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Vincas Mickevičius-Kapsukas 19180210 Erklärung des Vertreters des Kommissariats für Litauische Angelegenheiten

Vincas Mickevičius-Kapsukas: Erklärung des Vertreters des

Kommissariats für Litauische Angelegenheiten

(im Anhang des Protokolls der Friedenskonferenz in Brest-Litowsk vom 10. Februar 1918)

[Eigene Übersetzung nach Л. Троцкий. Сочинения. Том 17, часть 1. Москва-Ленинград, 1926, S. 562-567]

Hier äußerten wiederholt die Herren Vertreter der Delegationen der Mittelmächte, dass die Bevölkerung Litauens, wie die Bevölkerung Polens und Kurlands, bereits im Sinne der Unabhängigkeit Litauens über sich selbst bestimmt habe; indem sie auf die rechtmäßig entstehenden Organe der neuen Staatsbildung verwiesen, die angeblich befugt seien, den Willen eines breiten Spektrums des litauischen Volkes zum Ausdruck zu bringen. Um was für Organe es sich handelt, haben wir aus der Rede von General Hoffmann erfahren, der in der Sitzung vom 12. Januar unter anderem Folgendes sagte:

Am 11. Dezember 1917 proklamierte der litauische Landtag, der von den Litauern des In- und Auslandes als einzige bevollmächtigte Vertretung des litauischen Volkes anerkannt ist, den Wunsch der Abtrennung von allen staatlichen Verbindungen, die bisher mit anderen Völkern bestanden haben.“1

Bei dieser Gelegenheit halte ich für erforderlich, Folgendes zu erklären:

Der Litauische Landrat besteht aus zwei Mitgliedern, die auf der so genannten Litauischen Vilnius-Konferenz (18.-22. September) gewählt wurden, die keinen einzigen Arbeiter umfasste. Diese Konferenz wurde auf Einladung eines selbsternannten Organisationsbüros willkürlich zusammengestellt und nicht auf der Grundlage korrekter demokratischer Wahlen, ohne die aktive Teilnahme der breiten litauischen Massen, in Abwesenheit von Rede- und Versammlungsfreiheit. Sie arbeitete privat. Die Besatzungsmacht verbot sogar die Veröffentlichung von Berichten über ihre Tätigkeit und erlaubte die Veröffentlichung der Konferenzbeschlüsse der nicht. Dies geschah angesichts der Tatsache, dass Bauern und andere Teilnehmer auf der Konferenz höchst entschieden gegen das Regime der Besatzungsmacht protestierten und den Wunsch äußerten, sie um jeden Preis loszuwerden. Auf derselben Konferenz wurde entschieden, dass sie keine Rechtskraft haben würde und keine kompetente Stelle für die Festlegung der Art der Beziehungen zu Nachbarn wäre, weil sie nicht von der Bevölkerung gewählt wurde. „Um Beziehungen zu Nachbarn zu schaffen", lesen wir in der Resolution der Konferenz, „sollte eine Konstituierende Versammlung Litauens einberufen werden, die auf demokratischer Grundlage von der gesamten Bevölkerung gewählt wird."

Es ist klar, dass weder der derzeitige litauische Landrat noch der im Sinne der Besatzungsmacht erweiterte Landrat das Recht haben, sich zum „einzig legitimen Organ des litauischen Volkes" zu erklären und seine Beziehungen zu den Nachbarstaaten zu bestimmen. Gegen diese Art von Anspruch sprach sich die überwältigende Mehrheit der Konferenz aus. Hauptsächlich geschah dies unter dem Druck der Arbeitern und Bauern, die keinesfalls ein Organ als autorisierten Vertreter des litauischen Volkes anerkennen können, das unter direkter Beteiligung der Besatzungsmacht geschaffen wurde. Am Vorabend der Konferenz in Wilna wurde folgende Resolution verabschiedet:

Vertreter der jüdischen, polnischen, litauischen und weißrussischen demokratischen und sozialistischen Kreise der Bevölkerung, die sich am 16. September im Arbeiterklub versammelt haben, beschlossen zu fordern, dass Fragen zur Zukunft Litauens, seiner Verwaltung und zur Herstellung seiner Beziehungen mit benachbarten Staaten oder Völkern nur bei einer vom gesamten litauisch-weißrussischen Bezirk frei gewählt Konstituierenden Versammlung liegen. Vor diesem Hintergrund protestiert das Treffen entschieden gegen eine Anmaßung der höchsten Rechte der Vertretung des Landes, von wo auch immer diese Angriffe herkommen mögen.“

Der litauische Landrat wie auch die rechten bürgerlichen litauischen Gruppen, die verkünden, dass die angebliche Selbstbestimmung Litauens bereits stattgefunden habe und im Namen des ganzen Volkes sprechen, ohne die Bevölkerung irgendwie zu befragen, maßen sich dadurch die höchste Macht an. Dagegen protestieren die litauischen Arbeiter und Bauern in Litauen und Lettland, die Flüchtlinge in Russland, die Emigranten in Amerika und ihren Willen äußernde sozialdemokratischen und sozialistischen Organisationen auf die stärkste Weise. In ihren zahlreichen Resolutionen erklären sie, dass das litauische werktätige Volk ein Häufchen von Vertretern der litauischen Bourgeoisie und Gutsbesitzer nicht befugt hat, in seinem Namen zu sprechen.

Die Erklärungen des litauischen Landrats und der reaktionären bürgerlichen Gruppen stellen ihrerseits den Versuch einer Verständigung mit der deutschen Regierung dar, so wie zu Beginn des Krieges die gleichen Elemente in ihren Klasseninteressen mit der zaristischen Regierung gegen ihre eigenen werktätigen Massen Abkommen geschlossen haben. Unter der Herrschaft einer Militärdiktatur, bei völliger Unterdrückung der Rede-, Versammlungs- und Pressefreiheit kann von einer wirklichen Selbstbestimmung der Völker keine Rede sein. Indessen herrscht in Litauen unbestreitbar eine Militärdiktatur. Fast alle öffentlichen Initiativen sind dort gelähmt. Die Bewegungsfreiheit ist aufgehoben, selbst die Mitglieder des litauischen Landrats suchen vergeblich nach dieser Freiheit. Der Landrat selbst ist völlig ohne Rechte. Seit zwei Jahren ist es im besetzten Litauen nicht erlaubt, eine einzige Zeitung in litauischer Sprache zu veröffentlichen, mit Ausnahme einzig der „Dabartis", die von der deutschen Regierung subventioniert wird. Arbeiterorganisationen werden unterdrückt, Treffen sind verboten. Es gibt massive Durchsuchungen und Verhaftungen. Die Kriegsschrecken zwangen Hunderttausende von Menschen, ihre Heimat zu verlassen, in Russland blieben Zehntausende unter Waffen, andere wurden gewaltsam zur Zwangsarbeit nach Deutschland gebracht oder in Lager für zivile Gefangene gebracht. Die übrige arbeitende Bevölkerung fristet unter dem Joch der Requisition ein Bettlerdasein. Unter solchen Bedingungen gibt es keine Möglichkeit, von der Selbstbestimmung der litauischen Bevölkerung zu sprechen. Erschwerend kommt hinzu, dass die deutsche Regierung auch nach Abschluss eines allgemeiner Friedens nicht verspricht, ihre Truppen in absehbarer Frist aus Litauen abzuziehen, die Besatzungsinstitutionen abzuschaffen und der örtlichen Bevölkerung die Macht zu geben.

Alle diese Gegenden“ (Litauen, Kurland, Riga, die Inseln), erklärte General Hoffmann zur Unterstützung der Politik der deutschen Regierung, „besitzen keine Verwaltungsorgane, keine Organe der Rechtspflege, keine Organe des Rechtsschutzes, keine Eisenbahnen, keine Telegraphen, keine Post. Alles dies ist deutscher Besitz und in deutschem Betrieb. Auch zur Errichtung eines eigenes Volksheeres oder Miliz sind diese Länder mangels der eigenen Organe in absehbarer Zeit nicht in der Lage.“

Deshalb „muss die Oberste Heeresleitung eine Räumung Kurlands, Litauens, Rigas und der Inseln im Rigaischen Meerbusen ablehnen.“2

Eine solche Einschätzung der Lage legt nahe, dass das litauische Volk nicht aus einem Zustand primitiver Barbarei herausgekommen sei, und Litauen vor der deutschen Besatzung weder Eisenbahnen noch Post noch Telegraphen gekannt habe. Indessen erfordert die Aufrechterhaltung dieser technischen Einrichtungen keinesfalls ein militärisches Besatzungsregime, in dem das litauische Volk angesichts der Tatsache, dass die Besetzung nicht auf eine bestimmte Zeit beschränkt ist, nur die Form einer verdeckten Annexion sieht.

Gegen diese Entscheidung über das Schicksal Litauens protestieren nicht nur die litauischen revolutionären Sozialdemokraten (Bolschewiki), die Sozialdemokratische Partei Litauens, die Sozialistischen Narodniki Litauens, die Litauische Militärunion, die armen Arbeiter und Bauern in Litauen, der Zweite Allrussische Kongress der Flüchtlinge auf energischste Weise – sondern auch die Mehrheit der bürgerlichen Organisationen, die die Unabhängigkeit Litauens anstrebten, mit der Ausnahme einiger Geistlichen- und Gutsbesitzergruppen, die sich vor dem Einfluss der Arbeiter- und Bauernrevolution schützen wollen. Alle einflussreichen Parteien erkennen an, dass die litauische Bevölkerung reif genug ist, die Kontrolle über das Land in die eigenen Hände zu nehmen und ihr Schicksal ohne die Vormundschaft eines anderen zu entscheiden.

Das entscheidende Wort über das Schicksal Litauens sollte nach Ansicht der litauischen Arbeiterdemokratie weder von Vertretern der deutschen Regierung oder der Regierung der Russischen Republik gesprochen werden, noch von den bürgerlichen Gruppen, die zuvor den Zarismus unterstützt haben und jetzt nach einem Bündnis mit der deutschen Regierung suchen – das entscheidende Wort gehört nicht den Organisatoren der Wilnaer Litauischen Konferenz und dem litauischen Landrat, sondern der demokratischen Bevölkerung Litauens, vor allem den Arbeitern und armen Bauern in Litauen, ohne Unterschied der Nationalitäten.

Damit sie sich frei selbst bestimmen können, betrachten sie dieselben Bedingungen, die die russische Delegation aufstellte, als absolut notwendig:

1. Nach dem Abschluss des Friedens mit Russland sofortiger Rückzug der deutschen Besatzungstruppen und Gendarmerie und die Beseitigung aller durch die Besetzung auferlegten Institutionen.

2. Übergabe der vollen Macht an die örtliche Bevölkerung.

3. Gewährleistung völliger Rede-, Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit für die arbeitenden Massen.

4. Sofortige Rückkehr aller gewaltsam vertriebenen, verschleppten oder aus ihren Orten vor Militäraktionen geflohenen Einwohner Litauens in die Heimat.

5. Rückkehrrecht für alle litauischen Emigranten und Gewährung derselben Rechte wie der gesamten litauischen Bevölkerung.

6. Wiederaufbau der am stärksten vom Krieg betroffenen Gebiete auf Kosten eines internationalen Fonds, der aus einer Steuer auf die reichen Klassen aller kriegführenden Länder gebildet wird.

7. Rückkehr aller Staats-, Verwaltungs-, öffentlichen und anderen Institutionen und Einrichtungen, die während des Krieges aus Litauen evakuiert wurden, sowie der Fabriken und Betriebe nach Litauen, auf Kosten des Staates, der sie evakuiert hat.

Nur unter solchen Bedingungen wird die arbeitende Bevölkerung Litauens frei über sich selbst bestimmen können.

Kommissar für litauische Angelegenheiten

V. Mickevičius-Kapsukas.

Brest-Litowsk, 10. Februar 1918

1[Hier zitiert nach Stuttgarter Neues Tagblatt, Nr. 23, 15. Januar 1918, Morgen-Ausgabe Hervorhebungen dort – der Übersetzer]

2 [a.a.O. Hervorhebungen dort – Der Übersetzer]

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