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Karl Kautsky 19080424 Zum 1. Mai

Karl Kautsky: Zum 1. Mai

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 26.1907-1908, 2. Band (1907-1908), Heft 30 (24. April 1908), S. 113-115]

Der 1. Mai bedeutet eine Heerschau des kämpfenden Proletariats. Sie verspricht in diesem Jahre besonders ermutigend zu werden. Noch sind es keine zwei Jahrzehnte, dass die Vertreter des internationalen Proletariats in Paris die Maifeier beschlossen; eine gewaltige Strecke Weges wurde in dieser kurzen Spanne Zeit zurückgelegt. Damals gab es nur ein Land, in dem die Sozialdemokratie eine geschlossene Massenpartei war, Deutschland, und dies stand unter dem Drucke eines Ausnahmegesetzes. Überall anderswo bildeten die Sozialisten unter den Arbeitern selbst nur eine Minorität, freilich eine Elite.

Heute ist sogar in Russland die Sozialdemokratie eine Partei der Massen geworden, von Massen, die stark genug waren, wenigstens einen Moment lang den Zaren auf die Knie niederzuzwingen, wenigstens einen Moment lang eine Diktatur des Proletariats über das ganze riesige Russenreich auszuüben, wie sie 1871 das Proletariat Frankreichs und über die Hauptstadt auszuüben vermocht hatte.

Der Fortschritt zeigt sich auch darin, dass zur Zeit der Einführung der Maifeier, 1889, und noch lange nachher, die Sozialdemokratie eines Landes, Deutschlands, die der anderen Länder an Kraft, Geschlossenheit und Klarheit so sehr überragte, dass ihr die Führung in der neuen Internationale von selbst zufiel, ohne dass sie sie suchte oder gar beanspruchte. Auch diese Führung hat aufgehört, die sozialistischen Parteien der anderen Länder werden immer mehr der deutschen Sozialdemokratie ebenbürtig, und es hängt nur noch von der historischen Situation ab, welche von ihnen in den Vordergrund tritt. Im Jahre 1903, nach dem glorreichen Dreimillionensieg, war es noch die deutsche Sozialdemokratie, 1905 die russische, zur Zeit der herrlichen Oktobertage, 1906 die österreichische in ihrem siegreichen Wahlrechtskampf, dem dann ein ebenso glänzender Wahlkampf folgte. Jetzt ist es vor allem die englische Sozialdemokratie, die im Mittelpunkt des internationalen Interesses steht, weil sie der Mittelpunkt des politischen Interesses in ihrem Lande selbst geworden ist. Sie beherrscht dort das öffentliche Leben mehr als je, mehr als zur Zeit des Chartismus, mehr als zur Zeit des neuen Unionismus. Niemals hat die Bourgeoisie Englands den Sozialismus so lebhaft bekämpft wie heute. Fürchtet sie ihn doch schon so sehr, dass sie nach französischem Muster mit der Absicht schwanger geht, ihm einen Ministerposten einzuräumen, um ihn zu korrumpieren und zu spalten, ehe er die Gesamtheit der Arbeiter gewonnen hat. deren Mehrheit bereits hinter ihm steht.

Und nicht minder gewaltig wie in England sind die Fortschritte des Sozialismus in Amerika, dem Lande des entwickeltsten Kapitalismus, aber auch der gewalttätigsten Bourgeoisie, der skrupellosesten Spekulation, der verheerendsten Krisen.

Freilich, die Krisis droht in diesem Jahre die Maifeier insofern zu beeinträchtigen, als sie eine Kraftprobe zwischen gewerkschaftlich organisierten Arbeitern und Unternehmern bedeutet. Im rein wirtschaftlichen Kampfe werden durch die industrielle Stagnation die Positionen der Unternehmer gegenüber den Arbeitern ungemein gestärkt. Um so mehr wird aber in diesem Jahre die Maifeier einen politischen Charakter annehmen müssen und einen sozialistischen, revolutionären Charakter. Für alle Missstände des Kapitalismus lassen sich Reformen, Milderungen, Palliativmittel denken – freilich meist nur denken, fast nie durchsetzen, für die Krisen dagegen ist innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise kein Kraut gewachsen, sie werden von der kapitalistischen Welt selbst als unvermeidliche Elementarereignisse hingenommen. Die lächerliche Erwartung einiger Konfusionsräte, die Kartelle und Trusts würden die Produktion regeln und dadurch den Krisen entgegen wirken, ist längst verpufft; die Trusts sind nur zu neuen Krisenursachen geworden.

Der Kampf gegen die Krisen ist daher von vornherein nur zu führen als Kampf gegen die Gesamtheit der kapitalistischen Produktionsweise, nicht bloß gegen einzelne ihrer Teile; hier versagt die sogenannte Realpolitik, die glaubt, besonders schlau zu sein, wenn sie immer nur ein Stückchen des gesellschaftlichen Getriebes ins Auge fasst und von seiner Gesamtheit absieht. Hier heißt es, der Gesamtheit zu Leibe gehen, die Gesamtheit umwandeln wollen, das heißt. im Gegensinn zur Realpolitik, revolutionäre Politik treiben.

Infolge der Krisis wird die Maifeier daher in diesem Jahre mehr als je seit ihrem Bestehen eine revolutionäre Feier sein. Wohl wird die Zahl derjenigen geringer sein, die die Arbeitsruhe am 1. Mai ihren Unternehmern abzutrotzen vermögen, aber um so größer die Zahl derjenigen, die von ihren Unternehmern selbst gezwungen werden, auf die Straße zu gehen und zu feiern. Die Maifeier wird in diesem Jahre mehr als je ein Protest der Arbeitslosen sein, ein Protest gegen eine Gesellschaftsordnung, die die Arbeiter wohl in der Zeit der Prosperität auszubeuten, aber in der Zeit der Krisis nicht vor dem Verhungern zu schützen weiß.

Aber nicht bloß ein Protest der Arbeitslosen, sondern auch der Rechtlosen. Nie war das Proletariat kraftvoller als heute, nie mehr gefürchtet; aber gerade darum werden ihm von seinen Gegnern politische Rechte, die es noch nicht hat, hartnäckiger als je vorenthalten, indes man gleichzeitig trachtet. ihm die Rechte, die es schon besitzt, zu eskamotieren.

Ein Protest der Rechtlosen wird die Maifeier vor allem im Zarenreich sein, wo sich das Selbstherrschertum nur noch dadurch zu behaupten vermag, dass es das Lumpentum entfesselt und allen, die durch fleißige Arbeit die Gesellschaft erhalten, die schwersten Fesseln anlegt.

Ein Protest der Rechtlosen auch in Deutschland, wo in Preußen das Proletariat noch immer von jedem Zugang zum Parlament ausgeschlossen ist, wo das Recht der nichtdeutschen Nationalitäten und namentlich ihrer Arbeiter mit Füßen getreten wird, wo das allgemeine. Wahlrecht zum Reichstag selbst bedroht ist.

Ein Protest der Rechtlosen endlich in den Vereinigten Staaten, wo die Gerichtshöfe sich immer mehr als schamlose Werkzeuge des Kapitalismus entpuppen, die ihm zuliebe jede freie Betätigung der Arbeiterklasse unter frecher Gesetzesverhöhnung zu erwürgen suchen.

Aber was in diesen Ländern passiert, das kann heute oder morgen in jedem anderen das Los der Arbeiterklasse sein. Sogar in der freien Schweiz plant man Ansnahmegesetze gegen die Arbeiterschaft. Und noch nirgends, in keinem Lande der Welt, ist der Proletarier völlig gleichen Rechtes mit den Besitzenden. Überall hat er sich dieses gleiche Recht erst zu erobern.

Kampf gegen Arbeitslosigkeit, Kampf gegen Rechtlosigkeit, das ist mehr als je in diesem Jahre die Signatur der Maifeier. Das heißt aber nichts anderes, als Kampf gegen die bestehende Staats- und Gesellschaftsunordnung.

K. Kautsky.

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