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Leo Trotzki 19180604 Zum Gedächtnis Plechanows

Leo Trotzki: Zum Gedächtnis Plechanows1

[eigene Übersetzung nach dem russischen Text in Л. Троцкий. Сочинения. Том 8. Москва-Ленинград, 1926, verglichen mit der englischen Übersetzung]

Genossen! Wir leben in einer Zeit, in der ein individuelles menschliches Leben im kolossalen Strudel der Ereignisse nichts oder fast nichts zu sein scheint. In der Zeit des Krieges starben und verschieden Millionen und Hunderttausende starben in der Zeit der Revolution. In einer solchen Bewegung und in einem solchen Kampf der Menschenmassen ist der einzelne Mensch nicht wahrnehmbar. Dennoch gibt es selbst in der Zeit der größten Massenereignisse einzelne Todesfälle, an denen man nicht schweigend ohne Anmerkung vorbeigehen darf. Solcherart ist der Tod G. W. Plechanows.

In dieser großen von oben bis unten2 gefüllten Versammlung gibt es keine einzige Person, die den Namen Plechanow nicht kennt.

Plechanow gehörte zu jener Generation der russischen Revolution und zu der Zeit ihrer Entwicklung, als nur kleine Abteilungen der Intelligenz im revolutionären Kampf standen. Plechanow durchlief die Semlja i Wolja, die Tschorny Peredjel und organisierte 1883, zusammen mit seinen engsten Mitarbeitern, Vera Sassulitsch und Pawel Axelrod, die Gruppe „Befreiung der Arbeit", die die erste Zelle des russischen Marxismus wurde, zunächst nur ideologisch. Wenn hier nicht ein einziger Genosse den Namen Plechanows nicht kennt, dann gibt es unter uns, den Marxisten der älteren Generation, keinen, der nicht Plechanows Arbeiten studierte.

Er war es, der 34 Jahre vor dem Oktober argumentierte, dass die russische Revolution nur in Form einer revolutionären Arbeiterbewegung siegen könne. Er versuchte, den Fakt der Klassenbewegung des Proletariats dem revolutionären Kampf der ersten intellektuellen Zirkel zugrunde zu legen. Das lernten wir von ihm, und das ist nicht nur die Grundlage für Plechanows Tätigkeit, sondern für unseren gesamten revolutionären Kampf. Dem bleiben wir bis heute treu. In der weiteren Entwicklung der Revolution entfernte sich Plechanow von der Klasse, der er in der schwersten Ära der Reaktion ausgezeichnet gedient hatte. Es kann keine größere Tragödie für einen Politiker geben, der jahrzehntelang unermüdlich dafür plädierte, dass die russische Revolution nur als eine Revolution der Arbeiterklasse sich entwickeln und zum Sieg kommen kann – für eine solche Figur kann es keine größere Tragödie geben als in der entscheidenden historischen Periode, in der Epoche der siegreichen Revolution sich zu weigern, an der Bewegung der Arbeiterklasse teilzunehmen. In einer solchen tragischen Lage erwies sich Plechanow. Er hat die Sowjetmacht, das proletarische Regime und die Partei der Kommunisten, zu der ich wie viele von Ihnen gehöre, nicht mit Schläge verschont, und natürlich haben wir mit Schlägen auf seine Schläge geantwortet. Und am offenen Grab von Plechanow bleiben wir unserem Banner treu, machen Plechanow, dem Kompromissler und Nationalisten, keine Zugeständnisse und nehmen keine der Schläge zurück, die wir ihm zufügten, ohne zu erwarten, dass unsere Gegner uns schonen. Aber zur gleichen Zeit, da in unser Bewusstsein die Tatsache eingedrungen ist, dass Plechanow nicht mehr unter den Lebenden ist, fühlen wir in uns selbst, zusammen mit der unversöhnlichen revolutionären Feindschaft gegenüber all denen, die im Weg der Arbeiterklasse stehen, genug ideologische Großzügigkeit, um uns jetzt an Plechanow nicht als den zu erinnern, gegen den wir mit aller Entschlossenheit gekämpft haben, sondern als den, bei dem wir das ABC des revolutionären Marxismus gelernt haben. In das eiserne Inventar der Arbeiterklasse nahm Plechanow nicht nur ein scharfes Schwert und nicht nur einen schonungslos stechenden Speer auf. Im Kampf gegen unsere Klassenfeinde und gegen ihre bewussten und unbewussten Diener, wie auch im Kampf gegen Plechanow selbst in der letzten Periode seines Lebens, benutzen wir den besten Teil des geistigen Erbes, das uns Plechanow hinterließ, und werden ihn weiterhin benutzen. Er starb, aber die Ideen, die er zur besten Zeit seines Lebens schmiedete, sind unsterblich, wie die proletarische Revolution unsterblich ist. Er starb, aber wir, seine Jünger, leben und kämpfen unter dem Banner des Marxismus unter dem Banner der proletarischen Revolution. Und bevor wir mit den nächsten Aufgaben unseres heutigen Kampfes gegen Unterdrückung und Ausbeutung, gegen Lügen und Verleumdungen fortfahren, fordere ich Sie alle auf, Plechanows Gedächtnis still und feierlich zu ehren, indem Sie sich erheben.

1 Rede des Genossen Trotzki bei der 17. gemeinsamen Sitzung des vom Vierten Sowjetkongress gewählten Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees, des Moskauer Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, des Allrussischen und Moskauer Zentralrats der Gewerkschaften, von Vertretern aller Moskauer Gewerkschaften, Fabrikkomitees und anderer Arbeiterorganisationen vom 4. Juni 1918 [Hg. der Сочинения]

2In der englischen Übersetzung: „bis zum Überfließen“

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