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Leo Trotzki 19100814 Balkanfrage und Sozialdemokratie

Leo Trotzki: Balkanfrage und Sozialdemokratie

[„Prawda“ Nr. 15, 1/14. August 1910. Eigene Übersetzung nach dem russischen Text, verglichen mit einer älteren deutschen Übersetzung]

Ende Juni fand in der Hauptstadt Bulgariens, Sofia, der zweite „gesamtslawische“ Kongress statt. Dessen Bedeutung kann man kurz so zum Ausdruck bringen: die politischen Bankrotteure der verschiedenen slawischen Länder versammelten sich gemeinsam, um ihren Bankrott in die ganze Welt hinauszurufen.

Bei den Petersburger Beratungen und danach auf dem Prager Kongress des Jahres 1908 trat das neue „Gesamtslawentum“1 bei Trompetenschall und Trommelklängen auf die Bühne: es versprach die Polen mit den Russen, die Ruthenen mit den Polen, die Serben mit den Bulgaren zu versöhnen, die Reibungen und Feindschaften zwischen den bürgerlichen Klassen aller slawischen Nationen zu zerstören und das Gebäude eines neuen Slawentums auf dem Fundament von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu verkünden. Seit jenen Zeiten sind zwei Jahre vergangen, – und der Kongress von Sofia musste traurige Ergebnisse anführen. In der Zeit schafften es alle Widersprüche innerhalb des Slawentums, beispiellose Schärfe zu erreichen. Im „slawischen“ Russland setzte die Konterrevolution die Hetzjagd auf Polen und Ukrainer auf die Tagesordnung: das neue westliche Semstwo und der Gesetzentwurf über die Abtrennung des Chelmer Landes sind die letzten Worte der polnischen Politik des konstitutionellen Zarismus. In Galizien bewirkte die Belastung der ruthenischen Völkerschaft durch die polnische Schlachta und die Bourgeoisie beinahe am Vorabend des Kongresses von Sofia einen blutigen heftigen Kampf in den Mauern der Lwower Universität. Wenn sich die Beziehungen zwischen Bulgarien und Serbien in der Zeit auch nicht verschlimmerten, dann wurden sie auf alle Fälle nicht besser. Und wegen diesen Fakten2 klangen die Reden von Sofia über gesamtslawische Solidarität nicht einmal wie Heuchelei – in solchem Grade deutlich traten in ihnen gegenseitige Feindseligkeit und aufrichtige Frechheit auf. Die Kadetten, welche noch vor kurzem die Vorsänger im gesamtslawischen Chor waren, rückten fassungslos und staunend zur Seite und überließen den Platz direkteren und unmittelbareren Dienern des Zarismus. Miljukow und Maklakow blieben zu Hause. Gutschkow, Graf Bobrinski und Tscherep-Spiridowitsch vertraten Russland. Das Haupt der Jungtschechen, Kramář, eilte sich, auf dem Balkan die Bahn für Produkte der tschechischen Industrie freizumachen. Über heikle Fragen – die polnische, ukrainische, südslawische, Balkanfrage – schwiegen sie nach gegenseitiger Verabredung; das war für alle Teilnehmer der gesamtslawischen Komödie vorteilhafter.

Aber außerhalb der Mauern des Kongresses, auf den Straßen und Plätzen Sofias wurden alle Fragen der internationalen Politik, und zuallererst die Balkanfrage, klar, offen und redlich aufgeworfen. Dies machte die bulgarische Sozialdemokratie.

In von Blagojew und Kirkow geleiteten Massenversammlungen wurde am 20. Juni, gerade vor der Einberufung des slawischen Kongresses, eine Resolution angenommen, die den Rosstäuschern des Panslawismus die Maske herunterriss. Die bulgarische Sozialdemokratie* begnügte sich nicht damit und lud auf ihren jährlichen Parteitag Anfang Juli Vertreter der slawischen sozialdemokratischen Parteien ein, die anschaulich den Balkanvolksmassen vorführten, dass zwei Bulgarien, zwei Serbien, zwei Russland vorhanden sind … das eine ist reaktionär-dynastisch, das andere revolutionär-proletarisch. Auf solche Weise verwandelte sich der folgende Parteitag der bulgarischen Arbeiterpartei dieses Mal in eine vorzügliche Demonstration der internationalen Solidarität des Proletariats, welche sich nicht nur in heißen Ovationen und gegenseitigen Grüßen äußerte, sondern auch zuallererst darin, dass die Delegierten aller in Sofia vertretenen Parteien – der bulgarischen, serbischen, russischen, tschechischen und ruthenischen – von ein und denselben Prämissen ausgingen und zu ein und denselben Schlussfolgerungen bei der Entscheidung der Balkan- (Orient-) Frage kamen.

In der sogenannten Orientfrage muss man zwei Seiten auseinanderhalten: erstens die Frage der gegenseitigen Beziehungen der Nationen und Staaten auf der Balkanhalbinsel; zweitens, die Frage der zusammenstoßenden Interessen und Ränke der europäischen kapitalistischen Mächte auf dem Balkan.

Diese zwei Frage stimmen überhaupt nicht überein. Umgekehrt: die tatsächliche Lösung der reinen Balkanfrage ist völlig gegen die Interessen der europäischen Dynastien und europäische Börse gerichtet.

Die Balkanhalbinsel, deren Ausmaße ungefähr die Deutschlands sind, die aber von der Bevölkerung beinahe drei Mal kleiner ist (22 Millionen Seelen), ist in sechs eigenständige Staaten zerschnitten: Griechenland, die Türkei, Rumänien, Bulgarien, Serbien, Montenegro, nicht mitgerechnet die österreich-ungarischen Provinzen: Dalmatien, Bosnien und Herzegowina. In diesen sechs Staaten, mit ihren eigenen Dynastien, Armeen, Geldsystemen und Zollämtern, leben in einzelne Splitter zerstreut zahlreiche Nationen und Stämme: Griechen, Türken, Rumänen, Bulgaren, Serben, Albaner, Juden, Armenier, Roma … Die Grenzen zwischen den Zwergstaaten der Balkanhalbinsel wurden nicht in Übereinstimmung mit den Bedingungen der Natur oder den Bedürfnissen der Nationen gezogen, sondern als Resultat von Kriegen, diplomatischen Intrigen, dynastischen Interessen. Der Großmächte – und an erster Stelle Russland und Österreich – hatten immer ein unmittelbares Interesse daran, die Balkanvölker und -staaten einander gegenüberzustellen, sie gegenseitig zu schwächen und danach ihrem ökonomischen und politischen Einfluss zu unterwerfen. Die Zwergdynastien in diesen „zerschnittenen Grundstücken“ der Balkanhalbinsel dienten und dienen als Hebel der europäischen diplomatischen Intrige. Und diese ganze auf Gewalt und Hinterlist begründete Mechanik legt sich mit riesiger Schwere auf die Balkanvölker und bedrückt ihre ökonomische und kulturelle Entwicklung. So sind die Serben gewaltsam auf fünf Staaten aufgeteilt: sie bilden ein kleines „Königreich“ und ein Spielzeug-„Fürstentum“, Serbien und Montenegro, welche von einander vom Sandschak Novi Pazar getrennt sind, der von Serben bevölkert ist, aber der Türkei gehört; nicht wenige Serben leben im makedonischen Bezirk derselben Türkei; schließlich gehört der größere Teil der Serben zu Österreich-Ungarn. Ein ähnliches Bild stellen auch alle anderen Balkan-Völkerschaften dar. Diese von der Natur reich begabte Halbinsel ist sinnlos in kleine Stücke zerschnitten; Menschen und Waren prallen bei ihren Bewegungen auf die Stacheldrahtzaun der Staatsgrenzen, und diese national-staatlichen Handtuchfelder erlauben nicht, einen einheitlichen Balkanmarkt als Basis einer mächtigen Entwicklung der Balkanindustrie und -kultur zu bilden. Dem schließt sich der kräftezehrende Militarismus an, der zum Verteidigen der Zersplitterung der Halbinsel berufen ist und für die ökonomische Entwicklung tödliche Gefahren von Kriegen auf dem Balkan hervorruft – zwischen Griechenland und der Türkei, zwischen der Türkei und Bulgarien, zwischen Rumänien und Griechenland, zwischen Bulgarien und Serbien…

Der einzige Ausweg aus dem national-staatlichen Chaos und dem blutigen Wirrwarr des Balkanlebens ist die Vereinigung aller Völker der Halbinsel in einem wirtschaftlich-staatlichen Ganzen auf der Basis nationaler Autonomie der Bestandteile. Nur im Rahmen eines Balkaneinheitsstaat werden sich die Serben Makedoniens, des Sandschaks, des eigentlichen Serbiens und Montenegros in einer national-kulturellen Gemeinschaft verbinden können und zur gleichen Zeit alle Vorteile eines Gesamt-Balkanmarkts anwenden. Nur die vereinten Balkanvölker werden den unverschämten Ansprüchen des Zarismus und europäischen Imperialismus eine tatsächliche Abfuhr erteilen können.

Die staatliche Vereinigung der Balkanhalbinsel kann auf zweifache Weise vonstatten gehen: entweder von oben, vermittels der Ausdehnung eines kräftigeren Balkanstaats auf Rechnung der schwächsten – das ist der Weg von Vernichtungskriegen, der Bedrückung schwacher Nationen, der Weg der Festigung des Monarchismus und Militarismus; oder von unten, vermittels der Vereinigung der Völker selbst – das ist der Weg der Revolution, der Weg des Sturzes der Balkandynastien unter dem Banner einer föderativen Balkanrepublik.

Die Politik aller dieser eine halbe Spanne3 großen Balkanmonarchien, ihrer Kabinette und regierenden Parteien hat als ihr zur Schau gestelltes Ziel die Vereinigung größerer Teile der Balkanhalbinsel unter einer Krone. „Großbulgarien“, „Großserbien“, „Großgriechenland“ sind Losungen dieser Politik. Aber im Wesen nimmt niemand solche Losungen Ernst. Dies ist eine halboffizielle Lüge, um Popularität im Volke zu erlangen. Die von der europäischen Diplomatie künstlich gepflanzten Balkandynastien entbehren jeglicher Art historischer Wurzeln, sind zu nichtig, zu unbeständig auf ihren Thronen, um sich an eine „breite“ Politik nach dem Vorbild Bismarcks zu wagen, der Deutschland mit Eisen und Blut vereinigte. Die erste ernsthafte Erschütterung kann die Karađorđević, Coburg und sonstigen gekrönten Balkanliliputaner spurlos wegfegen. Die Balkanbourgeoisie ist, wie auch in allen spät auf den Weg der kapitalistischen Entwicklung eingetretenen Ländern, politisch unfruchtbar, feige, unbegabt und bis Mark der Knochen vom Chauvinismus zerfressen. Die Vereinigung des Balkans auf sich zu nehmen, geht vollkommen über ihre Kräfte. Die bäuerlichen Massen sind zu zersplittert, unaufgeklärt und politisch indifferent, als dass man von ihnen politische Initiative hätte erwarten können. Auf diese Weise legt sich die Aufgabe der Schaffung normaler Bedingungen nationaler und staatlicher Existenz auf dem Balkan mit ihrer ganzen historischen Schwere auf das Balkanproletariat. Diese Klasse ist noch klein, weil der ganze Balkankapitalismus gerade erst den Windeln entwachsen ist. Aber jeder Schritt auf dem Wege der ökonomischen Entwicklung, jedes neue Werst Eisenbahnschiene, jeder neue Fabrikschornstein auf dem Balkan vergrößert und vereinigt die Reihen der revolutionären Klasse. Dem jungen Balkanproletariat ist jegliche Art von Kirchen- und monarchistischem Aberglauben, bürgerlich-demokratischen und nationalistischen Vorurteilen fremd und es wendet voller Kraft und Enthusiasmus bereits auf den ersten Schritten des eigenen historischen Weges die reichen Erfahrungen seiner älteren europäischen Mitstreiter an. Die sozialdemokratischen Parteien Bulgariens und Serbiens, die reifsten Vertreterinnen der Arbeiterbewegung auf dem Balkan, führen unermüdlich einen Kampf an zwei Fronten: gegen die eigenen dynastisch-chauvinistischen Cliquen und gegen die imperialistischen Pläne des Zarismus und des Börseneuropa. Eine föderative Republik auf dem Balkan als positives Programm dieses Kampfes wurde das Banner des ganzen bewussten Balkanproletariats ohne Unterschied von Rasse, Nationalität und Staatsgrenzen.

Auf der in Belgrad im vergangenen Winter tagenden Balkankonferenz** unter Beteiligung von Vertretern der serbischen, bulgarischen und rumänischen sozialdemokratischen Parteien, der sozialdemokratischen Gruppen Makedoniens, der Türkei und Montenegros***, aber auch des serbischen sozialdemokratischen Proletariats der Südprovinzen Österreich-Ungarns, wurden das allgemeine Prinzip der Balkanpolitik des Proletariats erarbeitet, das auf die Vernichtung des Balkanpartikularismus und -militarismus, des nationalen Kampfes und fremder Gewalt gerichtet ist. Die zweite Balkankonferenz, deren Zusammenkommen im nächsten Winter bevorsteht, hat als ihre Aufgabe, die enge organisatorische Verbindung zu schaffen und Formen des gemeinsamen politischen Auftretens aller sozialdemokratischen Parteien auf dem Balkan abzustecken.
So tritt vor unseren Augen aus Balkanchaos und -finsternis eine vereinte Sektion der sozialistischen
Internationale hervor.

Für die Arbeiter Russlands hat dieses Faktum unermessliche Wichtigkeit. Fortan wird nicht ein Anschlag der Einmischung des Zarismus in das Schicksal der leidgeprüften Halbinsel ohne entschlossenen Widerstand von Seiten der Balkansozialdemokratie vorbeigehen. Den Lügen von der slawischen Brüderlichkeit der bürgerlichen Parteien, die uns des Verrats an den Interessen der Balkanslawen anklagen, können wir fortan ein unwiderstehliches Faktum gegenüberstellen: das Proletariat des Balkans ist nicht mit ihnen, sondern mit uns. Zusammen mit uns kämpft es gegen den Zarismus, welcher nun vermittels der russisch-japanischen Vereinbarung seine verbrecherischen Hände für Räuberei in Persien und Ränke auf dem Balkan frei machte. Zusammen mit uns erklärt es einen gnadenlosen Krieg gegen den Panslawismus – sowohl gegen die aufrichtig-asiatische als auch die liberal-kadettische Marke.

Das historische Unterpfand der Unabhängigkeit des Balkan und der Freiheit Russlands liegt in der revolutionären Zusammenarbeit der Arbeiter Petersburg und Warschaus mit den Arbeitern Belgrads und Sofias.

1In der älteren deutschen Übersetzung: „neue ,panslawistische' Bewegung“

2In der älteren deutschen Übersetzung: „Faktoren“

* genau: eine der beiden bulgarischen sozialdemokratischen Parteien, die „Tesnjaki“. S. darüber den vorhergehenden Artikel. – Red.

3 Im russischen Text heißt es „zwei Werschok“. Da es im Deutschen kein dem Werschok (4,4 cm) entsprechendes Längenmaß gibt, aber eine Werschok eine Viertelspanne lang war, habe ich mir erlaubt, es umzurechnen – d. Übers.

*** Die griechischen Sozialdemokraten sandten ein Grußtelegramm. L. Т.

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