem kapitalistischen Weltschmaus beteiligen wollen, heute aber nur eine kleine Flotte oder gar keine besitzen; die also selbst dann auf den Bau oder Ausbau ihrer Flotte nicht verzichten würden, wenn die schon teilweise gesättigten und versicherten Kumpane es so haben wollten. Wenn Ledebour sich dann über die Erklärung Bethmann-Hollwegs, dass ein internationales Abkommen ohne Feststellung der einem Staat, seiner Stärke usw. entsprechenden Flotte undurchführbar wäre, mit einem Witz von den Geheimräten, wirklichen Geheimräten usw. hinwegsetzt,2 so muss man sagen, der Witz war sehr gut, aber durch Witze schafft man nicht die Klippen aus der Welt, an denen ein internationales Flottenabkommen zerschellen muss. Und um Bethmann-Hollwegs Erklärung dieser Tatsache nicht zu zitieren — dies verursachte dem Genossen Ledebour schon einmal „ein peinliches Überraschen“ — so bringen wir die Gründe dafür in der Formulierung, in der sie vor mehr als einem halben Jahre in der „Leipziger Volkszeitung“ formuliert wurden:

Das Feld der Weltpolitik, auf dem die Interessen der Mächte zusammenstoßen, ist so ausgedehnt, diese Interessen so mannigfaltig und so in der Entwicklung begriffen, dass es unmöglich ist, einen Maßstab ausfindig zu machen, nach dem die Flottenstärke jedes Staates bemessen würde. Und dann: würde das gelingen, so würde jede Verschiebung der Machtverhältnisse, jede größere technische Umwälzung eine neue Übereinkunft fordern, wobei von Anfang an die Frage entscheidend wäre: welches Tribunal könnte eine Macht nötigen, sich der Übereinkunft, die ihr vielleicht nicht passen würde, zu fügen“.

So das Leipziger Parteiblatt am 15. September 1910 in einem Artikel: „Kritisches über Kopenhagen“. Bevor Genosse Ledebour oder ein anderer auf diese Gründe nicht mit Gegengründen antwortet, so lange wird es feststehen, dass die Fraktion eine Forderung ausgesprochen hat, die undurchführbar ist.

Ich habe immer wieder unterschrieben, dass es sich hier nicht um eine äußere, technische Schwierigkeit handelt, sondern um eine solche, die sich aus dem Charakter der kapitalistischen Entwicklung selbst ergibt. Nicht der böse Willen der Regierungen, sondern der Mechanismus der kapitalistischen Gesellschaft ist es, der ein internationales Flottenabkommen ebenso unmöglich macht wie ein internationales oder selbst im nationalen Rahmen durchgeführtes Recht, das dem Arbeiter einen gerechten Lohn garantieren würde. Es ist kein Wunder, dass nicht nur Genosse Ledebour, sondern auch Pazifisten, die speziell mit der Frage befassen, wie die Katze um den Brei herumzukriechen, wenn sie antworten sollen, wie spaziert man denn in das Friedensparadies hinein. Die Waffen nieder und dann das internationale Schiedsgericht schreibt Bertha v. Suttner und der große französische Gelehrte Charles Richet legt in einem Buche ausführlich dar, dass ohne die vorherige Einführung der Schiedsgerichte an keine Einschränkung der Rüstungen zu denken sei. Jeder bringt für seine Auffassung die gleiche Anzahl sehr überzeugender Argumente. Und wenn man die Frage beantworten will, warum die Aufgabe denn selbst gedanklich ungelöst bleibt, dann genügt es, sich der tiefen Worte von Marx aus seiner unsterblichen Einleitung zur „Kritik der politischen Ökonomie zu erinnern: „Die Menschheit stellt sich immer nur Aufgaben, die sie lösen kann. Denn genauer betrachtet, wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die Lösung schon vorhanden, oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind.“

Im Rahmen des Kapitalismus ist die Frage der allgemeinen Abrüstung, wie der allgemeinen Einschränkung der Rüstungen unlösbar, weil sie überhaupt auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht existiert. Nur verbunden mit dem Bestreben der Abschaffung des Kapitalismus, nur im Lager des kämpfenden Proletariats hat die Aufgabe eine Lösung gefunden in dem Ruf nach dem Sozialismus. Darum werden auch die Verteidiger der Fraktion, mögen sie noch soviel Scharfsinn und Wissen daran verwenden, keine Lösung der Aufgabe im Rahmen des Kapitalismus finden.

Es sei uns erlaubt, in einem weiteren Artikel nun auch die taktischen Argumente Ledebours noch zu prüfen.

IV.

Die taktische Position

Die in den vorigen Artikeln kritisierten Ansichten Ledebours über den Charakter des Imperialismus werden nicht von allen Verteidigern der Fraktion geteilt, aber selbst die Gegner dieser Auffassung halten die Einbringung der Resolution betreffend Rüstungseinschränkung für einen berechtigten Schritt. In einer ganzen Reihe von Parteiblättern konnte man folgenden Gedankengang lesen: eine allgemeine Beschränkung der Rüstungen ist unmöglich. Das wissen wir. Aber es genügt nicht, dass wir dies den Massen sagen, es gilt, die Regierung zu nötigen, dies klar auszusprechen. Das ist aber am besten dadurch zu erlangen, dass wir einen Antrag stellen, der von der Regierung positive Taten fordert. Dann muss sie sprechen, während sie auf eine Agitationsrede, die den Charakter des Imperialismus den Massen klarlegt, nicht antworten würde. Noch mehr! Man kann auch folgende weitergehende Argumentation selbst von Radikalen hören: eine politische Aktion der Massen lässt sich nicht mit einer so allgemeinen Losung wie: Gegen den Imperialismus! führen, sie ist am leichtesten in Fluss zu bringen, wenn wir sie an ein politisches Ereignis anknüpfen, und das würde mehr zünden als eine offene Erklärung der Regierung: wir rüsten ohne Unterbrechung!

Wenn man diese Gedankengänge in Betracht zieht — und sie sind es wohl, die die Mehrheit der Genossen für die Haltung der Fraktion einnehmen und nicht die theoretischen Ausführungen des Genossen Ledebour, die befremdlich im Munde eines sog[enannten] Radikalen klingen — so bekommt die Frage von der Einschränkung der Rüstungen neben der prinzipiellen eine taktische Seite. Diese taktische Frage zerfällt in zwei Teile: Zunächst drängt sich diese auf: Kann die Sozialdemokratie eine Forderung stellen, an deren Durchführbarkeit sie nicht glaubt, um die Regierung zu nötigen, ihren Charakter selbst den Massen zu denunzieren? So allgemein gestellt kann man die Frage bejahen, denn verneinen könnte man sie nur vom Standpunkt der moralischen Entrüstung, der man — ohne ein „Machiavellist“ zu sein — schließlich in der Politik nicht den bestimmenden Einfluss einräumen kann. Aber es ist klar, dass man die Frage verneinen muss, wo eine solche Taktik Verwirrung stiften kann. Und in dem vorliegenden Falle muss sie Verwirrung schaffen. Denn um die Forderung nach einer konkreten Maßnahme — nämlich die eines internationalen Abkommens über eine allgemeine Rüstungseinschränkung — vor dem Reichstag, der in seiner Mehrheit bürgerlich ist, zu verteidigen, genügt es nicht, die Wohltaten des Friedens zu schildern, denn das ist kein ausreichendes Argument für die Möglichkeit des Friedens im Rahmen des Kapitalismus, sondern man muss den Reichstag von dieser Möglichkeit auch zu überzeugen suchen. Darum: würde an Stelle des Genossen Scheidemann oder Ledebour der Geist des Marxismus selbst am Rednerpult des Reichstages gestanden haben, er hätte zur Begründung des Antrages am Kapitalismus eben solche schönen Seiten entdecken müssen, wie unsere beiden radikalen Fraktionsredner sie gefunden haben. Die Fehler ergeben sich aus der Situation selbst, die durch den Antrag geschaffen wurde. Diese Situation ist schuldig daran, wenn Marxisten und marxistische Blätter das englische Kleinbürgertum mit der englischen Nation verwechseln, wenn sie Herrn v. Bethmann-Hollweg, „die dürre Verlegenheitslösung", dafür verantwortlich machen, wofür der moderne Kapitalismus verantwortlich zu machen ist, wenn sie also statt die Massen gegen den ganzen Kapitalismus zu mobilisieren, ihnen den traurigen Junkerknecht als würdigsten Kampfziel darstellen. Schon dies zeigt, dass es ganz unrichtig wäre, wenn man die Haltung der Fraktion vom Standpunkte der Notwendigkeiten der parlamentarischen Taktik verteidigen möchte.

Die zweite Frage ist, ob man erst solche künstlichen Situationen schaffen muss, um gegen die imperialistische Politik seine Aktion einleiten zu können. Wir verneinen diese Frage! Es ist richtig, dass es schwer fällt, die Massen in Bewegung zu bringen wegen einer allgemeinen Losung, die nicht uns den Tagesereignissen herauswächst. Haben wir deren aber so wenig? Die Flottenvorlage 1898, die zweite 1900, die chinesische Expedition im Jahre 1900, das Marokkanische Abenteuer 1905, die Kriegsgefahr 1908-09, das neue Quinquennat [Militärhaushalt für fünf Jahre] im Jahre 1911, waren das nicht alles große politische Ereignisse, an die sich politische Massenaktionen anknüpfen ließen. Im Jahre 1901 klagte die Genossin Luxemburg und — wenn ich nicht irre — auch Genosse Fendrich — auf dem Parteitag, dass aus Anlass des Hunnenfeldzugs, der ein offenes Einschwenken des Reichsschiffes ins Kielwasser der Weltpolitik bedeutete, der Parteivorstand nicht einmal einen Aufruf an die Partei richtete. Kann man behaupten, dass seitdem die Partei alles tat, was in ihren Kräften lag, um eine gleichzeitig im ganzen Reiche einsetzende Volksversammlungsaktion durchzuführen, die den Massen das Verständnis der Gefahren, die ihnen seitens des Imperialismus drohen, beizubringen geeignet wäre? Ich verkenne keineswegs die Schwierigkeit, die Massen für diese „weit liegenden Angelegenheiten“ zu interessieren, aber man wird doch nicht behaupten wollen, dass eine Reichstagsfraktion für die Rüstungseinschränkung diese Massen schneller auf die Beine bringt, als die in der Luft liegende Gefahr eines Krieges, wie sie in den Jahren 1905 und 1909 vorlag. Es ist also klar, dass künstliche Aktionen nicht nötig sind, wenn man die von dem Gang der Ereignisse geschaffenen günstigen Anlässe nicht ausnützt.

Noch ein wichtiges taktisches Moment kommt in Betracht, das nicht aus dem Auge gelassen werden darf. Indem wir in Versammlungen gegen neue Militär- und Marineforderungen den schärfsten Protest erheben und eine politische Aktion der Arbeitermasse daran anknüpfen — wo war sie aus Anlass des Quinquennatsgesetzes im Winter dieses Jahres? — so organisieren wir den Druck der Massen auf die Regierung und den Reichstag und verbreiten dabei bei der Masse keine Illusionen wie die, dass kapitalistische Regierungen die Arbeit des Sozialismus: die Vorbereitung des Friedens, vollbringen können. Der Druck der Massen ist einzig das Element, das eine, wenn auch vorübergehende Verlangsamung des Rüstungstempos — vorausgesetzt, dass spezielle Momente, wie nahende Wahlen oder ruhige Weltlage, begünstigend hinzukommen — herbeiführen kann. Die zur Erhöhung dieses Drucks geleistete prinzipielle Propaganda und Agitation, die den Massen den Charakter des Imperialismus klar macht, sammelt im Proletariat Kräfte zur revolutionären Aktion für die Zeit, wo Zusammenstöße der imperialistischen Mächte sie nötig und möglich machen. Sie flößt dem Proletariat das Bewusstsein ein, dass es nur sich selbst vertrauen kann, wenn es sich um den Kampf gegen die Rüstungen und die Kriegsgefahr handelt. Das Umgekehrte dessen erreichen wir, wenn wir uns auf die schiefe Ebene begeben, auf der sich die Taktik der Fraktion in den Angelegenheiten der auswärtigen Politik bewegt. Im Jahre 1909 wurde der Regierung aus dem Munde des sozialdemokratischen Etatredners die Zustimmung zu ihrer und der Dreibundpolitik während der serbisch-österreichischen Krise ausgesprochen, im Jahre 1911 fordert man ein Bündnis mit England und Frankreich, als den Weg zu Frieden und zu der Rüstungseinschränkung, in beiden Fällen kann man den Charakter der auswärtigen Politik der Mächte den Massen nicht klarmachen, in beiden Fällen verlegt man das Schwergewicht aus der Aktion der Massen, als den einzigen Dämpfers der Kriegsgebiets, n die diplomatischen Machinationen der Mächte.

Uns so sehen wir, dass der jüngste Fehltritt der Reichstagsfraktion nicht vereinzelt steht, sondern der Ausbau der Tatsache ist, dass der Partei eine bis zum Ende durchdachte Taktik in den Fragen der auswärtigen Politik fehlt.

Darum ist die jetzige Debatte denn auch so wichtig und kann sie so fruchtbringend sein, wenn sie durch Kollektivarbeit der Partei die Ansichten darüber klärt. Die Klärung der Ansichten über die Verhältnisse der Sozialdemokratie zum auswärtigen Politik hat eine große Bedeutung nicht nur für Deutschland. Mit jedem Jahre reißt der Imperialismus neue Staaten in seinen Bann. Das vor einigen Jahren noch so weit von jeder Weltpolitik entfernte Österreich baut jetzt Dreadnoughts, Holland steht vor einer neuen Phase seiner Entwicklung, in England scheint das Wettrüsten dran zu gehen, das Bewusstsein der Arbeiterklasse in schnellem Tempo zu wecken. Tausend Fragen treten an die Internationale heran. In welcher Rüstung steht sie ihnen gegenüber. Auf der einen Seite versucht der Jaurèsismus für seine bürgerlich-illusionistische Auffassung die Internationale zu gewinnen, auf der zweiten machen sich in ihr imperialistische Tendenzen bemerkbar. Was wird die deutsche Sozialdemokratie zur Lösung dieser schwerwiegenden Fragen beitragen? Bis jetzt brachte sie der Internationale nicht nur die lehrreichste Praxis, sondern auch das tiefste Verständnis des Kapitalismus. Soll es in der großen Frage des Verhältnisses der Arbeiterklasse zum Imperialismus — dieser zukünftigen Religion des Kapitalismus — anders sein? Soll sie diesem Riesen, der mit jedem Tage an Kräften wächst, die Illusion des bürgerlichen Pazifismus, oder das Kraftbewusstsein des Proletariats entgegen stellen, das dem Imperialismus ruhig erklärt: durch meine Hand wirst du fallen!

Wie sich auch jetzt die Mehrheit der Partei zu dieser Frage stellt, wir zweifeln keinen Augenblick, dass sie sich auch in dieser Frage treu bleiben wird.

A Wien 1907, 408 Seiten [2. Auflage: Wien 1924, XXX und 576 Seiten].

C Siehe Hilferding, a.a.O., S. 390-445, das Kapitel 22 (Kapitalexport und der Kampf um das Wirtschaftsgebiet) und 28 (das Finanzkapital und die Krisen).

D Siehe die „Breslauer Volkswacht” vom 4. April.

2 Bethmann-Hollweg hatte am 30. März in seiner Antwort auf Scheidemann gesagt: „wenn die Großmächte ein Abkommen über eine allgemeine internationale Abrüstung treffen wollen, dann müssen sie sich zuerst darüber einigen, welche Geltung überhaupt die einzelnen Nationen im Verhältnis zu einander beanspruchen dürfen. Es muss eine Art Rangordnung aufgestellt werden, in welche Nation nummernmäßig mit der ihr zuzubilligenden Einflusssphäre einzutragen ist,

(Unruhe links)

vielleicht analog dem Verfahren, wie es bei industriellen Syndikaten geschieht.” (Verhandlungen des Reichstags. XII. Legislaturperiode. II. Session. Band 266. Berlin 1911, S. 6002)

Ledebour antwortete am 3. April: „Ihm schwebt nur die preußische Unteroffiziersidee vor, dass man eine Rangstellung der Staaten feststellen müsste.

(Zuruf links: wie beim preußischen Wahlgesetz!)

Gewiss, wie bei der Klasseneinteilung des preußischen Wahlgesetzes oder wie bei den Geheimräten: da gibt es Geheime Rechnungsräte, Geheime Regierungsräte, Geheime Räte und Wirkliche Geheime Räte. So wird es denn nach dem Bethmannschen Schema künftig Mächte, Großmächte und Wirkliche Geheime Großmächte mit dem Titel Exzellenz geben müssen.

(Heiterkeit)”

(Verhandlungen des Reichstags, a.a.O., S. 6139)

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