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Grigori Sinowjew 19190724 An die Arbeiter der Ententeländer

Grigori Sinowjew: An die Arbeiter der Ententeländer

Der internationale Streik wurde vereitelt! Es lebe der internationale Streik!

[Manifest, Richtlinien, Beschlüsse des Ersten Kongresses. Aufrufe und offene Schreiben des Exekutivkomitees bis zum Zweiten Kongress. Hamburg 1920, S. 124-129]

Mit verhaltenem Atem erwarteten die vorgeschrittenen Arbeiter aller Länder den 21. Juli. An diesem Tage war in Italien, in Frankreich, in England und in einigen anderen Ländern ein internationaler politischer Streik angekündigt unter der Parole: Unterstützung der russischen und ungarischen proletarischen Revolution – und mit der Forderung der Nichteinmischung der imperialistischen Regierungen in die ungarischen und russischen Angelegenheiten. Eine ganze Reihe offizieller „sozialistischer“ Organisationen schien diesen Streik zu unterstützen. Die französische Confédération Générale du Travail und das offizielle Parteizentrum in Frankreich waren für diesen Streik. Diese Organisationen wären jedoch nicht sich selbst, ihrer gewohnten Taktik des Schwankens und der Halbheit treu geblieben, wenn sie im letzten Augenblick nicht wieder die Arbeiterklasse verraten hätten.

Wenn die offiziellen „Sozialisten“ in England und in Frankreich für einen politischen Streik sind, so muss die Arbeiterklasse Englands und Frankreichs bedeutend weiter gegangen sein und ist wahrscheinlich geneigt zu einem direkten Aufstand.

So haben die Vorkämpfer der kommunistischen Arbeiter die Ereignisse gewertet.

Es geschah das Schlimmste. Die offiziellen Elemente des Sozialismus speisten die Arbeiter mit leeren Worten über den allgemeinen Streik ab, erwarben sich dadurch einiges Vertrauen, nahmen die Bewegung in ihre Hände, und als der entscheidende Tag kam, da gaben sie eine Gegenparole aus und vereitelten dadurch den Streik.

Wir haben noch keine ausführlichen Nachrichten darüber, was am 21. Juli in den bezeichneten Ländern geschah. Es unterliegt keinem Zweifel, dass das heldenmütige Proletariat Italiens sich wie immer auf der Höhe seiner Aufgabe erwies. Hunderttausende italienische Proletarier begannen einen heroischen Kampf gegen die italienischen Imperialisten. In einigen Städten Italiens kam es zu direkten Aufständen. Und es gibt keine Macht in der Welt, welche diesen großen Kampf der Arbeit gegen das Kapital aufhalten könnte.

In Frankreich ist wahrscheinlich wieder das bekannte „Zusammenarbeiten" der imperialistischen Regierung und der französischen Sozialverräter am Platze gewesen. Die imperialistische Regierung Frankreichs erklärte sich bereit, gewissen Kategorien politischer „Verbrecher" Amnestie zu erteilen. Und zugleich hat dieselbe Regierung höchst drakonische terroristische Maßnahmen gegen den kommunistischen Streik getroffen. Die Sozialverräter aber riefen, ihrer Taktik getreu, die Arbeiter auf, den angekündigten Streik aufzuschieben, d. h. sie taten das, was der französischen Bourgeoisie vonnöten war.

Der Streik am 21. Juli wurde vereitelt. Die Sozialverräter haben dem Verzeichnis der ungeheuren Verbrechen, die sie seit 1914 an der Arbeiterklasse aller Länder begangen haben, noch einen Verrat hinzugefügt. Der Streik wurde vereitelt, wenigstens in einigen der Länder, wo er angekündigt war. Und das erste Ergebnis davon ist, dass die verbündeten Imperialisten ein neues Vordringen gegen die heroische Sowjetrepublik Ungarn vorbereiten.

In Szegedin hat sich eine gegenrevolutionäre, aus Großgrundbesitzern bestehende usurpatorische Regierung gebildet, welche in Ungarn das feudal-bürgerliche Regime wieder herstellen will. Der Szegediner gegenrevolutionären Bande eilt natürlich die Regierung Clemenceaus zu Hilfe. Die französischen Imperialisten unterstützen aus allen Kräften die aus Ungarn verjagten und von dort geflüchteten enteigneten Magnaten. Das erhobene Schwert des drohenden politischen Streiks hielt Clemenceau und seine Handlanger für einige Zeit vor einem direkten Feldzug gegen das rote Budapest zurück. Nun wird dieser Feldzug mit neuer Kraft vorbereitet. Und wenn jetzt die Horden der Weißgardisten auf die heldenhaften ungarischen Proletarier, welche ihr Land vom Druck des Kapitalismus befreit haben, einstürmen, so tragen die Verantwortung dafür in erster Reihe jene französischen Sozialverräter, die am 21. Juli den Streik sprengten.

Das zweite Ergebnis davon, dass es den Verrätern gelang, den Streik am 21. Juli zu sprengen, ist die Tatsache, dass die englischen Imperialisten wieder einen Feldzug gegen das rote Petrograd planen. „Petrograd muss genommen werden" – ruft die „Times", das tonangebende Organ der englischen Imperialisten. Und wenn die Petrograder Arbeiter aufs Neue einen Ansturm gegenrevolutionärer Truppen abzuwehren haben, so tragen die Verantwortung dafür jene Sozialverräter, die den Streik am 21. Juli vereitelt haben.

Arbeiter, man betrügt Euch! Ihr werdet auf Schritt und Tritt von jenen Parteien und Organisationen der Zweiten Internationale verraten, welche noch immer wagen, in Eurem Namen zu reden. So war es immer und überall. Als im Januar 1919 die Proletarier Berlins unter der Führung unseres unvergesslichen Karl Liebknecht sich gegen die Macht des Kapitals empörten, sprengten die Sozialverräter und die Herren aus dem von Kautsky geleiteten „Zentrum" diesen großen Aufstand, sie trugen Zersetzung in die Reihen der kämpfenden Arbeiter, indem sie die Rolle von ehrlichen Maklern, von Vermittlern zwischen den Arbeitern und den Kapitalisten übernahmen. Und wie im Januar 1919 die deutschen Bourgeois in Berlin die Sozialisten des „Zentrums" gegen die aufständischen Arbeiter ausnutzten, so bedienten sich auch im Juli 1919 die Herren Bourgeois in Paris der Sozialisten des „Zentrums" gegen die Pariser Proletarier.

Und dennoch sind wir überzeugt, Genossen, dass der am 21. Juli gesäte Same vortrefflich keimen wird. Niemand kann die hehre Idee des internationalen Kampfes der Arbeit gegen das Kapital aus Euren Herzen reißen. Dieser abermalige Verrat der offiziellen Sozialisten öffnet Euch noch ein übriges Mal die Augen darüber, dass die Organisationen der Zweiten Internationale eine Agentur der Bourgeoisie sind, dass wir, ohne mit diesen Verrätern der Arbeiterklasse zu brechen, keinen einzigen Schritt vorwärts tun können.

Die ungarischen Arbeiter, wir sind fest überzeugt davon, werden auch dieses Mal mit dem räuberischen Überfall fertig werden, welchen man ihnen bereitet. Die russische proletarische Republik wird für sich einstehen, sowohl gegen die Blockade der französischen Imperialisten auf dem Schwarzen Meer, wie gegen den Ansturm der von dem bürgerlichen England und Frankreich unterstützten russischen Gegenrevolutionäre an allen Fronten.

Die italienische Regierung erklärte heuchlerisch, dass sie sich nicht mehr in die inneren Angelegenheiten Russlands und Ungarns mischen werde. In Worten versichern Euch die englische und französische Regierung desgleichen. Die offiziellen Sozialverräter reden ihren Herren, den Bankiers, das Wort und bemühen sich gleichfalls, Euch zu überzeugen, dass keinerlei Intervention unternommen werde.

Genossen, das ist nicht wahr!

Die Einmischung der imperialistischen Regierungen der Ententeländer in die Angelegenheiten Ungarns und Russlands findet statt, und dabei in den allerzynischsten Formen. Die französischen Kapitalisten dingen serbisches und rumänisches Gesindel, um mit dessen Hilfe einen Feldzug gegen Budapest zu organisieren. Die französischen und englischen imperialistischen Regierungen versehen die mordsüchtigen Zarengeneräle Denikin und Koltschak mit Milliarden Geld, mit Tanks, mit Offizieren und mit allem, wessen dieser Abschaum der zaristischen Reaktion in seinem Vernichtungskampf gegen die Arbeiterklasse und die Bauernschaft bedarf. Ihr wisst sehr wohl: der Versailler Friede ist unterzeichnet, aber jede der imperialistischen Regierungen hält dennoch das Messer bereit. In Fiume kämpfen die Franzosen gegen die Italiener, und Hunderte von Toten und Verwundeten auf beiden Seiten beweisen, dass die imperialistischen Regierungen bereit sind, in jedem beliebigen Augenblick aufs Neue in Streit zu geraten. Die Griechen kämpfen gegen die Türken. Die Gründung des berüchtigten Völkerbundes stellt dem keine Hindernisse in den Weg, dass bereits jetzt neue Intrigen gesponnen, neue Geheimverträge geschlossen, neue blutige Kriege in Aussicht gestellt werden. Nur eine siegreiche proletarische Revolution in der ganzen Welt kann uns ein für allemal von den Schrecken der Kriege und des Kapitalismus befreien.

Die Idee eines internationalen politischen Streiks, eines Streiks, der sich gewiss später in einen internationalen Aufstand gegen die imperialistischen Regierungen entwickelt, – diese Idee stirbt nicht. Die Vorhut des internationalen Proletariats nimmt diese Angelegenheit aus den Händen derjenigen, die am 21. Juli 1919 den abertausendsten Verrat begingen, und stellt selbst den internationalen politischen Streik auf die Tagesordnung. Die Arbeiterklasse Englands, Frankreichs und anderer Länder wird an dem Beispiel des 21. Juli lernen. Die Arbeiter der vorgeschrittensten Länder werden sich zu einer neuen Aktion vorbereiten und dabei nur auf ihre eigenen Kräfte, auf die Kräfte jener Proletarier rechnen, welche die Notwendigkeit erfasst haben, mit den Verrätern der Zweiten Internationale zu brechen und sich unter das Banner der Dritten, der Kommunistischen Internationale zu stellen.

Möge die Bourgeoisie zeitweilig triumphieren und sich vor Vergnügen die Hände reiben, dass es ihr mit Hilfe der Zweiten Internationale wiederum gelungen ist, das Auftreten der Arbeiter zunichte zu machen. Wir sind überzeugt, dieser Triumph wird von sehr kurzer Dauer sein.

Der internationale politische Streik wurde von den Sozialverrätern gesprengt. Es lebe der internationale politische Streik, welchen die Arbeiter gegen die Bourgeoisie und gegen die Sozialverräter organisieren!

Vorsitzender des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale

G. Sinowjew.

24. Juli 1919.

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