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Karl Kautsky 19080905 Zum Parteitag

Karl Kautsky: Zum Parteitag

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 26.1907-1908, 2. Band (1907-1908), Heft 50 (5. September 1908), S. 853-857]

Vor wenigen Wochen noch schien es, als sollte der Nürnberger Parteitag so friedlich werden, als ein Parteitag nur sein kann. Völlig friedlich kann ja keiner sein, denn seine Aufgabe ist von vornherein die, bestehende Meinungsverschiedenheiten in der Partei aus der Welt zu schaffen und festzustellen, welchen Weg die Mehrheit der Partei gehen will, und daher die Gesamtpartei zu gehen hat. Wären wir in allen Punkten einig, brauchte man keinen Parteitag.

Aber diesmal stand nichts auf der Tagesordnung, was die Leidenschaften besonders erregen könnte, trotz der Bedeutung der einzelnen Fragen.

Wesentliche Meinungsverschiedenheiten waren nur zu erwarten in der Frage der Maifeier und der Jugendorganisationen.

Die Maifeier ist ein alljährliches Schmerzenskind der Parteitage geworden, hoffentlich gelingt es diesmal, eine endgültige Klärung der Frage herbeizuführen. Es unterliegt keinem Zweifel mehr, dass das Feiern des 1. Mai durch Arbeitsruhe in den Kreisen leitender Gewerkschafter großer Abneigung begegnet. Dieser Zustand latenter Feindseligkeit ist schlimmer als offener Verzicht auf die Arbeitsruhe. Er beeinträchtigt die Wirksamkeit der Demonstration, ohne ihre Opfer zu vermindern.

Die Maifeier durch Arbeitsruhe ist eine Position, die wir erobert haben. Kein Zweifel, ihre Behauptung kostet Opfer. Die Frage ist die, ob das Aufgeben der Position nicht noch größere Nachteile mit sich bringt. Es würde allgemein aufgefasst werden als ein Zurückweichen vor dem Feinde, und es wäre auch ein solches. Es würde die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter entmutigen und den Übermut der Unternehmerverbände steigern. Es fragt sich, ob die Opfer der Arbeitsruhe demgegenüber nicht das kleinere Übel sind, wollen aber die Gewerkschafter erklären, die Unternehmerorganisationen seien so übermächtig geworden, dass die Arbeiter diesen gegenüber heute Arbeitseinstellungen zu demonstrativen Zwecken an einem einzigen Tage ohne Schädigung ihrer Organisation auch dort nicht mehr wagen können, wo sie sie bisher noch durchzusetzen vermochten, dass die Gewerkschaften, trotz ihrem absoluten Machtzuwachs, relativ gegenüber den Unternehmerorganisationen zurück geblieben sind, dass sich die Lage der Arbeiter in dieser Hinsicht also verschlechtert und daher die Arbeitsruhe am 1. Mai aufgehört hat, ein zweckmäßiges Demonstrationsmittel zu sein, dann werden die Parteigenossen darauf Rücksicht nehmen müssen. Sind indes die Gewerkschafter anderer Meinung, halten sie dafür, dass ihre Kraft nicht bloß absolut, sondern auch relativ gewachsen ist, dann besteht nicht der mindeste Grund, der Arbeitsruhe zu entsagen, um so mehr, da diese bisher schon nicht unbedingtes Gebot war; dann kann es sich nur darum handeln, ihre zweckmäßigste und ausgedehnteste Durchführung zu sichern.

Das Schlimmste in jedem Kampfe ist die Unentschlossenheit, wenn man wegen der moralischen Rückwirkung eine gewonnene Position nicht offen aufzugeben wagt, sie aber doch für unhaltbar hält und daher an allem Aufwand von Menschen und Mitteln knausert, den ihre Behauptung erfordert.

Ist die Maifeier ein altes Schmerzenskind der Parteitage, so hat die Frage der Jugendorganisation für das Parteiparlament den Reiz größerer Jugendlichkeit. Sie steht in engem Zusammenhang mit den Bildungsfragen, die den Kongress beschäftigen werden. Es handelt sich darum, der Partei frisches Blut zuzuführen, die Bildung des Nachwuchses nicht, wie bisher, dem Zufall zu überlassen. Wenn vor einem Jahrzehnt der Ruf ertönte: weg mit der grauen Theorie, alle höheren Gesichtspunkte können uns nichts helfen, auf die Kleinarbeit kommt alles an, so erkennt man jetzt allenthalben, dass die Kleinarbeit dem modernen Proletarier so sehr auf Schritt und Tritt aufgezwungen wird, dass er sich ihrer gar nicht erwehren kann. Es gilt, Mittel und Wege zu finden, die es ihm ermöglichen, inmitten des Wustes von Kleinarbeit nicht zu ersticken und den Kopf frei zur Erkenntnis großer Zusammenhänge und ferner Ziele zu behalten.

Der Existenzkampf des modernen Proletariers wird immer wilder; wohl wird vielfach die Arbeitszeit verkürzt, aber dabei wächst die Intensität der Arbeit. Der Arbeiter fühlt sich, wenn er die Werkstelle verlässt, oft erschöpfter als ehedem. Und konnten früher in der Werkstatt bei der Arbeit die Arbeiter ihre Gedanken austauschen, so hört dies in der modernen Fabrik völlig auf. Damit geht ihnen ein großes Bildungsmittel verloren. Dabei wachsen die Unternehmerorganisationen, denen der Arbeiter völlig wehrlos preisgegeben ist, wenn er sich nicht einer Organisation anschließt. Die Arbeit in den proletarischen Organisationen wird immer mehr ein Teil des notwendigen Existenzkampfes des Arbeiters, sie bildet ebenso wie die stets wachsenden Wege zu und von der Arbeitsstätte eine Verkürzung jener freien Zeit, die er seiner Fortbildung widmen könnte. Diese Zeit nimmt ab, trotz der gleichzeitigen Verkürzung der eigentlichen Arbeitszeit.

Dabei aber wächst das Proletariat immer mehr, es wird ein immer wichtigerer Teil der Bevölkerung. Alle Elemente, die darauf angewiesen sind, die Masse zu gewinnen, Parteien ebenso wie Fabrikanten von Massenkonsumartikeln stürzen sich immer mehr auf den Proletarier, natürlich nicht, um ihn zu heben, wie es Sozialdemokratie und Gewerkschaften wollen, sondern um ihn profitabel auszubeuten, politisch und ökonomisch. Ihnen gilt es nicht, seine Intelligenz und seine Kraft zu entwickeln, sondern aus seiner Naivität Kapital zu schlagen, Rohheit, Sinnlichkeit und Sensationslust in ihm zu entwickeln, ihn zu degradieren so viel wie möglich. Die Herausgeber der Sensationspresse, die Direktoren der Tingeltangel, der Kinematografen und sonstiger „Rummel"vergnügungen verfolgen ebenso wie Arrangeure christlicher Jünglingsvereine dieses edle Ziel der Degradierung, wenn auch mit sehr verschiedenen Mitteln.

Vor allem die Arbeiterjugend ist diesen verderblichen Einflüssen ausgesetzt. Vater und Mutter sind in der Arbeit, können nicht nach den Kindern sehen; diese werden frühzeitig ökonomisch selbständig, da werden sie nur zu sehr aller Korrumpierung durch gewissenlose Spekulanten der verschiedensten Art preisgegeben.

Hier einzugreifen ist eine der wichtigsten Aufgaben der proletarischen Organisationen. Sie konnten es nicht früher, solange sie zu schwach waren, so lange ihre Kräfte kaum ausreichten, die nächstliegenden politischen und ökonomischen Kämpfe auszufechten. Aber ihre finanziellen und intellektuellen Kräfte wachsen und damit auch der Kreis ihrer Funktionen und Aufgaben. Die Bildung der heranwachsenden Arbeiterjugend wird heute allenthalben eine der wichtigsten darunter. Diese Aufgabe kann aber ausreichend nur gelöst werden unter Mitwirkung selbständiger Organisationen jugendlicher Arbeiter. Das lehren alle bisherigen Erfahrungen. Will man Massenorganisationen, müssen es selbständige Organisationen sein, andere würden auf die jugendlichen Arbeiter keine Anziehungskraft üben; das selbständige Wirken, die Verantwortung für das eigene Tun ist aber auch eine Schule des Charakters, die für proletarische Kampfesorganisationen unentbehrlich ist.

Die Forderung der Selbständigkeit bedeutet keineswegs, dass die Erwachsenen sich um die Jugendorganisationen nicht kümmern sollen. Das wäre verhängnisvoll. Das wünschen die jugendlichen Arbeiter selbst nicht. So eifersüchtig auf seine Selbständigkeit und so empfindlich in dieser Beziehung das jugendliche Alter ist, so sehr hat es das Bedürfnis nach Anlehnung an einen älteren Freund, dem es enthusiastische Verehrung entgegenbringt, wenn es in ihm ein Vorbild sowie einen Bringer höheren Wissens erkennt und Verständnis für das eigene Sehnen und Verlangen, für die eigenen Schmerzen und Freuden bei ihm findet.

Nicht jeder taugt zum Berater der Jugend. Aber alle Genossen, die das Zeug dazu in sich fühlen, werden gerade jetzt, wo unsere Jugendorganisationen noch im Stadium des Suchens und Tastens sind, unserer Sache am wirksamsten dadurch dienen, dass sie diesen Organisationen mit Rat und Tat beistehen. Die Verhandlungen und Beschlüsse des Parteitags werden sicher das Interesse für die Organisierung und Aufklärung der Arbeiterjugend mächtig steigern. Unsere Bewegung wird sich damit ein neues, gewaltiges Gebiet erschließen, ohne dessen Gewinnung und Behauptung unser Sieg unmöglich ist.

Die Frage der Bildung und Organisierung der Arbeiterjugend ist eine, die so viele schöne Ausblicke eröffnet, so reiche Früchte in ihrem Schoße trägt, dass sie versprach, den Parteitag zu einem der erhebendsten und erfreulichsten zu gestalten, wenn sie den Mittelpunkt seiner Beratungen gebildet hätte. Aber das wird keineswegs der Fall sein. Die ganze Tagesordnung des Parteitags wird in den Hintergrund gedrängt durch eine Frage, die unversehens einige Parlamentarier Badens und Bayerns aufgebracht haben, die der Budgetbewilligung – oder vielmehr die der Parteidisziplin. Die Budgetbewilligung wird immer mehr, je länger die Diskussion vor sich geht, zum bloßen Ausgangspunkt. zum bloßen Symptom einer Bewegung, die die Disziplin der Partei in Frage stellt.

Als die „Münchener Post" den süddeutschen Parteigenossen zu erwägen gab, ob sie die „unwürdige Polizeikomödie" mitmachen wollten, die den Parteitag zu schänden drohe, konnte man noch an einen vereinzelten Ausbruch der Nervosität glauben. Aber die Redaktion des Blattes erklärt einmütig, nach ruhiger Überlegung ihre Aufforderung abgefasst zu haben, und die Mehrheit der süddeutschen Parteiorgane entwickelt mit ihr den gleichen Gedankengang.

Die Begründung der Obstruktion durch den Hinweis auf Schiebungen bei norddeutschen Delegierten ist dabei nichts als ein Vorwand und ein recht durchsichtiger dazu. Will man jetzt schon behaupten, der Parteitag werde ungültige Mandate anerkennen? Oder will man auch gültige Mandate als „unwürdige Polizeikomödie" diskreditieren, wenn sie süddeutschen Genossen unbequem sind?

Aber schon vor der Drohung der „Münchener Post" hatte die „Fränkische Tagespost" erklärt, in der Sache der Budgetbewilligung sei kein Zurückweichen möglich. Und ebenfalls vor dieser Drohung erschien im Karlsruher Parteiorgan ein Artikel vom Genossen Engler, Parteisekretär in Freiburg, in dem es heißt:

Unterwerfen können wir uns nicht, wenn wir uns nicht selbst aufgeben wollen."

Überall derselbe Gedankengang: Wir fügen uns dem Parteitag nicht, wenn wir in der Minorität bleiben. Solche Drohungen wurden laut, ehe noch die „Münchener Post" sich über die „Polizeikomödie" sittlich entrüstete. Diese ist also bloß ein Vorwand, um der unverhüllten Drohung des Disziplinbruchs ein Mäntelchen umzuhängen, das sie in den Augen wenigstens der süddeutschen Genossen etwas anständiger erscheinen lassen soll.

Die Aufrechterhaltung der Parteidisziplin, das ist es, worum in Nürnberg in erster Linie gekämpft werden wird.

Auch wenn die Drohung nicht ernst gemeint, wenn sie als bloßer Schreckschuss gedacht ist, der schwachmütige Geister einschüchtern und zur Nachsicht geneigt machen soll, auch dann bildet sie eine Auflehnung schlimmster Art gegen die Parteidisziplin, bietet sie ein Beispiel, das beständig skrupellose Leute zur Nachahmung reizen, die Geschlossenheit unserer Partei lockern und ihr Gefüge ewigen Erschütterungen aussetzen müsste, wenn es dem Parteitag nicht gelingt, in einer Weise Ordnung zu machen, die eine Wiederkehr solcher skandalösen Kampfesmethoden auch dem Gewissenlosesten verleidet.

Geradezu verheerend aber müsste es auf die Einheit der Partei wirken, wenn die Drohung des Disziplinbruchs ihren Zweck erreichte und die Genossen einschüchterte, wenn man, um dem Disziplinbruch vorzubeugen, die Disziplinlosigkeit sanktionierte, wenn man zugäbe, was unsere Budgetbewilliger wollen, dass die Beschlüsse der Mehrheit die Minderheit nicht binden, sobald die Mehrheit aus Preußen und Sachsen und die Minderheit aus Süddeutschen besteht; dass jede Landesorganisation ihre politische Taktik nach ihrem Belieben einrichten darf; dass wir der Welt das Schauspiel bieten dürfen, wie in dem einen Landtag unsere Genossen energischste grundsätzliche Opposition machen, indes in einem anderen die Genossen mit den Liberalen gegen das Zentrum und in einem dritten mit dem Zentrum zusammen gegen die Liberalen Regierungspartei werden.

Das wäre der Anfang vom Ende der deutschen Sozialdemokratie. Sie verkäme in ebenso schmachvoller Lächerlichkeit wie der deutsche Liberalismus.

Die Disziplin ist es neben der theoretischen Klarheit, was die deutsche Sozialdemokratie so groß gemacht hat. Die Sozialdemokratie eines jeden Landes entwickelt, entsprechend der Eigenart der Bedingungen, unter denen sie erwächst und kämpft, eigentümliche Charakterzüge und Waffen. Die französischen Genossen sind uns voraus an revolutionärem Elan in großen Momenten, die Engländer an Zähigkeit, die Amerikaner an rücksichtsloser und rastloser Energie, die Russen an Verachtung von Schmerzen, Gefahren und Tod.

Und der Vorzug unserer theoretischen Klarheit ist uns im letzten Jahrzehnt ziemlich abhanden gekommen. Er entsprang teils dem besseren Volksschulwesen Deutschlands, teils der Tiefe seiner Wissenschaft, die das Genie von Marx und Engels gleichzeitig vom Standpunkt des Proletariats aus weiter entwickelte und dem Proletariat zugänglich machte.

Aber seit den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts haben die Volksschulen des Auslandes vielfach die deutschen überholt und ist dort eine reiche, teils auf Originalen, teils auf Übersetzungen beruhende marxistische Literatur entstanden.

Eines jedoch blieb, worauf die deutsche Sozialdemokratie stets stolz sein durfte, was sie in der Internationale glänzend hervorragen ließ: Ihre Geschlossenheit, ihre freudige und hingebungsvolle Disziplin, die alle Reihen der Parteigenossen erfüllte, vom Parteivorstand an. Man erinnere sich des Breslauer Kongresses, auf dem Bebel und Liebknecht unterlagen: nie wäre ihnen auch nur für einen Moment der Gedanke gekommen, zu erklären: wenn wir in der Minorität bleiben, tun wir nicht mehr mit, sucht euch andere Mitglieder des Parteivorstandes.

Dieser Disziplin verdankt die deutsche Sozialdemokratie ihre stolzesten Siege, durch sie ist sie vorbildlich geworden für alle Welt, und nun wird versucht, durch Aufstachelung des rückständigsten Partikularismus diesen Grundpfeiler unseres Parteigebäudes aufs Tiefste zu erschüttern, zu keinem anderen Zweck, als um diversen Parlamentariern mehr Ansehen vor den Regierungen und bürgerlichen Parteien zu verleihen und ihnen die Möglichkeit zu erleichtern, parlamentarische Geschäfte mit diesen abzuschließen.

Die Parlamentarier gewinnen dabei, ihre Position wird gehoben, aber auf Kosten der Gesamtpartei, deren Wirken gelähmt, deren Wachstum verlangsamt, ja oft in einen Rückgang verwandelt wird. Frankreich und Italien sind warnende Beispiele.

Und gerade jetzt wird uns diese Auslösung der Parteidisziplin zugemutet, wo unsere Gegner in Süd und Nord sich eifriger zusammenscharen als je, wo die Reichsregierung ihre Politik der Aushungerung und Niederdrückung der Volksmassen, die sie durch Agrarzölle, durch das Vereinsgesetz und ähnlich schöne Einrichtungen schon bezeichnete, unter einmütiger Zustimmung der süddeutschen Regierungen energisch fortzusetzen gedenkt.

Noch nie stand die Partei vor einer ernsteren Situation als jetzt, auf keinem Parteitag lastete noch eine größere Verantwortung. Er wird entscheiden, ob wir eine Armee bleiben, die geschlossen und einmütig nach gemeinsamem Plane dem Feinde entgegenmarschiert, oder ob wir es dulden dass sie sich auflöst in einen Haufen von Regimentern, von denen jedes selbst nach eigenem Gutdünken seine Marschroute bestimmt, da es selbst das Terrain, auf dem es sich bewegt, besser kennen muss als andere, die an anderer Stelle marschieren.

Aber wir leben in der frohen Zuversicht, dass das proletarische Bewusstsein, das stets die festeste Stütze der Disziplin war, auch diesmal wieder, wie so oft, den Sieg erringen wird über kleinbürgerlichen Partikularismus und parlamentarisches Sonderwesen und dass nach den Nürnberger Tagen die Partei so gefestigt bestehen wird wie nur je.

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