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Leo Trotzki 19100814 Vom bulgarischen Parteitag

Leo Trotzki: Vom bulgarischen Parteitag

[Prawda Nr. 15, 1./14. August 1910. Eigene Übersetzung nach dem russischen Text, verglichen mit einer älteren deutschen Übersetzung]

Die bulgarische Sozialdemokratie – genauer ihr „Tesnjaki“ genannter Teil – beschloss ihren regulären Parteitag in diesem Jahr in eine Demonstration des Pansozialismus gegen den Panslawismus zu verwandeln. Mit diesem Ziel lud das Zentralkomitee der bulgarischen Partei Vertreter der sozialdemokratischen Parteien Russlands, Polens, Serbiens, der tschechischen, ruthenischen Partei nach Sofia ein – mit einem Wort, aller jener Nationen, deren durch Feindschaft und Neid getrennte bürgerliche Klassen in demselben Sofia zwei, drei Wochen vorher die Komödie der gesamtslawischen Brüderlichkeit abhielten … Leider hatten nicht alle eingeladenen Parteien die Möglichkeit, auf den leidenschaftlichen Aufruf aus Sofia zu reagieren. Am 11. Juni, am Tag der Eröffnung des Parteitags, nach einer Straßendemonstration, an welcher 3-4 Tausend Arbeiter teilnahmen, hörten die Delegierten des bulgarischen Proletariats die Grüße von Vertretern der serbischen (L. Lapčević und D. Tucović), tschechischen (B. Šmeral), ruthenischen (W. Lewinski) und russländischen1 (L. Trotzki) Sozialdemokratie. Die Sitzungen des Parteitags fanden unter freiem Himmel im Hof des Arbeiterhauses statt, wo außer 75 Delegierten und 10 Mitgliedern des ZK und der Kontrollkommission, nicht weniger als 400-500 Gäste hineinpassten. Der ganze Hof war mit roten Bannern und kleinen Flaggen dekoriert. Die Plakette der Delegierten stellte eine von einer roten Schleife umgebene Darstellung von Marx oder Bebel dar. Marx und Bebel! Bereits dieses äußere Symbol der Schüler-Dankbarkeit der slawischen Sozialisten für die großen deutschen Lehrer war ein ausdrucksvoller Protest gegen die antideutsche Agitation der „gesamtslawischen“ Chauvinisten. Es ist schwierig, sich vorstellen mit was für einem Enthusiasmus die bulgarischen Arbeiter den ausländischen Vertretern begegneten und ihren Reden zuhörten. Beifallsstürme, endlose Ovationen! Am besten verstanden die Bulgaren Reden in russischer und serbischer Sprache und unvergleichlich schlechter in ruthenischer und tschechischer. Die bulgarische Sprache ist der russischen allgemein sehr nahe, und außerdem muss man noch in Betracht ziehen, dass die bulgarische Sozialdemokratie mit der russischen marxistischen Literatur erzogen wurde. Nicht nur der „Großvater“ Blagojew, der Begründer der bulgarischen und Mitbegründer russischen* Sozialdemokratie, nicht nur absolvierte Georg Kirkow den Unterricht im Gymnasium in Nikolajew und verkehrte da bereits in Narodowolzenzirkeln, sondern auch die jüngere Generation der bulgarischen revolutionären Intelligenz, die an Schweizer Universitäten studierte, durchlief da die russische Schule des Marxismus unter unmittelbarer Führung Plechanows oder dessen nächster Schüler. Die fortschrittlichen bulgarischen Arbeiter, sogar wenn sie niemals die Grenzen Bulgariens überschritten, verfolgen die russische Parteiliteratur und verstehen die russische Sprache. Die russischen revolutionären Lieder singen die Bulgaren – man muss es zugeben! – besser als wir Russen; der Parteiverlag von Sofia druckte in seinem „Liederbuch“ die Text der allermeisten populären russischen revolutionären Lieder.

Der Gesang der russischen Marseillaise2 und „Sie fielen als Opfer“ [Unsterbliche Opfer] eröffnete den zweistündigen Bericht des russischen Delegierten über die russländische Revolution (dieser Bericht wurde stenografiert und soll als einzelne Broschüre in bulgarischer Sprache erscheinen)3. Mit einem Wort, man darf ohne Übertreibung sagen, dass im Ideensinne4 die bulgarische Bewegung sich nur als Zweig der russischen darstellt. Und das zeigt sich leider auch in negativen Ausprägungen: wie die russländische Sozialdemokratie ist die bulgarische in zwei Fraktionen zerspalten, die durch nichts miteinander verbunden sind als durch erbitterten Kampf.

Der kräftigere Teil der Bewegung sind anscheinend die vom Begründer und angesehenen Theoretiker des bulgarischen Marxismus Blagojew geführten „Tesnjaki“ oder „Konservativen5“. Bei ihnen gibt es eine feste zentralisierte Organisation und einen in Ideen-, wie auch in finanzieller Beziehung6 ausgezeichnet gestellten Parteiverlag. Aber die Gegenseite klagt sie des organisatorischen Konservatismus, der Konzentration der ganzen Aufmerksamkeit auf die sozialistische Zirkelpropaganda zum Schaden der politischen Agitation und des politischen Handelns an. Die Gegner der „Tesnjaki“ stellen im Ideensinne keine in sich gleichartige Gruppe dar: auf dem rechten Flügel stehen unter Führung Sakasows die sogenannten „Weiten, die zum gemeinsamen Handeln mit dem linken Flügel der bürgerlichen Demokratie neigen, die sich jetzt in Bulgarien an der Macht befindet; weiter nach links gehen die Anhänger Bakalows und Charlakows, die sich von den „Tesnjaki“ bloß durch ihre organisatorisch-technischen Ansichten unterscheiden. Im Jahre 1908 bildeten die Gleichgesinnten Sakasows, Bakalows und Charlakows eine gemeinsame Organisation, die den Namen „vereinte“ Partei trägt. Die „Tesnjaki“ lehnten ab, sich mit ihnen zu verbunden, was sie auch jetzt verweigern, ausgehend von der Erwägung, dass die „Vereinten“ nicht anderes als sozialistisch gefärbte bürgerliche Demokratie darstellen würden, welche in den proletarischen Kampf nur Verwesung hineinbringen kann. Wir haben nicht die Möglichkeiten hier in eine ausführliche Betrachtung der bulgarischen Fraktionsbeziehungen einzutreten; wir ergänzen bloß, dass ihre traurigste Seite die Spaltung in der Gewerkschaftsbewegung ist, die sich in Bulgarien in enger organisatorischer Verbindung mit der Partei befindet.

Aber kommen wir zum Parteitag der „Tesnjaki“ zurück. In einer fünfstündigen Rede – die bulgarischen Redner überraschen nicht nur durch redegewandtes Pathos, sondern auch durch ihre Unermüdlichkeit – gibt der Sekretär der Partei Kirkow ein erschöpfendes Bild des Parteilebens für das abgelaufene Jahr. Die Zahl der Mitglieder der politischen Organisation wuchs von 1870 auf 2286 Seelen. Die Gewerkschaftsorganisation zählt nun 4600 Mitglieder gegen 3424 im vergangenen Jahr. Damit diese Ziffern, wie auch die ferneren, in ihrem rechten Maße erscheinen, muss man sich erinnern, dass es in Bulgarien ganze 4½ Millionen Einwohner gibt und dass auf diesem beschränkten Boden zwei parallele Organisation konkurrieren! Für das Berichtsjahr organisierte die Partei 623 öffentliche Versammlungen mit 117.425 Teilnehmern, gab Proklamationen in 117.920 Exemplaren und Broschüren in 15.005 Exemplaren heraus. Das Zentralorgan der Partei „Rabotnitscheskij Wjestnik“ erscheint drei Mal in der Woche in der Auflage von 3500 Exemplaren, die theoretische Monatsschrift „Nowo Wremja“ [Neue Zeit] in einer Auflage von 1500 Exemplaren. Beide Publikationen werfen ein Reineinkommen ab. Überhaupt bildet der Verlag den Stolz der „Tesnjaki“. Für das Berichtsjahr gaben sie neben vielen anderen Broschüren heraus: Engels' „Ursprungs der Familie“, KautskysWeg zur Macht“, Engels „L. Feuerbach“, Parvus' „Sozialdemokratie und Parlamentarismus“, Kautskys „Marx und dessen historische Bedeutung“ – in 2000 Exemplaren, dann Bebels „Aus meinem Leben“ – 3000 Exemplare und schließlich einen Monat vor dem Parteitag – den ersten Band des „Kapitals“ in der Übersetzung Blagojews – 2500 Exemplare, von denen 1700 Exemplare bereits durch vorhergehende Subskription gekauft waren. Dazu muss man noch hinzufügen, dass gleichzeitig mit der Blagojewschen eine andere Ausgabe des „Kapitals“ in der Übersetzung Bakalows herauskam!

Eine vornehme Leidenschaft der Erkenntnis beherrscht die fortschrittliche Schicht des Proletariats, wie auch der jungen bulgarischen Intelligenz. Dank der allgemeinen kulturellen Rückständigkeit des Landes verwandelt sich die Arbeit des Volksschullehrers in eine Mission, in ein Apostolat. Dies drängt die Lehrer zur entschiedensten Ideologie, zur extremsten Partei. Von zwei Lehrerorganisationen schließt sich eine 800 Mitglieder zählende unmittelbar an die „Tesnjaki“ an; die andere, 3000 Mitglied umfassende, befindet sich unter dem Einfluss der vereinten Sozialisten. In voller Übereinstimmung mit der kapitalistischen Rückständigkeit des Landes spielt die Intelligenz in der Arbeiterbewegung Bulgariens eine disproportional große Rolle. Sie trägt in die proletarischen Reihen ideologische Leidenschaft, ein angespanntes Bedürfnis nach sozialistischer Erkenntnis, aber zusammen damit auch für sie charakteristische negative Züge hinein: auf der einen Seite die Bestrebung, eine politische Rolle zu spielen, was auch immer es kosten mag, was bei unzureichender proletarischer Basis zu bedrohlichen Kombinationen und opportunistischem Schwanken führt; auf der anderen Seite Fanatismus und doktrinäre Unversöhnlichkeit, welche zu beständigen Spaltungen und Schösslingen führen. In diesen Erscheinungen muss man Krankheiten der Jugend und des Wachstums sehen. Das einzige radikale Mittel gegen sie ist die Entwicklung des Kapitalismus, die Vertiefung der sozialen Differenzierung und Erhöhung der politischen Selbständigkeit des Proletariats. Aber in dieser Hinsicht dürfen wir gelassen sein; ungeachtet aller Behinderungen, die die staatlich-nationale Zersplitterung der Balkanhalbinsel errichtet, erobert der Kapitalismus – und obendrein in dessen neuesten Formen – sich zuversichtlich den nahen Osten. Das Baufieber, das die Delegierten in Sofia beobachten konnten, kennzeichnet den begonnenen Industrieaufschwung, aber dieser letztere kann – wie das in den 90er Jahren in Russland war – sofort die Sozialdemokratie auf große Höhe heben.

Von den Arbeiten des Parteitag merken wir aus Mangel an Platz bloß noch die redegewandte sechsstündige (!), der allgemeinen politischen Lage Bulgariens gewidmete Rede des Genossen Kolarow an, den sehr lehrreichen Bericht Blagojews über die Balkanfrage mit der letzten Schlussfolgerung der föderativen Balkanrepublik auf der Basis nationaler Autonomie – und schließlich die energische Protestresolution gegen die Gewalt der Petersburger Baschibosuks gegen Finnland.

Die Gäste nahmen aus Sofia die feste Überzeugung mit, dass sich die Sache des Sozialismus dort in zuverlässigen Händen befindet.

1In der älteren deutschen Übersetzung hier und im Folgenden: „russischen“

* Im Jahre 1885 wurde Blagojew in Petersburg wegen der Organisation von Arbeiterzirkeln und für die Beteiligung an der Publikation der Zeitung „Rabotschij“ [Arbeiter] arretiert, – L. Т.

2 In der älteren deutschen Übersetzung: „Marseillaise in russischer Sprache“. Tatsächlich waren in Russland Lieder auf die Melodie der Marseillaise mit neuen Texten verbreitet, ich würde nicht so kategorisch behaupten, dass der Text der französischen Nationalhymne gesungen wurde.

3 dieser Bericht wurde in den 2. Teil des II. Bandes der gesammelten Werke L. D. Trotzkis aufgenommen. – Red.

4In der älteren deutschen Übersetzung: „in ideologischer Hinsicht“, im folgenden Absatz ebenso

5 In der älteren deutschen Übersetzung: „Konservatoren“

6 In der älteren deutschen Übersetzung: „was die Ideen und die Finanzen betrifft“, diesmal übersetzen sie „идейный“ nicht mit „ideologisch“

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