Der Sturm auf die Zensurfeste

Der Sturm auf die Zensurfeste

Einen glänzenden Feldzug – geschlossen, politisch vollendet und siegreich – führte der Petersburger Rat zum Schutze der Pressefreiheit durch. Treue Bundesgenossenschaft in diesem Kampfe leistete ihm der Verband der Druckereiarbeiter, eine noch junge, aber bereits festgefügte gewerkschaftlich-politische Organisation.

Die Pressefreiheit'', sagte ein Redner aus dem Arbeiterstande in der zahlreich besuchten Versammlung des Verbandes, die dem Oktoberstreik voranging, „ist für uns nicht allein als politisches Gut wichtig. Sie ist auch unsere ökonomische Forderung. Den drückenden Fesseln der Zensur entrissen, wird die Literatur wie in dem Druckergewerbe, so auch in den verwandten Berufszweigen einen blühenden Aufschwung zur Folge haben." Von dieser Zeit an eröffneten die Druckereiarbeiter einen systematischen Feldzug gegen die Zensurparagraphen. Schon früher, im Verlauf des ganzen Jahres 1905, wurden in den legalen Druckereien illegale Schriften gedruckt. Aber dies wurde heimlich betrieben, in geringem Umfange und unter Beobachtung aller Vorsichtsmaßregeln. Seit Oktober wird nun auch die Masse der Setzer zur Herstellung illegaler Literatur herangezogen. Die früher sorgfältig gewahrte Konspiration in den Druckereien wird jetzt fast ganz fallen gelassen. Zu gleicher Zeit wird die Haltung der Arbeiter gegenüber den Verlegern immer energischer. Die Setzer fordern die völlige Ignorierung der für die Zeitungen geltenden Zensurbestimmungen, widrigenfalls sie die Arbeit niederlegen wollen. Am 26. Oktober tagt eine Konferenz der Vertreter der periodischen Zeitschriften. Die Reptilien von der „Nowoje Wremja" sitzen auf derselben Bank mit den Vertretern der extrem radikalen Richtung. Und diese Arche Noah der Petersburger Presse fasst den Beschluss: „sich an die Regierung mit der Forderung der Pressfreiheit nicht zu wenden, sondern dieselbe auf dem Wege der Anmeldung auszuüben." Wahrlich eine von echtem Bürgermut erfüllte Resolution! Glücklicherweise werden die Verleger von dem Geschick begünstigt: der allgemeine Streik bewahrt Sie davor, eine Probe ihrer männlichen Gesinnung ablegen zu müssen. Und dann kommt ihnen die „Konstitution" zu Hilfe. Das Golgatha politischen Märtyrertums wird durch die realere Perspektive einer Entente mit dem neuen Ministerium beiseite geschoben.

Das Manifest vom 30. Oktober ließ kein Wort über Pressfreiheit verlauten. Graf Witte belehrte jedoch die liberalen Deputationen, dass man dieses Schweigen als Zeichen des Einverständnisses aufzufassen habe und dass die verkündete Freiheit der Rede zugleich auch auf die Presse auszudehnen sei. Immerhin, fügte der Premierminister hinzu, bleiben, bis ein neues Pressgesetz erscheint, die alten Zensurgesetze in Kraft. Leider musste sich Graf Witte getäuscht sehen: Seine konstitutionelle Zensur erwies sich ebenso ohnmächtig wie er selbst. Nicht die Verleger, sondern die Arbeiter sollten das Schicksal der Zensur entscheiden.

In Russland ist durch Manifeste des Zaren die „Freiheit" der Rede proklamiert", erklärte am 1. November der Rat, „aber die Hauptverwaltung für Zensurangelegenheiten besteht weiter, und der rote Stift des Zensors bleibt nach wie vor in Kraft … Die Freiheit des gedruckten Wortes muss erst von den Arbeitern erobert werben. Der Delegiertenrat bestimmt daher, dass nur diejenigen Zeitungen erscheinen dürfen, deren Redakteure die Zensurkomitees vollkommen ignorieren, ihnen keine Pflichtexemplare einreichen und überhaupt genau in derselben Weise verfahren, wie der Delegiertenrat bei der Herausgabe seiner Zeitung. Es dürfen infolgedessen die Setzer, ebenso wie die übrigen Genossen, die in Zeitungsverlagen beschäftigt sind, erst dann wieder an die Arbeit gehen, wenn die Redakteure ausdrücklich erklärt haben, dass sie bereit seien, die Pressfreiheit praktisch durchzuführen. Bis dahin aber verharren die Zeitungsarbeiter im Ausstand, und der Delegiertenrat wird es sich angelegen sein lassen, dass den streikenden Genossen der Arbeitslohn ausgezahlt werde. Die Zeitungen, die sich dieser Anordnung nicht fügen, werden an den Verkaufsstellen konfisziert und vernichtet, die Druckereimaschinen unbrauchbar gemacht und die Arbeiter, die sich an den Beschluss des Delegiertenrats nicht halten, boykottiert."

Diese Anordnung, die man einige Tage darauf auch auf die Verlage von Journalen, Büchern und Broschüren ausdehnte, wurde das neue Pressegesetz.

Der Streik der Druckereiarbeiter dauerte, zusammen mit dem allgemeinen Streik bis zum 3. November. Der Verband entschied, dass der Streik selbst zugunsten des konstitutionellen Manifestes nicht unterbrochen werden dürfe, und diese Order wurde aufs Strengste eingehalten. Das Manifest erschien daher auch nur im „Regierungsanzeiger", in dessen Druckerei Soldaten als Setzer fungierten. Außerdem brachte noch die reaktionäre Zeitung „Swjet“ heimlich, ohne Wissen ihrer Setzer, den Wortlaut der illegalen zarischen Proklamation vom 30. Oktober; sie musste aber diesen Ungehorsam hart büßen, denn die Druckerei wurde bald darauf von Fabrikarbeitern demoliert.

Waren denn wirklich seit dem Bittgang vor das Winterpalais im Januar nicht mehr als neun Monate vergangen? Hatten denn wirklich erst im verflossenen Winter dieselben Leute den Zaren angefleht, ihnen Pressfreiheit zu schenken? Nein, der alte Kalender lügt! Die Revolution hat ihre eigene Zeitrechnung, Monate gelten in ihr für Dezennien, und Jahre für Jahrhunderte …

Unter zwanzigtausend Druckereiarbeitern fand das Manifest des Zaren auch nicht ein einziges paar untertänigst bereiter Hände. Dafür aber wurden die sozialdemokratischen Flugblätter, die von dem Manifeste Mitteilung machten und es kommentierten, schon am 31. Oktober in gewaltigen Mengen verbreitet. Und die zweite Nummer der „Nachrichten des Rats”, die an diesem Tage erschien, wurde an allen Straßenecken verteilt.

Als der Streik beendet war, brachten sämtliche Zeitungen ihren Lesern zur Kenntnis, dass sie von nun an vollkommen unabhängig von der Zensur gedruckt werden würden. Und doch stand in keiner dieser Zeitungen auch nur ein einziges Wort, wem in Wahrheit dieser Umschwung zu verdanken sei. Nur die „Nowoje Wremja” gab durch die Feder ihres Mitarbeiters Stolypin, des Bruders des zukünftigen Premierministers, ihrer Entrüstung schüchternen Ausdruck: wir waren ja selbst bereit, dieses Opfer auf dem Altar der freien Presse niederzulegen, aber man kam zu uns, forderte, zwang uns und vergiftete uns die Freude an unserem freiwilligen Entschlusse. Außer der „Nowoje Wremja war es noch ein gewisser Herr Baschmakow, der Herausgeber der reaktionären „Narodny Golos” und der in französischer Sprache erscheinenden Diplomatenzeitung „Journal de St-Pétersbourg”, der nicht die liberale Bereitschaft zeigen wollte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Er erwirkte für sich im Ministerium die Erlaubnis, weder die Korrekturen noch die Pflichtexemplare seiner Zeitungen dem Zensor vorlegen zu müssen, und brachte alsdann im „Narodny Golos” folgende entrüstete Erklärung: „Indem ich mich gezwungenermaßen einer Gesetzesübertretung schuldig mache“, so schrieb dieser Ritter der Polizeigesetzlichkeit, „lasse ich trotz meiner innigen Überzeugung, dass jedes Gesetz, mag es auch ein schlechtes sein, befolgt werden muss, solange es von der legalen Macht nicht abgeschafft ist, wider meinen Willen die heutige Nummer ohne vorherige Verständigung mit der Zensurbehörde erscheinen, obgleich mir auch dieses Recht nicht zusteht. Aber mit der ganzen Kraft meiner Seele erhebe ich Einspruch gegen die an mir geübte Gewalt und erkläre, dass ich gesonnen bin, das Gesetz zu befolgen, sobald sich nur die geringste Möglichkeit dazu bietet, denn die Nennung meines Namens in einer Reihe mit den Streikenden würde ich in dieser stürmischen Zeit als eine Schmach für mich ansehen. Alexander Baschmakow” Diese Erklärung charakterisiert trefflicher als alles andere das wahre Kräfteverhältnis, das sich in jener Zeit zwischen der offiziellen Gesetzlichkeit und dem revolutionären Recht gebildet hatte. Und im Interesse der Gerechtigkeit halten wir es für notwendig, hinzuzufügen, dass die Handlungsweise des Herrn Baschmakow ganz erheblich gewinnt, wenn man sie an der Haltung des halb-oktobristischen Slowo” misst, welches sich von dem Arbeiterdelegiertenrat schwarz auf weiß bestätigen ließ, dass es seine Exemplare dem Zensor nicht vorzulegen brauche. Um dem alten Regime ihre Keckheit ins Gesicht zu schleudern, bedurften diese Leute eben der Genehmigung des neuen Gewalthabers.

Der Verband der Druckereiarbeiter hielt während der ganzen Zeit scharfe Wache. Heute vereitelt er die Absicht eines Verlegers, das Gebot des Rates zu umgehen und mit der sich in tatenlosem Drang verzehrenden Zensurbehörde Verbindungen anzuknüpfen. Morgen tritt er dazwischen und verhindert den Versuch, eine freigewordene Presse zu einem Pogromaufrufe auszunutzen. Fälle der letzteren Art werden nämlich immer häufiger. Der Kampf gegen die Pogromliteratur begann mit der Konfiskation eines Auftrags von 100.000 Aufrufen, die von einer „Gruppe von Arbeitern" unterzeichnet waren und zur Ausrottung der „neuen Zaren", der Sozialdemokraten, aufforderten. Das Original trug die Unterschrift des Grafen Orlow-Dawydow und der Gräfin Mussin-Puschkin. Auf die Anfrage der Setzer ordnete der Rat an, die Maschinen abzustellen, die Stereotypen zu vernichten und die fertigen Exemplare zu konfiszieren. „Liegt kein direkter Aufruf zu Gewalt und Pogromen vor, so soll der Druck nicht gehindert werden" – dies war das allgemeine Prinzip, das von dem Exekutivkomitee und dem Verband der Druckereiarbeiter als Richtschnur aufgestellt wurde. Dank den tatkräftigen Bemühungen der Setzer wurde alle rein pogromistische Literatur aus den Privatdruckereien verbannt, und nur das Polizeidepartement und die Gendarmerieverwaltung blieben die einzigen Werkstätten, in denen hinter dicht verschlossenen Türen und Fensterläden die blutrünstigen Aufrufe auf alten, einst den Revolutionären abgenommenen Handpressen fabriziert wurden.

Die reaktionäre Presse erschien im großen Ganzen vollkommen unbehindert. In den ersten Tagen gab es zwar einige Zwischenfälle, jedoch ohne größere Bedeutung, so z. B. den Versuch der Setzer einer Petersburger Druckerei, einen reaktionären Artikel mit ihrem eigenen Kommentar zu versehen; ferner einige Proteste gegen grobe antirevolutionäre Ausfälle. In Moskau weigerten sich die Setzer, das Programm der damals eben entstandenen Oktobristengruppe zu drucken. „Da haben Sie die gelobte Pressfreiheit!" beklagte sich aus diesem Anlasse das künftige Haupt des Verbandes vom 30. Oktober, Gutschkow, auf dem Semstwokongress. „Das ist ja dasselbe alte Regime, nur vom anderen Ende her. Da bleibt nichts andres übrig, als sich die Rezepte dieses Regime zu eigen zu machen, d.h., im Auslande zu drucken oder eine geheime Druckerei einzuführen."

Selbstverständlich konnte die Entrüstung der Pharisäer der kapitalistischen Freiheit gar kein Ende finden … Sie wähnten insofern Recht zu haben, als der Setzer für den Text, den er bekomme, nicht verantwortlich gemacht werden könne. Aber in jener Ausnahmezeit hatten die politischen Leidenschaften einen so hohen Grad der Spannung erreicht, dass der Arbeiter auch in seiner Berufssphäre keinen Augenblick von dem Bewusstsein seiner revolutionären Verantwortlichkeit verlassen wurde. Die Setzer in einigen reaktionären Verlagen gingen sogar so weit, dass sie die Arbeit hinwarfen und freiwillig die Not, welche die Arbeitslosigkeit gebiert, auf sich nahmen. Und selbstverständlich verletzten sie nicht im Geringsten die „Pressfreiheit", wenn sie sich weigerten, reaktionäre oder liberale Verleumdungen zu drucken, mit denen ihre eigene Klasse überschüttet wurde. Im schlimmsten Falle verletzten sie die Arbeitsverträge. Aber das Kapital ist so sehr von der gewalttätigen Metaphysik des „freien Arbeitsvertrages" durchdrungen, der die Arbeiter zu den ekelhaftesten Arbeiten zwingt – Gefängnisse und Panzerschiffe zu bauen, Gefangenenfesseln zu schmieden, Organe der bürgerlichen Lüge zu drucken –, dass es nicht müde wird, die sittlich motivierte Weigerung, sich zu solchen Arbeiten herzugeben, als physische Vergewaltigung bald der „Freiheit der Arbeit", bald der „Freiheit der Presse" zu brandmarken.

Am 4. November erschienen die russischen Zeitungen zum ersten Male frei von dem Joche, das so lange auf innen gelastet hatte. Unter all den alten und neuen Zeitungen, für welche die Möglichkeit, alles sagen zu dürfen, keine Wohltat, sondern einen Fluch bedeutete – weil sie in dieser großen Zeit nichts zu sagen hatten – weil in ihrem Wörterbuch die Worte fehlten, mit denen man zu dem neuen Leser sprechen musste und konnte, – weil der Sturz des Zensurgendarmen den in ihrer Brust wohnenden Gendarmen, ihre ängstlich nach der Behörde schielende Vorsicht, unberührt ließ – in dieser Gesellschaft musste natürlich sofort die klare und mannhafte Stimme der sozialistischen Presse hervortreten.

Unsere Zeitung ist das Organ des revolutionären Proletariats," waren die Worte, mit denen sich die sozialdemokratische „Natschalo" dokumentierte. „Das Proletariat Russlands hat uns durch seinen aufopfernden Kampf das Feld des freien Wortes eröffnet – und wir weihen unser freies Wort dem Dienste des russischen Proletariats."

Wir russischen Publizisten des Sozialismus, die wir lange Jahre hindurch das Leben der unterirdischen Maulwürfe der Revolution geführt hatten, erfuhren jetzt den Wert des freien Himmels, der freien Luft und des freien Worts, Wir, die wir in die düstere Nacht der Reaktion hinausgetreten waren, als die Stürme heulten und die Nachtvögel umher flatterten; wir an Jahr Geringen, Schwachen, Zerstreuten – gegenüber dem furchtbaren apokalyptischen Tier; wir nur mit dem grenzenlosen Glauben an das Evangelium des internationalen Sozialismus Gewappneten – gegenüber dem mächtigen, vom Kopf bis zu den Füßen in der starren Rüstung des internationalen Militarismus gewappneten Feind. Ins Dunkel getaucht, in den Mauerrissen der Gesellschaft verborgen, erklärten wir der Autokratie den Kampf auf Leben und Tod. Was war unsere Waffe? Das Wort! Wenn man ausrechnen wollte, mit wie viel Stunden Zuchthaus und ferner Verbannung unsere Partei jedes revolutionäre Wort bezahlen musste – es würden sich grauenhafte Ziffern ergeben … Eine erschütternde Statistik des Herzbluts und des Nervenmarks!

Aus dem langen, mit Wolfsgruben und Fuchseisen reich besäten Wege steht zwischen den illegalen Schriftstellern und den illegalen Lesern eine Reihe illegaler Vermittler: der Setzer, der Spediteur, der Verbreiter des verbotenen Worts … Welch unendliche Kette von Mühen und Gefahren! Ein Fehltritt – und die Arbeit aller ist verloren! … Wie viele Druckereien wurden beschlagnahmt, noch ehe das Werk begann! Wie viel Literatur, die, ohne den Leser erreicht zu haben, in den Höfen der Gendarmerieverwaltungen verbrannt wurde! Wie viel gelähmte Kräfte und zertrümmerte Existenzen!

Unsere kümmerlichen Hektographen, unsere heimlich selbst angefertigten Handpressen hatten wir den Rotationsmaschinen der offiziellen Regierungslüge und des konzessionierten Liberalismus gegenübergestellt. Hieß das nicht, mit der Axt der Steinzeit sich gegen Kruppsche Kanonen stellen? Man überschüttete uns mit Hohn und Spott. Und jetzt, in den Oktobertagen, triumphierte die Steinaxt. Das revolutionäre Wort zerschmetterte die Wände seines Kerkers, über die eigene Kraft selbst verwundert und von ihr berauscht. Der Erfolg der revolutionären Presse war ein ungeheurer. In Petersburg erschienen zwei große sozialdemokratische Zeitungen, deren jede schon in den ersten Tagen über 50.000 Abonnenten aufweisen konnte, und eine dritte, deren Auflage innerhalb 3 Wochen auf 100.000 stieg. Sehr verbreitet war auch die große Zeitung der Sozialrevolutionäre. Und zu gleicher Zeit kam aus der Provinz, die in kurzer Zeit eine eigene sozialistische Presse geschaffen hatte, von Tag zu Tag wachsende Nachfrage nach den revolutionären Organen der Hauptstadt.

Die Pressbedingungen, wie überhaupt alle politischen Bedingungen, waren in den verschiedenen Teilen des Landes verschieden. Alles hing davon ab, wer sich an dem betreffenden Platze fester im Sattel fühlte: die Reaktion oder die Revolution. In der Hauptstadt hatte die Zensur in Wirklichkeit zu existieren aufgehört. In der Provinz behauptete sie noch das Feld, musste aber unter dem Einflusse des Tons der hauptstädtischen Blätter die Zügel gänzlich lockern. Dem Kampfe der Polizei gegen die revolutionäre Presse fehlte jede gemeinsame Idee. Man verfügte die Konfiskation einzelner Zeitungen und Schriften, aber es war niemand da, um diese Verfügungen ernstlich durchzuführen. Die quasi konfiszierten Nummern der sozialdemokratischen Zeitungen wurden nicht nur in den Arbeitervierteln, sondern auch auf dem Newskiprospekt ganz offen verkauft. Die Provinz verschlang die hauptstädtische Presse wie Himmelsmanna. Bei der Ankunft der Postzüge standen die Zeitungskäufer in langen Reihen auf dem Perron. Die Zeitungshändler wurden förmlich gestürmt. Jemand aus der Menge entfaltete die frische Nummer der „Russkaja Gaseta" und las die Hauptartikel mit lauter Stimme vor. Die Bahnhofsräume waren drückend voll und verwandelten sich in stürmisch bewegte Auditorien. Das wiederholte sich am zweiten und dritten Tage, und wurde schließlich zum System. Manchmal aber – und dies nicht selten – wurde die völlige Passivität der Polizei von zügelloser Willkür abgelöst. Die Gendarmerieunteroffiziere konfiszierten dann die „rebellische" hauptstädtische Presse noch in den Postwagen und vernichteten sie in ganzen Stößen. Mit besonderer Wut kehrte sich die Polizei gegen die satirischen Journale. An der Spitze dieser Hetze stand Durnowo, der in der Folge vorschlug, die Vorzensur für Karikaturen wieder herzustellen. Grund genug hatte er dazu: gestützt auf die autoritäre Charakteristik aus dem Munde Alexanders III. hatte die Karikatur den stumpfen Kopf des Ministers des Innern auf den Körper eines Schweins gesetzt … Durnowo stand jedoch nicht allein. Alte Flügeladjutanten, Kammerherren, Hof,-, Jäger- und Stallmeister waren mit ihm eins in dem Gefühl der Rachewut. Diesem Gesindel gelang es, seine Hand an das Pressgesetz zu legen, durch welches das Ministerium beschlossen hatte, „schon jetzt, bis zu der legislativen Sanktion durch die Reichsduma, die Pressfreiheit zu verwirklichen", d.h. mit anderen Worten, jener Pressfreiheit, die dank dem Proletariat der Stadt Petersburg bereits faktisch geübt wurde, den Zaum aufzulegen. Die temporären Bestimmungen vom 7. Dezember, welche die Presse nach wie vor in den Krallen der Administration belassen, dekretieren Strafen nicht nur für den Aufruf zu Streik oder Manifestation, sondern auch für Beleidigung der Armee, Verbreitung falscher Nachrichten über die Tätigkeit der Regierung, schließlich für Verbreitung falscher Nachrichten überhaupt, In Russland bedeuten „temporäre" Bestimmungen, welcher Art sie auch sein mögen, nach der allgemeinen Regel die langwierigste Form eines Gesetzes. So geschah es auch mit den temporären Bestimmungen für die Presse. Bis zur Einberufung der Reichsduma erlassen, verfielen sie dem allgemeinen Boykott und blieben in der Luft hängen, wie das ganze Ministerium Witte. Aber der Sieg der Konterrevolution im Dezember säuberte den Boden für das Wittesche Pressegesetz. Es wurde ins Leben geführt und hat, ergänzt durch eine Novelle, welche für die Verherrlichung von Verbrechen Strafen vorsieht, einerseits und die unbeschränkte Vollmacht der Stadthauptleute und Provinzsatrapen andererseits, der ersten wie der zweiten Duma Stand gehalten und wird auch hoffentlich die dritte Duma überdauern.

In Verbindung mit der Geschichte des Kampfes um die Pressefreiheit bleibt uns noch zu erzählen übrig, in welcher Weise die „Nachrichten des Arbeiterdelegiertenrats" herausgegeben wurden. Denn die Geschichte der Herausgabe dieser Revolutionsbulletins bildet ein interessantes Blatt aus dem Kapitel des Emanzipationskampfes des russischen Proletariats um das freie Wort.

Die erste Nummer erschien in beschränktem Format und geringer Auflage noch vor der „Konstitution"; sie wurde in einer Privatdruckerei heimlich und gegen Bezahlung hergestellt. Die zweite Nummer datiert vom 31. Oktober. (Alle weiter angeführten Episoden sind dem Artikel: „Wie die Nachrichten des Arbeiterdelegiertenrats gedruckt wurden" entnommen. Verfasser des Artikels ist Genosse Simanowski, der Hauptorganisator der „fliegenden Druckereien" des Rats.) Eine Gruppe Freiwilliger begab sich in die Druckerei des radikalen „Syn Otjetschestwa", der in der Folge das Hauptorgan der Sozialrevolutionäre wurde. Die Administration der Druckerei schwankt unschlüssig zwischen Ja und Nein. Die Situation ist noch völlig unklar, und es ist ungewiss, welche Folgen die Drucklegung eines revolutionären Organs nach sich ziehen könnte.

Ja, wenn Sie uns zum Beispiel für verhaftet erklärten … ", meint zögernd einer von der Administration.

Also sind Sie verhaftet!" gibt man ihm zur Antwort.

Durch Waffengewalt," fügt ein zweiter hinzu und zieht einen Revolver aus der Tasche.

Sie sind verhaftet! Alle sind verhaftet!"

Hinein dürfen alle – hinaus niemand!"

Wo haben Sie Ihr Telefon? Stellen Sie sich ans Telefon!"

Durch sämtliche Räume der Druckerei und der Redaktion schwirren nur so die lauten Kommandorufe.

Die Arbeit beginnt. Unterdes betreten immer neue Personen die Druckerei. Es erscheinen die Mitarbeiter, Setzer kommen mit ihren Lohnbüchern. Die Setzer werden sofort eingeladen, Hand anzulegen, die Mitarbeiter erhalten den Auftrag, diese ober jene Notiz beizusteuern. Die Arbeit ist in vollem Gange.

Ein anderes Bild. Diesmal in der Druckerei der „Obschtschestwennaja Polsa". Die Eingänge sind geschlossen und vor denselben Wachtposten ausgestellt.

Der Stereotypeur tritt in die Gießerei. Gänzlich unbekannte Männer sind eifrig damit beschäftigt, Matrizen herzustellen und die Öfen in Brand zu setzen.

Was ist denn das für eine Zucht? Wer hat's denn erlaubt?" Der Gestrenge ist ganz außer sich und schickt sich an, das Feuer in den Öfen wieder auszulöschen. Es wird ihm aber sofort ein Dämpfer aufgesetzt und Einsperrung in die Kammer angedroht. „Ja, was ist denn hier eigentlich los?" Man klärt ihn darüber auf, um was es sich handelt: die Nummer 3 der „Nachrichten des Arbeiterdelegiertenrats" soll hier heute gedruckt werden.

Ja, das hätten Sie gleich sagen können. … Als ob ich. … Ich bin ja jederzeit bereit. " Und unter der geübten Hand des Meisters geht die Arbeit in flottestem Tempo vonstatten.

Wie wollen Sie denn drucken? Wir haben ja keinen Strom," meint der vorher in Haft erklärte Druckereiverwalter.

Von welcher Station erhalten Sie Strom? In einer halben Stunde haben wir welchen."

Der Verwalter nennt die Station, verhält sich aber im Übrigen ziemlich skeptisch gegenüber der so kühn ausgesprochenen Gewissheit. Seit einigen Tagen schon bittet er vergeblich um Strom, wenn auch nur zur Beleuchtung der Räume, aber die Station, wo die streikenden Arbeiter von Matrosen ersetzt werden, liefert nur für fiskalische Bedürfnisse.

Genau eine halbe Stunde später flammen die Lämpchen auf und der Elektromotor beginnt wieder zu arbeiten. Auf den Gesichtern der Administratoren spiegelt sich ein mit Respekt gepaartes Staunen. Bald darauf kehrt auch der abgesandte Arbeiter zurück und bringt einen Schein von dem Offizier, dem die Station unterstellt ist. „Auf Verlangen des Arbeiterdelegiertenrates Strom abgelassen nach Bolschaja-Podjatscheskaja Nr. 39, für die Druckerei der Obschtschestwennaja Polsa”. Darunter der Namenszug des Offiziers. Die Angreifer und die „Verhafteten” machen sich einträchtig und munter an die Arbeit; Nummer 3 erscheint in einer kolossalen Auflage.

Schließlich aber wird auch dieser Druckort der Polizei bekannt. Sie erscheint in der Druckerei, leider aber zu spät. Die „Nachrichten” sind fortgeschafft und alle Spuren verwischt. Nur ein einziges Mal, in der Nacht zum 4. November, d. h. schon zur Zeit des zweiten Streiks, gelang es der Polizei, eine „fliegende Druckerei” in flagranti zu ertappen. Dies geschah in der Druckerei der „Nascha Schisn”, als die Arbeit bereits den zweiten Tag im Gange war. Die Aufforderung, die Türe zu öffnen, hatte natürlich keinen Erfolg. Und so erbrach die Polizei sie mit Gewalt. „Unter der Bedeckung einer Kompanie Schützen mit gefälltem Bajonett“ – so schildert Genosse Simanowski den Vorgang – „drangen die Schutzleute und Polizeikommissare mit schussbereiten Revolvern in die Druckerei ein, wurden aber selbst verlegen beim Anblick der friedlich fort arbeitenden Setzer, die sich durch das Erscheinen der Bajonette nicht im Geringsten beirren ließen.”

Wir stehen hier alle im Auftrage des Arbeiterdelegiertenrats und fordern die Entfernung der Polizei, da wir sonst für die Unversehrtheit des Druckereiinventars nicht aufkommen können.”

Während mit der Polizei Unterhandlungen gepflogen wurden und diese Manuskripte und Korrekturbogen an den Tischen und Regalen fest siegelte, blieben die Verhafteten nicht müßig und agitierten eifrig unter den Soldaten und Schutzleuten: lasen ihnen mit halblauter Stimme den Aufruf des Arbeiterdelegiertenrats an das Militär vor und verteilten unter sie die fertigen Exemplare der „Nachrichten”. Nachdem die Personalien festgestellt waren, wurden die Setzer entlassen, die Türen versiegelt und an den Ausgängen Polizeiwachen ausgestellt. Aber o weh! als am nächsten Tage die Untersuchungsbehörde am Tatorte erschien, fand sie nichts mehr vor! Die Türen waren noch immer fest verschlossen, die Siegel zwar unversehrt aber weder Platten noch Korrekturbogen und Manuskripte waren vorhanden. Alle diese wertvollen, schönen Dinge, auf die sich die Untersuchungsbehörde schon so sehr gefreut hatte, lagen unversehrt in der Druckerei der “Birschewija Wjedomosti”, in welcher zur selben Zeit in aller Ruhe Nummer 6 der „Nachrichten” gedruckt wurde.

Am Abend des 19. November fand die größte Aktion dieser Art statt – nämlich die Besetzung der kolossalen Druckerei der „Nowoje Wremja”. Das einflussreiche Regierungsorgan widmete am nächsten Tage diesem Ereignis zwei Artikel, von denen der eine die Überschrift trug: „Wie das offizielle Proletarierorgan gedruckt wird,” Nach der Darstellung der „Geschädigten” spielte sich der Vorgang wie folgt ab:

Gegen 6 Uhr abends erschienen in der Druckerei drei junge Leute. Zufällig kam zur gleichen Zeit der Druckereidirektor ins Geschäft. Man meldete ihm den Besuch, und er ließ die Unbekannten ins Kontor bitten.

Entfernen Sie alle,“ wandte sich einer von ihnen an den Verwalter „Wir haben mit Ihnen allein zu sprechen."

Sie sind zu dritt und ich allein," erwiderte der Verwalter. „Ich ziehe es vor, in Gegenwart von Zeugen zu verhandeln."

Wir bitten nochmals, entfernen Sie alle ins Zimmer nebenan, wir haben Ihnen nur zwei Worte zu sagen."

Der Verwalter kam dem Ansuchen nach. Nunmehr eröffneten ihm die Fremden, sie seien auf Befehl des Exekutivkomitees gekommen, um die Druckerei zu besetzen und daselbst die Nummer 7 der „Nachrichten" fertigzustellen.

Ich kann Ihnen keinen Bescheid darauf geben", antwortete der Verwalter, „die Druckerei gehört nicht mir, ich muss also vorerst mit dem Besitzer Rücksprache nehmen".

Sie dürfen aber die Druckerei nicht verlassen. Wenn Sie Ihren Chef brauchen, so lassen Sie ihn hierher kommen."

So will ich ihn telefonisch von Ihrem Verlangen in Kenntnis setzen …"

Nein, Sie dürfen ihm nur telefonisch sagen, dass er in die Druckerei kommen soll."

Gut. …"

Der Verwalter ging in Begleitung von zwei Delegierten ans Telefon und klingelte Herrn Suworin jun. an. Er antwortete, dass er nicht kommen könne, da er sich nicht wohl fühle, und versprach als Stellvertreter das Redaktionsmitglied Herrn Goldstein in die Druckerei zu senden. Dieser schildert nun den weiteren Verlauf der Geschehnisse ziemlich wahrheitsgetreu, und nur hie und da mit leichten Unterstreichungen, die den Zweck haben, seinen persönlichen Bürgermut ins rechte Licht zu rücken.

Als ich mich der Druckerei näherte", erzählt Herr Goldstein, „waren die Gaslaternen ausgelöscht und die ganze Straße fast völlig in Finsternis getaucht. Vor dem Hause und in seiner Nähe bemerkte ich ein paar Gruppen von Menschen, dicht vor dem Haustor standen aus dem Trottoir auch etwa 8 Personen herum. Im Torweg sah ich weitere 3 bis 4 Leute stehen. Einer von unseren Druckereiaufsehern kam mir entgegen und begleitete mich ins Kontor. Dort traf ich den Verwalter und drei mir unbekannte junge Leute, allem Anschein nach Arbeiter. Bei meinem Eintreten erhoben sie sich und kamen auf mich zu.

Was gibt's, meine Herren?" fragte ich.

Statt jeder Antwort zeigte mir einer der Unbekannten ein Schriftstück vor, in dem der Arbeiterdelegiertenrat anordnete, die nächste Nummer in der Druckerei der „Nowoje Wremja" zu drucken. Diese Order war aus einen Papierfetzen geschrieben, darunter konnte man auch ein Siegel sehen.

Nun ist die Reihe auch an Sie gekommen," meinte einer der Abgesandten.

Was heißt das, die Reihe gekommen?" fragte ich.

Das heißt so viel, dass wir bis jetzt bereits in der „Rusj", der „Nascha Schisn", dem „Syn Otjetschestwa" und den „Birschewija Wjedomosti" gedruckt haben und nun es einmal auch bei ihnen versuchen wollen .… Sie müssen für Suworin und auch für Ihre eigene Person das Ehrenwort abgeben, dass Sie der Polizei die Geschichte nicht früher melden werden, als bis wir mit unserer Arbeit fertig sind."

Ich kann mich für Suworin nicht verpflichten, und was mich selbst anbetrifft, so werde ich ein solches Ehrenwort nicht geben.”

Nun, so müssen wir Sie eben hier behalten.”

Dann werde ich mir den Ausgang mit Gewalt erzwingen. Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass ich bewaffnet bin…”

O, wir sind nicht schlechter bewaffnet als Sie,” antworteten die Delegierten und zogen Revolver aus den Taschen.

Rufen Sie den Wächter und den Aufseher”, wandten sie sich an den Verwalter.

Dieser sah mich fragend an. Ich zuckte mit den Achseln. Der Wächter wurde gerufen. Er musste seinen Pelz ausziehen. Der Aufseher wurde ins Kontor geladen. Wir waren alle verhaftet. Eine Minute später waren auf der Treppe die Schritte zahlreicher Menschen hörbar; in der Tür des Kontors und im Vorzimmer sah ich eine ganze Menge fremder Gesichter.

Die Besetzung der Druckerei war vollzogen.

Die drei Delegierten kamen und gingen und entfalteten eine überaus rege Tätigkeit.

Darf ich fragen,” hielt ich den einen von ihnen an, „auf welcher Maschine Sie zu drucken die Geneigtheit haben werden?”

Auf der Rotationsmaschine.”

Und wenn Sie sie beschädigen?”

Wir haben einen vorzüglichen Maschinenmeister.”

Und das Papier?”

Das nehmen wir von Ihnen.”

Aber das ist ja qualifizierter Raub!”

Ja … Da ist eben nichts zu machen…”

Schließlich aber beruhigte sich Herr Goldstein und konnte nach geleistetem Schweigegelöbnis den Heimweg antreten. „Ich schritt die Stiege hinab”, fährt er in seinem Bericht fort. „Im Torweg war es stockfinster. Dicht am Tor stand ein „Proletarier” im Pelz des Wächters, den Revolver in der Hand. Ein zweiter rieb ein Zündholz an, ein dritter steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch. Das Schloss sprang auf, das Tor wurde geöffnet und ich war draußen…”

Die Nacht verlief ruhig. Der Druckereidirektor, den man auf Ehrenwort entlassen wollte, lehnte den ihm gemachten Vorschlag ab. Die Proletarier ließen ihn in Ruhe. Die Setzarbeit ging sehr langsam vonstatten und die Manuskripte liefen nur spärlich ein. Man wartete auf das laufende Tagesmaterial, das noch nicht eingeliefert war. So oft der Direktor zur Eile mahnte, erhielt er zur Antwort: „Wir kommen schon zurecht, wir brauchen uns nicht zu beeilen.” Erst gegen 5 Uhr morgens kamen der Metteur und der Korrektor beides scheinbar recht tüchtige Leute … Gegen 6 Uhr war der Satz fertig. Nun machte man sich an die Herstellung der Matrizen und den Guss. Wegen des Streiks war kein Gas da, um die Gießöfen zu erhitzen. Flugs entsandte man zwei Arbeiter – und schon hatte man das nötige Gas. Alle Läden waren geschlossen – aber dennoch wurde während der ganzen Nacht fortwährend Proviant herbeigetragen. Für die Proletarier waren eben die Läden nicht geschlossen. Um 7 Uhr begann man mit dem Druck der offiziellen Proletarierzeitung. Man arbeitete auf der Rotationsmaschine, und dies in durchaus fachmännischer Art. Um 11 Uhr vormittags wurde die Druckerei nach erledigter Arbeit geräumt. Die fertigen Zeitungen wurden verpackt und auf Iswostschiks, die man in genügender Anzahl aus allen Enden der Stadt herbeigeholt hatte, fortgeschafft. Dies alles erfuhr die Polizei erst am folgenden Tage und machte recht große Augen…”

Drei Stunden nach Beendigung der Arbeit drang ein großes Polizeiaufgebot, durch Infanterie, Kosaken und Dworniks verstärkt, in das Lokal des Druckereiarbeiterverbandes, um die Nummer 7 der „Nachrichten" zu konfiszieren. Aber die Polizei stieß auf energischen Widerstand. Man erklärte ihr, dass die noch vorhandenen Exemplare 153 von 35.000 freiwillig nicht herausgegeben werden würden. In vielen Druckereien legten die Setzer auf die Nachricht von dem Einbruch der Polizei in die Räume des Verbandes ihre Arbeit nieder – der Novemberstreik war eben erst beendet worden – und warteten auf die weitere Entwickelung der Dinge. Die Polizei schlug nun einen Kompromiss vor: Die Anwesenden sollten den Rücken kehren, inzwischen würde die Polizei die Exemplare „mausen", ins Protokoll aber schreiben, dass die Konfiskation mit Gewalt durchgeführt worden sei. Aber der Kompromiss wurde ganz entschieden zurückgewiesen. Die Polizei mochte sich zu einem gewaltsamen Vorgehen nicht entschließen – und trat in voller Schlachtordnung den Rückzug an, ohne auch nur ein einiges Exemplar erbeutet zu haben.

Nach dem Vorfall in der Druckerei der „Nowoje Wremja" machte der Stadthauptmann durch Polizeibefehl bekannt, dass die Pristaws derjenigen Reviere, in denen eine ähnliche Besetzung einer Druckerei stattfände, der strengsten Bestrafung entgegenzusehen hätten. Das Exekutivkomitee erwiderte mit der Versicherung, dass die „Nachrichten", die nur während allgemeiner Ausstände erschienen, auch künftighin im Bedarfsfalle in der alten Weise herausgegeben werden würden. Und tatsächlich ließ während des Dezember-Streiks der zweite Arbeiterdelegiertenrat noch weitere vier Nummern erscheinen.

Die detaillierte Mitteilung der „Nowoje Wremja" über den auf ihre Druckerei verübten Überfall hatte ein völlig unerwartetes Resultat zur Folge. Die Revolutionäre in der Provinz griffen das fertige Beispiel auf, und nun erhielt die Ausnutzung von Druckereien zu revolutionären Zwecken die weitgehendste Verbreitung im ganzen Lande. … Übrigens kann man hier von direkten Überfällen kaum sprechen. Schon ganz abgesehen von der linken Presse, deren Administrationen nur eins wollten: der Verantwortung aus dem Wege zu gehen, und aus eigenem Antriebe ihre Bereitwilligkeit ausdrückten, sich unter Haft setzen zu lassen – aber selbst in der sensationellen Affäre mit der „Nowoje Wremja” wäre ein „Überfall” ohne die passive oder aktive Sympathie der Angestellten ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Sobald der Leiter der Aktion den Belagerungszustand proklamierte und damit das Personal jeder Verantwortung ledig sprach, war die scheidende Grenze zwischen Belagerern und Belagerten aufgehoben; der „verhaftete” Setzer nahm das revolutionäre Manuskript zur Hand, der Maschinenmeister stellte sich an seine Maschine, und der Verwalter munterte sowohl seine eigenen Leute als auch die fremden „Eroberer” zu rascherer Arbeit an. Nicht die präzis berechnete Taktik der Überfälle, und selbstverständlich am wenigsten physischer Zwang waren die Faktoren, die den Erfolg garantierten, sondern allein die revolutionäre Atmosphäre der allgemeinen Sympathie, ohne die die gesamte Tätigkeit des Rats völlig undenkbar gewesen wäre.

Es könnte nun auf den ersten Blick unbegreiflich erscheinen, warum eigentlich der Rat, um die Herausgabe seines Organs zu ermöglichen, den Weg der nächtlichen Aktionen wählte. Die sozialdemokratische Presse wurde ja zu jener Zeit ganz offen herausgegeben, ihr Ton unterschied sich wenig von dem der „Nachrichten”, und in ihren Spalten brachte sie ungekürzt die Resolutionen des Rats und die Berichte über seine Sitzungen. Allerdings erschienen die „Nachrichten” fast ausschließlich während der allgemeinen Ausstände, da die ganze übrige Presse schwieg. Aber es hing ja nur von dem Rat selbst ab, für die legale sozialdemokratische Presse eine Ausnahme zu machen, und die nächtlichen Überfälle auf die bürgerliche Presse wären überflüssig gewesen. Der Rat tat dies nicht. Aus welchem Grunde?

Stellt man diese Frage isoliert, für sich allein, so lässt sie sich nicht beantworten. Aber alles wird sofort klar, sobald man den Rat als ein Ganzes nimmt, in seiner Entstehung, in seiner Taktik – als organisierte Verkörperung des obersten Rechts der Revolution in dem Moment ihrer höchsten Spannung, da sie nicht vermag und nicht gewillt ist, sich dem Feinde anzubequemen und – koste es, was wolle – vorwärts dringt, heroisch ihr Territorium erweiternd und alle Hindernisse fortschwemmend. Während der allgemeinen Ausstände, als das ganze Leben und Treiben im Lande erstorben war, sah es die alte Regierung als ihre Ehrenpflicht an, für das regelmäßige Erscheinen des „Regierungsanzeigers” Sorge zu tragen – und sie tat dies unter dem Schutze ihrer Bajonette und Maschinengewehre. Der Arbeiterdelegiertenrat stellte ihr seine Arbeiterdruschinen entgegen und ließ durch sie das Revolutionsorgan herstellen.

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