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Leo Trotzki 19110211 Paul Singer

Leo Trotzki: Paul Singer

[„Prawda" Nr. 18-19, 29. Januar/11. Februar 1911, eigene Übersetzung nach dem russischen Text in Werke, Band 8, Politische Silhouetten, Moskau-Leningrad 1926 {Сочинения. Том 8. Политические силуэты. Москва-Ленинград, 1926}, verglichen mit der englischen Übersetzung]

Singer starb1, Paul Singer ist nicht mehr unter uns, eine kräftige Gestalt der Arbeiterinternationale verließ die Bühne. Es lichten sich die Reihen der ruhmreichen Veteranen, die an der Wiege der internationalen Sozialdemokratie standen …

Ein reicher jüdischer Kaufmann nach der Herkunft, ein Demokrat nach der Sichtweise, kehrte der junge Singer schnell der degenerierenden bürgerlichen Demokratie in Deutschland den Rücken zu und gab seine Kräfte, wie auch seine materiellen Mittel, seine Zeit, wie auch sein Talent – sein ganzes Leben der proletarischen Demokratie. Bereits am Ende der 60er Jahre waren seine Sympathien auf Seiten der Sozialdemokratie. Aber lange hielt er sich im Schatten. erst Anfang der 80er Jahre, in der Epoche der grausamen Polizeiverfolgungen der Sozialisten, als viele zaghafte „Mitläufer", wie auch bei uns in der Epoche der Konterrevolution, mit der Arbeiterpartei brachen und zu ihren Komplizen davongingen, löste Singer, umgekehrt, abschließend seine Verbindung zur bürgerlichen Gesellschaft und trat aktiv in die Reihen von deren Todfeinden ein. Hand in Hand mit Bebel und Liebknecht, leitete er die Arbeit jener, welche Stein auf Stein die mächtige Festung des Proletariat, die stärkste politische Partei der Welt aufbauen, – die deutsche Sozialdemokratie. Er war unermüdlicher Organisator der Partei und ihrer Presse, Mitglied des Zentralkomitees [Parteivorstands], Mitglied des Berliner Stadtrats (Stadtduma)2, Deputierter des Reichstags (Parlaments), Vorsitzender der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion, schließlich ständiger Vorsitzender der Parteitage der deutschen Sozialdemokratie und internationaler sozialistischer Kongresse – der Rote Präsident.

Er wusste fest und lehrte andere, dass man jede Sache gut machen muss. Für ihn bestanden keine Kleinigkeiten, wenn die Sache um die Interessen des Proletariats ging: „Kleinigkeiten" sind nur Teil der großen Gesamtheit. In jede seiner Arbeiten trug er jene sittliche Ernsthaftigkeit hinein, welche aus dem Bewusstsein der Wichtigkeit der auszuführenden Sachen entspringt. Singer verstand wie wenige, dass für eine aus den Niederungen des Lebens auf die Gipfel historischen Schaffens emporsteigende Klasse, jede Position bedeutend war, wo sie sich verschanzen, breit ihre Banner entfalten und für die eigene fernere Bewegung festen Fuß fassen konnte – vorwärts und weiter nach oben. Als Deputierter war Singer der beste Kenner der Mechanik des Parlamentarismus; als Mitglied des Stadtrats war er der beste Kenner der städtischen Wirtschaft3. Schließlich war er der beste Vorsitzende in der ganzen Internationale, gelassen, aufmerksam, unvoreingenommen, nichts verpassend. Und bei all dieser seiner tiefen und sorgfältigen Aufmerksamkeit für Details, für die ganzen Räder und Schräubchen des bürgerlichen gesellschaftlichen Mechanismus, verlor Singer niemals die allgemeinen Aufgaben der Bewegung aus den Augen. Umgekehrt: die Details nutzte er immer gerade im Interesse des Allgemeinen aus, aber als für einen wahrhaften Marxisten war das Ganze in der Politik für ihn die Eroberung der Staatsmacht für das Proletariat im Namen der sozialen Revolution. Singer war und blieb entschlossener Gegner des opportunistischen Reformismus, er war proletarischer Revolutionär bis ins Knochenmark …

Noble4 Sorgfalt in allen Zweigen der Parteiarbeit; Unermüdlichkeit bei der Erledigung der Parteipflichten; die Kunst der revolutionären Ausnutzung aller Möglichkeiten, die uns der bürgerliche Bau eröffnet, – dies werden wir russischen Sozialdemokraten von dem großen Verstorbenen noch lange und fleißig lernen müssen.

Aber das ist noch nicht der ganze Singer. Als Revolutionär und Parteimensch konnte Singer nicht nur für seine Meinung kämpfen, sondern sich auch der höchsten Verpflichtung der Parteieinheit unterwerfen. Alle wussten, dass bei jeglichem organisatorischen Konflikt Singer als Vorsitzender des ZK, Singer als Vorsitzender des Parteitags, Singer als Vorsitzender der Parlamentsfraktion, niemals unter dem Einfluss persönlicher Sympathien die Waagschale der Parteientscheidung auf die unrechte Seite senkte. Singer hielt das für alle gemeinsame Parteirecht, Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit in Parteibeziehungen unermüdlich ein. Darauf beruhte seine unüberwindliche sittliche Autorität: Aufrichtigkeit ist eine politische Kraft, sie erobert. Und ohne sittliche Autorität gibt es keinen proletarischen Führer: weil nicht mechanische Disziplin, sondern freie sittliche Verbindung den proletarischen Bund verbindet … Im Laufe der Zeiten wurde der Rote Präsident die Verkörperung des Rechts der proletarischen Demokratie, ein lebendes Symbol der Einheit der proletarischen Armee. und auf diesem Gebiet wird Singer für uns Russen, welchen noch bevorsteht, unsere Parteimoral auszuarbeiten, ein wunderschönes sittliches Vorbild bleiben.

Paul Singer starb mit 67 Jahre, Hunderttausende Berliner Proletarier geleiteten seine Asche zum Grab, aber die Sache seines Geistes wird in den Herzen von Millionen leben.

1 Am 18./31. Januar 1911 – d. Red. [der Werke]

2In der englischen Übersetzung fehlt die Klammer

3In der englischen Übersetzung: „Verwaltung“

4In der englischen Übersetzung: „Bewundernswerte“

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