Kapitel II. Kritik der Soziologie des Narodnikitums

Kapitel II1

Kritik der Soziologie des Narodnikitums

Das „Wesen“ des Narodnikitums, seine „Grundidee“ sieht der Verfasser in der „Theorie der Eigenart der ökonomischen Entwicklung Russlands“. Diese Theorie besitzt nach seinen Worten „zwei Hauptquellen: 1. eine bestimmte Lehre von der Rolle der Persönlichkeit im historischen Prozess und 2. die unmittelbare Überzeugung von dem besonderen nationalen Charakter und Geist des russischen Volkes und von seinen besonderen historischen Geschicken“ (S. 2). In der Anmerkung zu dieser Stelle bemerkt der Verfasser, dass „für das Narodnikitum ganz bestimmte soziale Ideale kennzeichnend sind“A, und sagt, die ökonomische Weltanschauung der Narodniki werde er weiter unten darstellen.

Eine derartige Charakteristik des Wesens des Narodnikitums verlangt, wie mir scheint, eine gewisse Korrektur. Sie ist allzu abstrakt, idealistisch, da sie auf die herrschenden theoretischen Ideen des Narodnikitums, aber weder auf sein „Wesen“ noch auf seine „Quelle“ hinweist. Es bleibt völlig unklar, weshalb sich die genannten Ideale mit dem Glauben an die Eigenart der Entwicklung, mit der besonderen Lehre von der Rolle der Persönlichkeit verbunden haben und warum diese Theorien zur „einflussreichsten“ Strömung unseres gesellschaftlichen Denkens geworden sind. Wenn sich der Verfasser übrigens, als er von den „soziologischen Ideen des Narodnikitums“ (Titel des ersten Kapitels) sprach, nicht auf rein soziologische Fragen (die Methode in der Soziologie) beschränken konnte, sondern auch die Ansichten der Narodniki über die russische ökonomische Wirklichkeit berührte, so war er verpflichtet, das Wesen dieser Ansichten zu zeigen. In der erwähnten Anmerkung ist dies indessen nur zur Hälfte geschehen. Das Wesen des Narodnikitums besteht in der Vertretung der Interessen der Produzenten vom Standpunkt des Kleinproduzenten, des Kleinbürgers aus. In seinem deutschen Artikel über das Buch des Herrn N–on („Sozialpolitisches Zentralblatt“, 1893, Heft 1) bezeichnete Herr Struve das Narodnikitum als „nationalen Sozialismus“ („Russkoje Bogatstwo“, 1893, Heft 12, S. 185). Anstatt „nationaler“ hätte man sagen müssen „bäuerlicher“, wenn man das alte russische Narodnikitum, und „Spießbürger-Sozialismus“, wenn man das neue im Auge hat. Die „Quelle" des Narodnikitums ist das Überwiegen der Klasse der Kleinproduzenten im kapitalistischen Russland nach der Reform.

Man muss diese Charakteristik erläutern. Den Ausdruck „Spießbürger“ gebrauche ich nicht im gewöhnlichen, sondern im politisch-ökonomischen Sinne des Wortes. Kleinproduzent, unter dem System der Warenwirtschaft wirtschaftend – das sind die zwei Merkmale, die den Begriff „Kleinbürger“, oder, was dasselbe ist, Spießbürger, ausmachen. Hierher gehören demnach sowohl der Bauer als auch der Hausgewerbetreibende, die von den Narodniki stets über einen Leisten geschlagen wurden, und das ganz mit Recht, da beide solche für den Markt arbeitende Produzenten sind und sich nur durch den Entwicklungsgrad der Warenwirtschaft unterscheiden. Ferner unterscheide ich ein altesB und ein modernes Narodnikitum, weil jenes bis zu einem gewissen Grade eine harmonische Lehre war, die in einer Epoche entstand, als der Kapitalismus in Russland noch sehr schwach entwickelt war, als sich der kleinbürgerliche Charakter der Bauernwirtschaft überhaupt noch nicht offenbart hatte, als die praktische Seite der Lehre eine reine Utopie war und die Narodniki sich von der liberalen „Gesellschaft“ scharf abgrenzten und „ins Volk gingen“. Jetzt ist es anders: der kapitalistische Entwicklungsweg Russlands ward von niemand mehr geleugnet, die Zersetzung des Dorfes ist eine unbestrittene Tatsache. Von der harmonischen Lehre des Narodnikitums mit ihrem kindlichen Glauben an die „Dorfgemeinschaft“ sind nur Fetzen übriggeblieben. In praktischer Hinsicht trat an die Stelle der Utopie das ganz und gar nicht utopistische Programm kleinbürgerlicher „Fortschritte“, und nur üppige Phrasen erinnern an den geschichtlichen Zusammenhang dieser armseligen Kompromisse mit den Träumen von einem besseren und bodenständigen Entwicklungsweg für das Vaterland. An Stelle der Abgrenzung von der liberalen Gesellschaft sehen wir die rührendste Annäherung an sie. Gerade dieser Wechsel zwingt dazu, die Ideologie der Bauernschaft von der Ideologie des Kleinbürgertums zu unterscheiden.

Diese Korrektur, den tatsächlichen Gehalt des Narodnikitums betreffend, schien um so notwendiger zu sein, als die erwähnte abstrakte Art der Darstellung bei Herrn Struve sein Hauptmangel ist. Das als erstes. Zweitens aber erfordern „einige grundlegende“ Thesen jener Lehre, an die Herr Struve nicht gebunden ist, gerade die Zurückführung der gesellschaftlichen Ideen auf die sozialen und ökonomischen Verhältnisse. Und wir werden nun zu zeigen trachten, dass es ohne eine solche Zurückführung unmöglich ist, sich auch nur die rein theoretischen Ideen des Narodnikitums, etwa die Frage der Methode in der Soziologie, klarzumachen.

Nachdem Herr Struve bemerkt hat, dass die Lehre des Narodnikitums von der besonderen Methode in der Soziologie am besten von den Herren Mirtow und Michailowski dargestellt worden ist, charakterisiert er diese Lehre als „subjektiven Idealismus“ und führt zur Bestätigung dessen aus den Schriften der genannten Personen eine Reihe von Stellen an, bei denen zu verweilen sich lohnt.

Der Hauptsatz beider Verfasser ist, dass die Geschichte von „allein dastehenden kämpfenden Persönlichkeiten“ gemacht worden sei. „Persönlichkeiten machen die Geschichte“ (Mirtow).

Noch deutlicher bei Herrn Michailowski:

Die lebendige Persönlichkeit mit allem ihrem Trachten und allen ihren Gefühlen wird zum Handelnden der Geschichte auf eigene Gefahr. Sie, und nicht irgendeine mystische Kraft, stellt in der Geschichte die Ziele auf und lenkt die Ereignisse auf diese Ziele hin, durch eine Reihe von Hindernissen hindurch, die ihr von den Elementargewalten der Natur und der geschichtlichen Bedingungen entgegengestellt werden.“ (S. 8.)

Dieser Satz, die Geschichte werde von Persönlichkeiten gemacht, ist theoretisch völlig inhaltslos Die ganze Geschichte besteht ja aus Handlungen von Persönlichkeiten, und die Aufgabe der Gesellschaftswissenschaft besteht darin, diese Handlungen zu erklären, so dass der Hinweis auf das „Recht der Einmischung in den Gang der Ereignisse“ (Worte des Herrn Michailowski, die bei Herrn Struve, S. 8, zitiert werden) auf eine bloße Tautologie hinausläuft. Das zeigt sich besonders klar bei der letzten Tirade des Herrn Michailowski. Die lebendige Persönlichkeit, führt er aus, lenke die Ereignisse durch eine Reihe von Hindernissen hindurch, die von den Elementargewalten der geschichtlichen Bedingungen aufgerichtet werden. Worin bestehen aber diese „geschichtlichen Bedingungen“? Nach der Logik des Verfassers wiederum in den Handlungen anderer „lebendiger Persönlichkeiten“. Nicht wahr, welche tiefgründige Philosophie der Geschichte: die lebendige Persönlichkeit lenkt die Ereignisse durch eine Reihe von Hindernissen hindurch, die von anderen lebendigen Persönlichkeiten aufgerichtet werden! Und weshalb werden nun die Handlungen der einen Persönlichkeiten als elementare bezeichnet, während von den anderen gesagt wird, dass sie „die Ereignisse“ auf vorher aufgestellte Ziele „hinlenken"? Es ist klar, dass es ein schier hoffnungsloses Unterfangen wäre, hier auch nur irgendwelchen theoretischen Inhalt zu suchen. Es handelt sich nur darum, dass jene geschichtlichen Bedingungen, die unseren Subjektivisten Material für ihre „Theorie“ lieferten, antagonistische Verhältnisse darstellten (wie sie sie auch heute darstellen) und die Expropriation des Produzenten hervorriefen. Unfähig, diese antagonistischen Verhältnisse zu begreifen, unfähig, in ihnen selbst gesellschaftliche Elemente zu finden, denen sich die „allein dastehenden Persönlichkeiten“ anschließen könnten, beschränkten sich die Subjektivisten auf das Fabrizieren von Theorien, die die „allein dastehenden“ Persönlichkeiten damit trösteten, die Geschichte sei von „lebendigen Persönlichkeiten“ gemacht worden. Außer dem frommen Wunsch und dem schlechten Verstehen drückt die berühmte „subjektive Methode in der Soziologie“ rein nichts aus. Die weitere Betrachtung Herrn Michailowskis, die vom Verfasser zitiert wird, bestätigt das augenfällig.

Das europäische Leben, sagt Herr Michailowski,

entstand ebenso sinnlos und unmoralisch, wie in der Natur der Fluss fließt oder der Baum wächst. Der Fluss fließt in der Richtung des geringsten Widerstandes, spült weg, was er wegspülen kann, selbst wenn es eine Diamantengrube ist, und umgeht dasjenige, was er nicht wegspülen kann, auch wenn es ein Misthaufen ist. Die Schleusen, Dämme, Zuführungs- und Ableitungskanäle werden durch die Initiative des menschlichen Verstandes und des menschlichen Gefühls hergestellt. Dieser Verstand und dieses Gefühl waren, kann man sagen, bei der Entstehung der modernen ökonomischen Ordnung in Europa nicht dabei (? P. S.). Sie befanden sich im Keimzustand, und ihre Einwirkung auf den natürlichen, elementaren Gang der Dinge war ganz geringfügig.“. (S. 9.)

Herr Struve macht ein Fragezeichen, und wir verstehen nicht, warum er es nur bei einem Wort gemacht hat und nicht bei allen Worten: dermaßen inhaltslos ist diese ganze Tirade! Was ist das für Unsinn, zu sagen, Verstand und Gefühl seien bei der Entstehung des Kapitalismus nicht dabei gewesen? Ja, worin besteht denn der Kapitalismus, wenn nicht in gewissen Verhältnissen zwischen den Menschen; Menschen aber, die keinen Verstand und kein Gefühl haben, kennen wir noch nicht. Und was ist das für eine Irreführung, zu behaupten, dass die Einwirkung des Verstandes und des Gefühls der damaligen „lebendigen Persönlichkeiten“ auf den „Gang der Dinge“ „ganz geringfügig“ gewesen sei? Ganz im Gegenteil. Die Menschen errichteten damals bei gesundem Verstand und gutem Gedächtnis überaus kunstvolle Schleusen und Dämme, die den widerstrebenden Bauern in das Flussbett der kapitalistischen Ausbeutung trieben; sie schufen außerordentlich schlau angelegte Zuführungskanäle von politischen und finanziellen Maßnahmen, in welche Kanäle sich die kapitalistische Akkumulation und die kapitalistische Expropriation ergossen, die sich mit der Wirkung der wirtschaftlichen Gesetze allein nicht begnügten. Mit einem Wort, alle diese Erklärungen Herrn Michailowskis sind so ungeheuerlich falsch, dass sie sich durch bloße theoretische Fehler nicht erklären lassen. Sie erklären sich völlig durch den Spießbürgerstandpunkt, auf dem dieser Schriftsteller steht. Der Kapitalismus hat seine Tendenzen bereits völlig klar offenbart, er hat den ihm eigenen Antagonismus in vollem Ausmaße entwickelt, der Widerspruch der Interessen beginnt bereits bestimmte Formen anzunehmen und widerspiegelt sich sogar in der russischen Gesetzgebung; der Kleinproduzent jedoch steht abseits von diesem Kampf. Er ist mit seiner Zwergwirtschaft noch an die alte bürgerliche Gesellschaft gefesselt und deshalb, da er von der kapitalistischen Ordnung unterdrückt wird, nicht imstande, die wahren Ursachen seiner Unterdrückung zu begreifen. So fährt er fort, sich mit der Illusion zu trösten, das ganze Übel rühre davon her, dass sich der Verstand und das Gefühl der Menschen noch „im Keimzustand“ befinden.

Natürlich“ – fährt der Ideologe dieses Kleinbürgers fort – „suchten die Menschen stets den Gang der Dinge so oder anders zu beeinflussen.“

Der „Gang der Dinge“ besteht ja eben in Handlungen und „Einflüssen“ der Menschen und in nichts anderem, so dass dies wiederum eine hohle Phrase ist.„Doch ließen sie sich dabei durch die Fingerzeige einer sehr spärlichen Erfahrung und von den gröbsten Interessen leiten, und es ist verständlich, dass diese Fingerzeige sie nur äußerst selten zufällig auf den Weg bringen konnten, der von der modernen Wissenschaft und den modernen sittlichen Ideen gewiesen wird.“ (S. 9.)

Eine Spießbürgermoral, die die „Grobheit der Interessen“ verurteilt, weil sie unfähig ist, ihre „Ideale“ mit irgendwelchen alltäglichen Interessen in Verbindung zu bringen; ein spießbürgerliches Schließen der Augen vor der bereits vollzogenen Spaltung, die sich sowohl in der modernen Wissenschaft als auch in den modernen sittlichen Ideen krass auswirkt.

Es versteht sich, dass alle diese Eigenschaften der Betrachtungen des Herrn Michailowski auch dann unverändert bleiben, wenn er zu Russland übergeht. Er „begrüßt von ganzem Herzen“ das ebenso wunderliche Gefasel eines gewissen Herrn Jakowlew, dass Russland eine tabula rasa sei, dass es von vorne beginnen, die Fehler anderer Länder vermeiden könne usw. usw. Und all das wird geäußert im vollen Bewusstsein dessen, dass sich auf dieser tabula rasa die Vertreter der „altadeligen“ Ordnung mit ihrem großen Grundeigentum und ihren gewaltigen politischen Privilegien noch sehr fest halten und dass auf ihr der Kapitalismus mit seinen „Fortschritten“ aller Art rasch wächst. Der Kleinbürger schließt vor diesen Tatsachen feige die Augen und entschwebt ins Reich der holden Träume, dass „wir jetzt zu leben beginnen, wo die Wissenschaft bereits über einige Wahrheiten wie über eine gewisse Autorität verfügt“.

Somit geht schon aus jenem Betrachtungen des Herrn Michailowski, die bei Struve zitiert werden, die klassenmäßige Herkunft der soziologischen Ideen des Narodnikitums hervor.

Eine Bemerkung Herrn Struves gegen Herrn Michailowski können wir nicht unwidersprochen lassen.

Nach seiner Ansicht“ – sagt der Verfasser – „gibt es keine unüberwindlichen geschichtlichen Tendenzen, die als solche einerseits als Ausgangspunkt, anderseits als verpflichtende Grenzen für die zweckmäßige Tätigkeit der Persönlichkeit und der gesellschaftlichen Gruppen dienen müssen.“ (S. 11.)

Das ist die Sprache eines Objektivisten, nicht aber eines Marxisten (Materialisten). Zwischen diesen Begriffen (Systemen von Anschauungen) gibt es einen Unterschied, bei dem man verweilen muss, weil eine nicht völlige Klarstellung dieses Unterschiedes ein Hauptmangel des Buches des Herrn Struve ist und in der Mehrzahl seiner Betrachtungen zum Vorschein kommt. Der Objektivist spricht von der Notwendigkeit des gegebenen historischen Prozesses; der Materialist stellt die gegebene ökonomische Gesellschaftsformation und die von ihr erzeugten antagonistischen Verhältnisse genau fest. Der Objektivist läuft, wenn er die Notwendigkeit einer gegebenen Reihe von Tatsachen nachweist, stets Gefahr, auf den Standpunkt eines Apologeten dieser Tatsachen zu geraten; der Materialist enthüllt die Klassengegensätze und bestimmt damit seinen Standpunkt. Der Objektivist spricht von „unüberwindlichen geschichtlichen Tendenzen“; der Materialist spricht von jener Klasse, die die gegebene Wirtschaftsordnung „leitet“, wobei sie diese und jene Formen des Entgegenwirkens der anderen Klassen erzeugt. Auf diese Weise ist der Materialist einerseits folgerichtiger als der Objektivist und führt seinen Objektivismus tiefgehender und vollständiger durch. Er begnügt sich nicht mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit des Prozesses, sondern stellt klar, welche ökonomische Gesellschaftsformation namentlich diesem Prozess seinen Inhalt gibt, welche Klasse namentlich diese Notwendigkeit bestimmt. Im gegebenen Fall z. B. würde sich der Materialist nicht mit dem Feststellen von „unüberwindlichen geschichtlichen Tendenzen“ zufrieden geben, sondern auf das Vorhandensein gewisser Klassen hinweisen, die den Inhalt der gegebenen Zustände bestimmen und eine andere Möglichkeit eines Ausweges als die Aktion der Produzenten selbst ausschließen. Anderseits schließt der Materialismus sozusagen die Parteimäßigkeit in sich ein, da er verpflichtet, bei jeder Bewertung eines Ereignisses direkt und offen auf den Standpunkt einer bestimmten Gesellschaftsgruppe zu treten.C

Von Herrn Michailowski geht der Verfasser zu Herrn Juschakow über, der an sich nichts Selbständiges und Interessantes darstellt. Herr Struve äußert sich über seine soziologischen Betrachtungen mit vollem Recht dahin, es seien „pompöse Worte“, „bar jeglichen Inhalts“. Es lohnt, bei dem (für das Narodnikitum überhaupt) überaus kennzeichnenden Unterschied zwischen Herrn Juschakow und Herrn Michailowski zu verweilen. Herr Struve vermerkt diesen Unterschied, indem er Herrn Juschakow als „Nationalisten“ bezeichnet, während Herr Michailowski „jeglicher Nationalismus stets völlig fremd gewesen“ sei und für ihn, nach seinen eigenen Worten, „die Frage der Volkswahrheit nicht nur das russische Volk, sondern das ganze werktätige Volk der ganzen zivilisierten Welt umfasst“. Mir scheint, dass hinter diesem Unterschied die Widerspiegelung der zwiespältigen Lage des Kleinproduzenten durchblickt, der ein fortschrittliches Element ist, insofern er, nach dem ungewollt gelungenen Ausdruck des Herrn Juschakow, beginnt, „sich von der Gesellschaft zu differenzieren“, und ein reaktionäres Element, insofern er für die Aufrechterhaltung seiner Stellung als Kleinunternehmer kämpft und die ökonomische Entwicklung aufzuhalten versucht. Deshalb vermag ja auch das russische Narodnikitum die fortschrittlichen, demokratischen Züge seiner Lehre mit reaktionären zu vereinen, die die Sympathie der „Moskowskije Wjedomosti“ hervorrufen. Was diese letztgenannten betrifft, so könnten sie wohl schwerlich plastischer hervorgehoben werden, als dies Herr Juschakow in der folgenden Tirade getan hat, die bei Herrn Struve angeführt wird:

Nur die Bauernschaft war stets und überall der Träger der reinen Idee der Arbeit. Die gleiche Idee scheint von dem sogenannten vierten Stand, dem städtischen Proletariat, in die Arena der modernen Geschichte getragen zu sein, doch die Veränderungen, die ihr Wesen erlitten hat, sind dabei so bedeutend, dass der Bauer in ihr kaum die gewöhnliche Grundlage seines Daseins erkennen würde. Recht auf Arbeit, nicht aber die heilige Pflicht zur Arbeit, die Pflicht, im Schweiße seines Angesichts sein Brot zu erwerben“ (das also verbarg sich hinter der „reinen Idee der Arbeit“! Die reine Leibeigenschaftsidee von der „Pflicht“ des Bauern, sein Brot zu erwerben… um seine Abgabepflichten zu erfüllen? Von dieser „heiligen“ Pflicht wird zu dem von ihr bedrückten und erdrückten Arbeitstier gesprochen!!D); „ferner die Heraussonderung der Arbeit und ihre Entlohnung, diese ganze Agitation für gerechte Entlohnung der Arbeit, als ob nicht die Arbeit selbst durch ihre Früchte diese Entlohnung gewährte“ („Was ist das?“, fragt Herr Struve, „sancta simplicitas2 oder etwas anderes?“ Etwas Schlimmeres; es ist eine Apotheose der Fügsamkeit des an die Scholle gefesselten Landarbeiters, der gewohnt ist, für andere fast umsonst zu arbeiten); „die Differenzierung der Arbeit vom Leben und ihre Verwandlung in irgendeine abstrakte (?! P. S.) Kategorie, die durch soundso viele in der Fabrik verbrachte Stunden dargestellt wird und keine andere (?! P. S.) Beziehung, keinen Zusammenhang mit den alltäglichen Interessen des Arbeiters besitzt" (eine rein spießbürgerliche Feigheit des Kleinproduzenten, der unter der modernen kapitalistischen Organisation manchmal sehr zu leiden hat, der jedoch mehr als alles andere in der Welt eine ernsthafte Bewegung gegen diese Organisation fürchtet von Seiten der Elemente, die sich von jeglichem Zusammenhang mit ihr endgültig „differenziert haben"); „endlich das Fehlen der Sesshaftigkeit, des durch Arbeit geschaffenen häuslichen Herdes, die Veränderlichkeit des Arbeitsfeldes – all das ist der Idee der bäuerlichen Arbeit vollkommen fremd. Der durch Arbeit erhaltene, von Vätern und Vorvätern vermachte Herd, die Arbeit, deren Interessen sein ganzes Leben durchdringen und die seine Moral gestaltet, die Liebe zu der mit dem Schweiß vieler Generationen getränkten Scholle – alles das, was das untrennbare Unterscheidungsmerkmal des bäuerlichen Daseins bildet, ist dem Arbeiterproletariat völlig unbekannt, und während deshalb das Leben des Proletariats, obwohl es ein werktätiges Leben ist, auf der bürgerlichen (individualistischen und sich auf das Prinzip des erworbenen Rechts stützenden) Moral, im besten Fall auf einer abstrakt-philosophischen Moral beruht, liegen der bäuerlichen Moral eben die Arbeit, ihre Logik und ihre Erfordernisse zugrunde." (S. 18.)

Hier treten bereits in reiner Form die reaktionären Züge des Kleinproduzenten hervor, seine Niedergedrücktheit, die ihn zwingt, daran zu glauben, dass ihm auf ewige Zeiten die „heilige Pflicht“ beschieden sei, ein Arbeitstier zu sein; seine „von den Vätern und Vorvätern vermachte“ Servilität; seine Anhänglichkeit an die zwerghafte Einzelwirtschaft, die zu verlieren er sich so sehr fürchtet, dass er sogar auf jeden Gedanken an eine „gerechte Entlohnung“ verzichtet und als Feind jeder „Agitation“ auftritt, und die ihn infolge der geringen Produktivität der Arbeit und der Gebundenheit des Werktätigen an eine Stelle zu einem Wilden macht und schon kraft der wirtschaftlichen Bedingungen allein notwendigerweise seine Niedergedrücktheit und seine Servilität erzeugt. Die Zerstörung dieser reaktionären Züge muss unserer Bourgeoisie unbedingt als Verdienst angerechnet werden; ihre progressive Tätigkeit besteht gerade darin, dass sie alle Bindungen des Werktätigen an die Leibeigenschaftszustände, an die Leibeigenschaftstraditionen zerrissen hat. Die mittelalterlichen Formen der Ausbeutung, die durch die persönlichen Beziehungen des Herrn zu seinem Hintersassen, des örtlichen Großbauern und Aufkäufers zu den örtlichen Bauern und Hausgewerbetreibenden, des patriarchalischen „schlichten und bärtigen Millionärs" zu seinen „Jungens“ verdeckt waren und die infolgedessen ultrareaktionäre Ideen erzeugten – diese mittelalterlichen Formen ersetzte die Bourgeoisie und ersetzt sie weiter durch die Ausbeutung durch den „europäisch-hemmungslosen Unternehmer“, die unpersönliche, nackte, durch nichts verdeckte und schon dadurch die unsinnigen Illusionen und Träume zerstörende Ausbeutung. Sie hat das frühere abgesonderte Leben (die „Sesshaftigkeit“) des Bauern, der nichts anderes kennen wollte, und auch nicht kennen konnte, als sein Stückchen Land, zerstört, und dadurch, dass sie die Arbeit vergesellschaftete und ihre Produktivität außerordentlich hob, ist sie darangegangen, den Produzenten mit Gewalt in die Arena des gesellschaftlichen Lebens zu stoßen.

Herr Struve sagt anlässlich dieser Betrachtung des Herrn Juschakow: „Herr Juschakow dokumentiert somit mit völliger Klarheit die slawophilen Wurzeln des Narodnikitums“ (S. 18), und weiter unten, wo er die Resultate seiner Darstellung der soziologischen Ideen des Narodnikitums zusammenfasst, fügt er hinzu, dass der Glaube an die „Eigenart der Entwicklung Russlands“ den „geschichtlichen Zusammenhang zwischen dem Slawophilentum und dem Narodnikitum“ bilde und dass der Streit der Marxisten mit den Narodniki deshalb die „natürliche Fortsetzung der Differenzen zwischen Slawophilentum und Westlertum“ sei (S. 29). Diese letzte Behauptung bedarf, wie mir scheint, einer Einschränkung. Es ist unbestreitbar, dass sich die Narodniki eines hausbackenen Patriotismus allerletzter Sorte schuldig machen (Herr Juschakow z. B.). Unbestreitbar ist auch, dass die Ignorierung der soziologischen Methode von Marx und seiner Stellung der Fragen, die die unmittelbaren Produzenten betreffen, bei jenen Russen, die die Interessen dieser unmittelbaren Produzenten vertreten wollen, gleichbedeutend ist mit völliger Entfremdung gegenüber der westlichen „Zivilisation“. Doch das Wesen des Narodnikitums liegt tiefer: nicht in der Lehre von der Eigenart und nicht im Slawophilentum, sondern in der Vertretung der Interessen und der Ideen des russischen Kleinproduzenten. Deshalb gab es denn auch unter den Narodniki Schriftsteller (und das waren die besten der Narodniki), die, wie auch Herr Struve zugegeben hat, mit dem Slawophilentum nichts gemein hatten und sogar zugaben, dass Russland denselben Weg wie Westeuropa betreten hat. Mit Hilfe solcher Kategorien wie Slawophilentum und Westlertum kann man sich in den Fragen des russischen Narodnikitums keineswegs zurechtfinden. Das Narodnikitum widerspiegelte eine Tatsache des russischen Lebens, die in jener Epoche, als sich das Slawophilentum und das Westlertum bildeten, noch fast ganz fehlte, und zwar den Interessengegensatz zwischen Arbeit und Kapital. Es widerspiegelte diese Tatsache durch das Prisma der Lebensbedingungen und Interessen des Kleinproduzenten, widerspiegelte sie deshalb entstellt, feige, indem es eine Theorie schuf, die nicht die Widersprüche der gesellschaftlichen Interessen, sondern fruchtlose Hoffnungen auf einen anderen Entwicklungsweg in den Vordergrund stellte, sind es ist unsere Aufgabe, diesen Fehler des Narodnikitums zu verbessern und zu zeigen, welche Gesellschaftsgruppe der tatsächliche Vertreter der Interessen der unmittelbaren Produzenten sein kann.

Gehen wir jetzt zum zweiten Kapitel des Buches des Herrn Struve über.

Der Plan der Darstellung ist beim Verfasser der folgende: zuerst führt er jene allgemeinen Erwägungen an, die dazu zwingen, den Materialismus als die einzig richtige Methode der Gesellschaftswissenschaft zu betrachten; dann legt er die Anschauungen von Marx und Engels dar, und schließlich wendet er die erhaltenen Schlussfolgerungen auf einige Erscheinungen des russischen Lebens an. Infolge der besonderen Wichtigkeit des Gegenstandes dieses Kapitels wollen wir versuchen, seinen Inhalt ausführlicher zu behandeln, wobei wir alle jene Punkte vermerken, die eine Einwendung hervorrufen.

Der Verfasser beginnt mit dem vollkommen gerechtfertigten Hinweis darauf, dass die Theorie, die den gesellschaftlichen Prozess auf Handlungen „lebendiger Persönlichkeiten“, die „sich Ziele stellen“ und „die Ereignisse in Bewegung setzen“, zurückführt, das Resultat eines Missverständnisses ist. Niemand hat natürlich jemals auch nur daran gedacht, „einer sozialen Gruppe eine selbständige, von den Persönlichkeiten, die sie bilden, unabhängige Existenz“ zuzuschreiben (S. 31), aber es handelt sich darum, dass „die Persönlichkeit als konkrete Individualität die Resultante aller früheren und aller zeitgenössischen Persönlichkeiten, d. h. einer sozialen Gruppe, ist“ (S. 31). Erläutern wir den Gedanken des Verfassers. Die Geschichte wird – meint Herr Michailowski – von der „lebendigen Persönlichkeit mit allen ihren Gedanken und Gefühlen“ gemacht. Ganz richtig. Doch wodurch werden diese „Gedanken und Gefühle“ bestimmt? Kann man ernsthaft die Ansicht vertreten, dass sie zufällig eintreten, nicht aber mit Notwendigkeit der gegebenen gesellschaftlichen Umwelt entspringen, die als Material, als Objekt des geistigen Lebens der Persönlichkeit dient und sich in deren „Gedanken und Gefühlen“ von der positiven oder negativen Seite, in der Vertretung der Interessen dieser oder jener Gesellschaftsklasse widerspiegelt? Und ferner: nach welchen Merkmalen haben wir die realen „Gedanken und Gefühle“ der realen Persönlichkeiten zu beurteilen? Es versteht sich, dass es nur ein solches Merkmal geben kann: die Handlungen dieser Persönlichkeiten. Und da nur von den gesellschaftlichen „Gedanken und Gefühlen“ die Rede ist, so muss man noch hinzufügen: die gesellschaftlichen Handlungen der Persönlichkeiten, d. h. die sozialen Tatsachen.

Wenn wir die soziale Gruppe von der Persönlichkeit absondern“ – schreibt Herr Struve –, „verstehen wir unter der erstgenannten alle jene vielgestaltigen Wechselwirkungen zwischen den Persönlichkeiten, die auf dem Boden des sozialen Lebens entstehen und sich in den Gewohnheiten und im Recht, in den Sitten und in der Moral sowie in den religiösen Vorstellungen objektivieren.“ (S. 32.)

Mit anderen Worten: der materialistische Soziologe, der bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse der Menschen zum Gegenstand seines Studiums macht, studiert damit bereits auch die realen Persönlichkeiten, aus deren Handlungen sich diese Verhältnisse eben zusammensetzen. Der subjektivistische Soziologe, der sein Nachdenken angeblich mit den „lebendigen Persönlichkeiten“ beginnt, beginnt in Wirklichkeit damit, dass er in diese Persönlichkeiten solche „Gedanken und Gefühle“ hineinlegt, die er als rational betrachtet (weil er sich dadurch, dass er seine „Persönlichkeiten“ von der konkreten gesellschaftlichen Lage isoliert, die Möglichkeit genommen hat, ihre tatsächlichen Gedanken und Gefühle zu studieren), d. h. „er beginnt mit der Utopie“, wie das Herr Michailowski auch zugeben musste.E Da aber ferner die eigenen Vorstellungen dieses Soziologen vom Rationalen selbst (unbewusst für ihn selbst) die gegebene soziale Umwelt widerspiegeln, so bringen endgültige Schlussfolgerungen aus seinen Betrachtungen, die sich ihm als „reinstes“ Produkt der „modernen Wissenschaft und der modernen sittlichen Ideen“ darstellen, in Wirklichkeit nur den Standpunkt und die Interessen … des Spießbürgertums zum Ausdruck.

Dieser letzte Punkt, d. h. der Umstand, dass die besondere soziologische Theorie von der Rolle der Persönlichkeit oder von der subjektiven Methode an die Stelle der kritischen materialistischen Forschung eine Utopie setzt, ist besonders wichtig. Und da Herr Struve ihn übergangen hat, lohnt es sich, etwas bei ihm zu verweilen. Nehmen wir zur Illustrierung die landläufige Beurteilung des Hausgewerbetreibenden durch die Narodniki. Der Narodnik beschreibt die erbärmliche Lage dieses Hausgewerbetreibenden, die Armseligkeit seiner Produktion, seine schamlose Ausbeutung durch den Aufkäufer, der den Löwenanteil des Produkts in seine Tasche steckt und dem Produzenten für einen sechzehn- bis achtzehnstündigen Arbeitstag nur Groschen überlässt, und er zieht den Schluss: das erbärmliche Niveau der Produktion und die Ausbeutung der Arbeit des Hausgewerbetreibenden sind die schlechten Seiten der vorhandenen Zustände. Doch der Hausgewerbetreibende ist kein Lohnarbeiter; das ist die gute Seite. Man muss die gute Seite beibehalten und die schlechte vernichten und zu diesem Zweck ein Artel der Hausgewerbetreibenden bilden. Das ist der in sich abgeschlossene Gedankengang der Narodniki.

Der Marxist urteilt anders. Die Bekanntschaft mit der Lage des Gewerbes weckt in ihm außer der Frage, ob dies gut oder schlecht sei, noch die Frage, wie die Organisation dieses Gewerbes ist, d. h. wie und weshalb sich die Verhältnisse zwischen den Hausgewerbetreibenden bei der Erzeugung des gegebenen Produkts gerade so und nicht anders herausbilden. Und er sieht, dass diese Organisation die Warenproduktion ist, d. h. die Produktion isolierter Produzenten, die miteinander durch den Markt verbunden sind. Das Produkt des einzelnen Produzenten, das für fremden Verbrauch bestimmt ist, kann erst dann bis zum Verbraucher gelangen und dem Produzenten das Recht auf Erhalt eines anderen gesellschaftlichen Produkts geben, nachdem es die Form des Geldes angenommen hat, d. h. nachdem es zuerst sowohl auf seine Qualität als auch auf seine Quantität hin der gesellschaftlichen Kontrolle unterzogen worden ist. Diese Kontrolle wird aber hinter dem Rücken des Produzenten, durch die Schwankungen auf dem Markt vorgenommen. Diese dem Produzenten unbekannten und von ihm unabhängigen Schwankungen des Marktes müssen zwangsläufig eine Ungleichheit zwischen den Produzenten erzeugen und diese Ungleichheit dadurch verschärfen, dass sie die einen ruinieren und den anderen Geld = Produkt der gesellschaftlichen Arbeit in die Hand geben. Daraus wird auch der Grund der Macht des Geldbesitzers, des Aufkäufers, klar: er besteht darin, dass unter den Hausgewerbetreibenden, die von einem Tage auf den anderen, höchstens von einer Woche auf die andere leben, er allein Geld, d. i. das Produkt der früheren gesellschaftlichen Arbeit, besitzt, das in seinen Händen eben zu Kapital, zum Mittel der Aneignung des Mehrproduktes der anderen Hausgewerbetreibenden wird. Deshalb sind, folgert der Marxist, bei einer derartigen Organisation der gesellschaftlichen Wirtschaft die Expropriation des Produzenten und seine Ausbeutung durchaus unvermeidlich und die Unterordnung der Besitzlosen unter die Besitzenden sowie jene Gegensätzlichkeit ihrer Interessen, die dem wissenschaftlichen Begriff des Klassenkampfes seinen Inhalt verleiht, durchaus notwendig. Folglich erfordert das Interesse des Produzenten keineswegs die Aussöhnung dieser einander entgegengesetzten Elemente, sondern im Gegenteil die Entwicklung des Gegensatzes, die Entwicklung der Erkenntnis dieses Gegensatzes. Wir sehen, dass das Wachstum der Warenwirtschaft auch bei uns in Russland zu einer solchen Entwicklung des Gegensatzes führt: im Maße der Vergrößerung des Marktes und der Erweiterung der Produktion wird das Handelskapital zu Industriekapital. Die maschinelle Industrie, die die zersplitterte Kleinproduktion endgültig zerstört (sie ist vom Aufkäufer bereits in den Wurzeln untergraben), vergesellschaftet die Arbeit. Das System der Plusmacherei, das im Hausgewerbe durch eine scheinbare Selbständigkeit des Hausgewerbetreibenden und eine scheinbare Zufälligkeit der Macht des Aufkäufers verhüllt ist, wird jetzt klar und ist durch nichts verhüllt. Die „Arbeit“, die sich auch in dem Hausgewerbe nur dadurch am „Leben“ beteiligte, dass sie den Aufkäufern das Mehrprodukt schenkte, „differenziert sich“ jetzt endgültig „vom Leben“ der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Gesellschaft stößt sie ganz offen von sich weg, indem sie das ihr zugrunde liegende Prinzip ganz ausspricht, dass der Produzent nur dann die Mittel zum Leben erhalten kann, wenn er einen Geldbesitzer findet, der so gütig ist, sich das Mehrprodukt seiner Arbeit anzueignen, – und so wird das, was der Hausgewerbetreibende (und sein Ideologe, der Narodnik) nicht begreifen konnte, nämlich der tiefgehende, klassenmäßige Charakter des obengenannten Gegensatzes, dem Produzenten von selbst klar. Eben deshalb können die Interessen des Hausgewerbetreibenden nur von diesem vorgeschrittenen Produzenten vertreten werden.

Vergleichen wir nun diese Betrachtungen auf ihre soziologische Methode hin.

Der Narodnik versichert, er sei ein Realist. „Die Geschichte wird von lebendigen Persönlichkeiten gemacht“, und ich gehe, meint er, von den „Gefühlen“ des Hausgewerbetreibenden, der sich der gegenwärtigen Ordnung gegenüber ablehnend verhält, und von seinen Gedanken über die Errichtung einer besseren Ordnung aus, während der Marxist von irgendeiner Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit spricht; er ist ein Mystiker und Metaphysiker.

In der Tat, antwortet dieser Mystiker, die Geschichte wird von „lebendigen Persönlichkeiten“ gemacht, und ich habe bei der Untersuchung der Frage, weshalb sich die gesellschaftlichen Verhältnisse in dem Hausgewerbe so und nicht anders gestaltet haben (ihr habt diese Frage nicht einmal gestellt!), gerade die Frage untersucht, wie die „lebendigen Persönlichkeiten“ ihre Geschichte gemacht haben und weiterhin machen. Und ich hatte ein zuverlässiges Kriterium dessen zur Hand, dass ich es mit „lebendigen“, wirklichen Persönlichkeiten, mit wirklichen Gedanken und Gefühlen zu tun habe: dieses Kriterium bestand darin, dass sich bei ihnen die „Gedanken und Gefühle“ bereits in Handlungen ausgedrückt und bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse geschaffen haben. Ich spreche allerdings niemals davon, dass „die Geschichte von lebendigen Persönlichkeiten gemacht wird“ (weil mir dies eine hohle Phrase zu sein scheint), aber ich untersuche bei der Erforschung der tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer tatsächlichen Entwicklung gerade das Produkt der Tätigkeit lebendiger Persönlichkeiten. Ihr aber sprecht da etwas von „lebendigen Persönlichkeiten“, doch nehmt ihr als Ausgangspunkt in Wirklichkeit nicht die „lebendige Persönlichkeit“ mit jenen „Gedanken“ und „Gefühlen“, wie sie durch ihre Lebensbedingungen, durch das gegebene System der Produktionsverhältnisse tatsächlich erzeugt werden, sondern ihr nehmt eine Puppe und stopft ihren Kopf mit euren eigenen „Gedanken und Gefühlen“. Es versteht sich, dass sich aus einer derartigen Beschäftigung nur harmlose Träumereien ergeben; das Leben geht an euch vorbei, während ihr abseits vom Leben steht.F Ja damit nicht genug: schaut doch, womit ihr dieser Puppe den Kopf stopft und welche Maßnahmen ihr propagiert! Wenn ihr den Werktätigen das Artel als den „Weg, der von der modernen Wissenschaft und den modernen sittlichen Ideen gewiesen wird“, empfehlt, habt ihr einen ganz kleinen Umstand nicht in Berücksichtigung gezogen: die gesamte Organisation unserer gesellschaftlichen Wirtschaft. Da ihr nicht begreift, dass dies eine kapitalistische Wirtschaft ist, habt ihr nicht bemerkt, dass auf diesem Boden alle nur möglichen Genossenschaften winzige Palliativmittel bleiben werden, die weder die Konzentration der Produktionsmittel, darunter auch des Geldes, in den Händen einer Minderheit (diese Konzentration ist eine unbestreitbare Tatsache) noch die völlige Verelendung der gewaltigen Masse der Bevölkerung auch nur im Geringsten beseitigen – Palliativmittel, die im besten Falle nur eine Handvoll einzelner Hausgewerbetreibender in die Reihen des Kleinbürgertums emporheben werden. Aus einem Ideologen des Werktätigen werden Sie zum Ideologen des Kleinbürgertums.

Kehren wir jedoch zu Herrn Struve zurück. Nachdem er auf die Inhaltslosigkeit der Betrachtungen der Narodniki über die „Persönlichkeit“ hingewiesen hat, fährt er fort:

Dass die Soziologie in der Tat stets danach trachtet, die Elemente der Individualität auf soziale Quellen zurückzuführen, davon überzeugt ein beliebiger Versuch, diesen oder jenen wichtigeren Moment der geschichtlichen Evolution zu erklären. Kommt man aber auf die ,historische Persönlichkeit', den ,hervorragenden Menschen' zu sprechen, so zeigt sich stets das Bestreben, ihn als ,Träger' des Geistes einer gewissen Epoche, als Vertreter seiner Zeit hinzustellen, seine Handlungen, seine Erfolge und Misserfolge als notwendige Ergebnisse des ganzen vorhergegangenen Verlaufs der Dinge darzustellen.“ (S. 32.)

Diese allgemeine Tendenz jedes Versuchs, die sozialen Erscheinungen zu erklären, d. h. eine Gesellschaftswissenschaft zu schaffen,

fand ihren klaren Ausdruck in der Lehre vom Klassenkampf als dem grundlegenden Prozess der gesellschaftlichen Evolution. War die Persönlichkeit einmal aus der Rechnung gestrichen, so musste ein anderes Element gefunden werden. Als ein solches Element erwies sich die soziale Gruppe.“ (S. 33.)

Herr Struve hat vollkommen recht, wenn er darauf hinweist, dass die Theorie des Klassenkampfes dem allgemeinen Streben der Soziologie, die „Elemente der Individualität auf soziale Quellen“ zurückzuführen, sozusagen die Krone aufsetzt. Nicht genug damit: die Theorie des Klassenkampfes macht zum ersten Mal dieses Bestreben mit einer solchen Vollständigkeit und Folgerichtigkeit geltend, dass sie die Soziologie auf die Stufe einer Wissenschaft hebt. Erreicht wurde dies durch die materialistische Bestimmung des Begriffs „Gruppe“. Dieser Begriff ist an sich noch allzu unbestimmt und willkürlich: das Kriterium der Unterscheidung der „Gruppen“ kann man in den religiösen, ethnographischen, politischen, juristischen und ähnlichen Erscheinungen erblicken. Es gibt kein sicheres Merkmal, nach welchem man auf jedem dieser Gebiete diese oder jene „Gruppen“ unterscheiden könnte. Die Theorie des Klassenkampfes aber stellt gerade deshalb eine gewaltige Errungenschaft der Gesellschaftswissenschaft dar, weil sie die Methoden dieser Zurückführung des Individuellen auf das Soziale mit völliger Genauigkeit und Bestimmtheit festlegt. Erstens hat diese Theorie den Begriff der ökonomischen Gesellschaftsformation herausgearbeitet. Ausgehend von der für jegliches menschliche Zusammenleben ausschlaggebenden Tatsache – der Art und Weise der Gewinnung der Existenzmittel, brachte sie dieselbe mit jenen Verhältnissen der Menschen zueinander in Zusammenhang, die sich unter dem Einfluss der gegebenen Art und Weise der Gewinnung der Existenzmittel herausbilden, und zeigte im System dieser Verhältnisse („Produktionsverhältnisse“, nach der Terminologie von Marx) die Grundlage der Gesellschaft auf, die von politisch-juristischen Formen und gewissen Strömungen des gesellschaftlichen Denkens umkleidet ist. Ein jedes solches System der Produktionsverhältnisse bildet nach der Theorie von Marx einen besonderen sozialen Organismus, der besondere Gesetze seiner Entstehung, seines Funktionieren und seines Übergangs in eine höhere Form, der Verwandlung in einen anderen sozialen Organismus besitzt. Durch diese Theorie wurde auf die Sozialwissenschaft jenes objektive, allgemein wissenschaftliche Kriterium der Wiederholung angewandt, dessen Anwendungsmöglichkeit in der Soziologie die Subjektivisten bestritten hatten. Sie urteilten nämlich so, dass man die sozialen Erscheinungen infolge ihrer gewaltigen Kompliziertheit und Mannigfaltigkeit nicht erforschen könne, ohne die wichtigen von den unwichtigen geschieden zu haben, für eine derartige Trennung sei aber der Standpunkt der „kritisch denkenden“ und „moralisch entwickelten“ Persönlichkeit notwendig, und so gelangten sie glücklich zur Verwandlung der Gesellschaftswissenschaft in eine Reihe von Ermahnungen einer Spießbürgermoral. Muster davon haben wir bei Herrn Michailowski gesehen, der über die Unzweckmäßigkeit der Geschichte und über den „vom Lichte der Wissenschaft“ beleuchteten Weg philosophierte. Eben diesen Betrachtungen wurde durch die Theorie von Marx die Wurzel abgeschnitten. An die Stelle des Unterschieds zwischen Wichtigem und Unwichtigem wurde der Unterschied zwischen der ökonomischen Struktur der Gesellschaft, als dem Inhalt, und der politischen und ideellen Form gesetzt: der Begriff der ökonomischen Struktur selbst wurde genau erklärt durch die Widerlegung der Ansicht der früheren Ökonomen. die dort Naturgesetze sahen, wo es sich nur um Gesetze eines besonderen, historisch bestimmten Systems der Produktionsverhältnisse handeln kann. An die Stelle der Betrachtungen der Subjektivisten über die „Gesellschaft“ schlechthin, an die Stelle dieser inhaltslosen Betrachtungen, die über Spießbürgerutopien nicht hinausgingen (denn es wurde nicht einmal die Möglichkeit der Verallgemeinerung der verschiedensten sozialen Ordnungen in besondere Arten von sozialen Organismen klargestellt), wurde die Erforschung bestimmter Formen der Einrichtung der Gesellschaft gestellt. Zweitens wurden die Handlungen der „lebendigen Persönlichkeiten“ in den Grenzen jeder solchen ökonomischen Gesellschaftsformation – Handlungen, die unendlich mannigfaltig sind und keine Systematisierung zu dulden schienen – verallgemeinert und auf die Handlungen von Gruppen von Persönlichkeiten zurückgeführt, die sich voneinander unterschieden durch die Rolle, die sie im System der Produktionsverhältnisse spielten, durch die Produktionsbedingungen und folglich auch die Bedingungen ihrer Lebenslage, durch jene Interessen, die von dieser Lage bestimmt wurden. Mit einem Wort, die Handlungen der Persönlichkeiten wurden auf die Handlungen von Klassen zurückgeführt, durch deren Kampf die gesellschaftliche Entwicklung bestimmt wurde. Damit war die kindlich-naive, rein mechanische Geschichtsauffassung der Subjektivisten widerlegt, die sich mit dem nichtssagenden Satz begnügten, dass die Geschichte von lebendigen Persönlichkeiten gemacht werde, und nicht untersuchen wollten, durch welche soziale Situation und auf welche Weise die Handlungen dieser Persönlichkeiten bedingt werden. An die Stelle des Subjektivismus wurde die Betrachtung des sozialen Prozesses als eines naturgeschichtlichen Prozesses gestellt, eine Anschauung, ohne die es natürlich keine Gesellschaftswissenschaft geben könnte. Herr Struve bemerkt sehr richtig, dass „das Ignorieren der Persönlichkeit in der Soziologie oder, richtiger, ihre Entfernung aus der Soziologie im Grunde genommen ein Spezialfall des Strebens nach wissenschaftlicher Erkenntnis ist“ (S. 33), dass „Individualitäten“ nicht nur in der geistigen, sondern auch in der physischen Welt bestehen. Die ganze Sache ist die, dass die Unterordnung der „Individualitäten“ unter bestimmte allgemeine Gesetze für die physische Welt längst abgeschlossen wurde, während sie für das soziale Gebiet erst durch die Theorie von Marx unerschütterlich festgelegt worden ist.

Der weitere Einwand des Herrn Struve gegen die soziologische Theorie der russischen Subjektivisten besteht darin, dass – abgesehen von allen oben angeführten Argumenten –

die Soziologie in keinem Falle das, was wir Individualität nennen, als die primäre Tatsache anerkennen kann, da der Begriff der Individualität selbst (der keiner weiteren Erklärung unterliegt) und die ihm entsprechende Tatsache das Resultat eines langen sozialen Prozesses sind". (S. 33.)

Das ist ein sehr richtiger Gedanke, bei dem man um so mehr verweilen muss, als die Argumentation des Verfassers einige Unrichtigkeiten enthält. Er führt die Ansichten Simmels an, der angeblich in seinem Werk „Von der sozialen Differenzierung“ die direkte Abhängigkeit der Entwicklung der Individualität von der Differenzierung jener Gruppe, der diese Persönlichkeit angehört, bewiesen habe. Herr Struve stellt diesen Satz der Theorie des Herrn Michailowski von der umgekehrten Abhängigkeit der Differenzierung („Verschiedenartigkeit“) der Gesellschaft von der Entwicklung der Individualität gegenüber.

In der nicht-differenzierten Umwelt“ – (widerspricht ihm Herr Struve – „wird das Individuum in seiner ,Gleichartigkeit und Unpersönlichkeit' … ein ,harmonisches Ganzes' sein. Die reale Persönlichkeit kann nicht ,die Gesamtheit aller dem menschlichen Organismus schlechthin eigenen Züge' sein, einfach deshalb, weil eine solche Fülle des Inhalts die Kräfte der realen Persönlichkeit übersteigt". (S. 38–39.) „Damit die Persönlichkeit differenziert sein könne, muss sie sich in einer differenzierten Umwelt befinden.“ (S. 39.)

Aus dieser Darstellung wird nicht klar, wie denn nun Simmel die Frage stellt und wie er argumentiert. Doch in der Wiedergabe durch Herrn Struve leidet die Fragestellung unter demselben Mangel wie bei Herrn Michailowski. Die abstrakte Betrachtung darüber, in welcher Abhängigkeit die Entwicklung (und das Wohlergehen) der Individualität von der Differenzierung der Gesellschaft steht, ist völlig unwissenschaftlich, weil man keine Wechselbeziehung festsetzen kann, die für jegliche Form der gesellschaftlichen Organisation gilt. Der Begriff „Differenzierung“, „Verschiedenartigkeit“ usw. selbst erhält eine ganz verschiedene Bedeutung, je nachdem, auf welche soziale Situation er angewandt wird. Der Hauptfehler des Herrn Michailowski besteht gerade im abstrakten Dogmatismus seiner Betrachtungen, die den „Fortschritt“ schlechthin zu umfassen versuchen, anstatt den konkreten „Fortschritt“ irgendeiner konkreten Gesellschaftsformation zu erforschen. Wenn Herr Struve Herrn Michailowski seine allgemeinen (oben zitierten) Grundsätze entgegenstellt, so wiederholt er dabei den Fehler des Herrn Michailowski, da er von der Darstellung und Aufklärung des konkreten Prozesses in das Gebiet nebelhafter und haltloser Dogmen übergeht. Nehmen wir ein Beispiel: „Die harmonische Geschlossenheit des Individuums wird in ihrem Inhalt durch den Grad der Entwicklung, d. h. der Differenzierung der Gruppe bestimmt“, sagt Herr Struve und lässt diesen Satz im Druck hervorheben. Was hat man indessen hier unter „Differenzierung“ der Gruppe zu verstehen? Hat die Aufhebung der Leibeigenschaft diese „Differenzierung“ verstärkt oder abgeschwächt? Herr Michailowski entscheidet die Frage im Sinne der Abschwächung („Was ist Fortschritt?“); Herr Struve würde sie wahrscheinlich im Sinne der Verstärkung entscheiden, und zwar unter Berufung auf die Verstärkung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Der eine hatte die Abschaffung der Standesunterschiede im Auge, der andere das Entstehen von ökonomischen Unterschieden. Der Ausdruck ist, wie man sieht, so unbestimmt, dass er auf einander entgegengesetzte Dinge aufgepfropft werden kann. Noch ein Beispiel: in dem Übergang von der kapitalistischen Manufaktur zur maschinellen Großindustrie könnte man eine Verringerung der „Differenzierung“ erblicken, denn die detaillierte Arbeitsteilung zwischen den Arbeitern, die sich spezialisiert haben, hört auf. Indessen kann es aber keinem Zweifel unterliegen, dass die Entwicklungsbedingungen der Individualität gerade in diesem Falle bedeutend günstiger (für den Arbeiter) sind. Die Schlussfolgerung daraus ist die, dass schon die Fragestellung selbst unrichtig ist. Der Verfasser gibt selbst zu, dass es auch einen Antagonismus zwischen Persönlichkeit und Gruppe gibt (wovon eben Michailowski spricht).

Aber das Leben“ – fügt er hinzu – „setzt sich niemals aus absoluten Widersprüchen zusammen: in ihm fließt alles und ist alles relativ, und gleichzeitig befinden sich alle seine einzelnen Seiten in einer beständigen Wechselwirkung.“ (S. 39.)

Wenn dem so ist, wozu musste man dann absolute Wechselbeziehungen zwischen Gruppe und Persönlichkeit hervorheben, Wechselbeziehungen, die sich nicht auf einen streng bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung einer bestimmten Gesellschaftsformation beziehen? Warum konnte man nicht die ganze Argumentation auf die Frage des konkreten Entwicklungsprozesses Russlands beziehen? Der Verfasser macht den Versuch, die Frage so zu stellen, und wenn er ihn folgerichtig durchgeführt hätte, würde seine Argumentation viel gewonnen haben.

Nur die Arbeitsteilung – dieser Sündenfall der Menschheit nach der Lehre des Herrn Michailowski – schuf die Bedingungen für die Entwicklung jener ,Persönlichkeit', in deren Namen Herr Michailowski mit Recht gegen die modernen Formen der Arbeitsteilung protestiert.“ (S. 33.)

Das ist ausgezeichnet gesagt, nur hätte man anstatt „Arbeitsteilung“ sagen sollen „Kapitalismus“, ja sogar noch begrenzter: der russische Kapitalismus. Die progressive Bedeutung des Kapitalismus besteht gerade darin, dass er die früheren engen Lebensverhältnisse des Menschen zerstört hat, die geistige Stumpfheit erzeugten und den Produzenten nicht die Möglichkeit gaben, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Die gewaltige Entwicklung der Handelsbeziehungen und des Austausches im Weltumfang, der ständige Ortswechsel gewaltiger Bevölkerungsmassen haben die hergebrachten Bande der Gens, der Familie, der territorialen Gemeinschaft gesprengt und jene Verschiedenheit der Entwicklung, „Verschiedenheit der Talente“, „Reichtum der gesellschaftlichen Verhältnisse“G geschaffen, die in der neuesten Geschichte des Westens eine so große Rolle spielt. In Russland zeigte sich dieser Prozess in seiner vollen Stärke in der Epoche nach der Reform, als die altertümlichen Formen der Arbeit mit gewaltiger Schnelligkeit zusammenbrachen und an die erste Stelle Kauf und Verkauf der Arbeitskraft traten, die den Bauern der patriarchalen, halb noch leibeigenschaftlichen Familie sowie den verdummenden Verhältnissen des Dorfes entrissen und die halb noch leibeigenschaftlichen Formen der Aneignung von Mehrwert durch rein kapitalistische Formen ersetzten. Dieser ökonomische Prozess äußerte sich auf sozialem Gebiete in einem „allgemeinen Aufschwung des Persönlichkeitsgefühls“, darin, dass die Gutsherrenklasse durch die Rasnotschinzy aus der „Gesellschaft“ verdrängt wurde, ferner in einem heißen Kampf der Literatur gegen die unsinnigen mittelalterlichen Beengungen der Persönlichkeit usw. Dass gerade das Russland nach der Reform diesen Aufschwung des Persönlichkeitsgefühls, des Gefühls der eigenen Würde gebracht hat – das werden die Narodniki wahrscheinlich nicht bestreiten wollen. Aber sie stellen sich nicht die Frage, welche materiellen Bedingungen dazu geführt haben. Unter der Leibeigenschaft konnte es natürlich nichts derartiges geben – und so begrüßt der Narodnik die „befreiende“ Reform, ohne zu bemerken, dass er in einen ebenso kurzsichtigen Optimismus verfällt wie die bürgerlichen Historiker, von denen Marx sagte, dass sie auf die Bauernreform durch den clair obscur3 der „Emanzipation“ schauen, ohne zu bemerken, dass diese „Emanzipation“ nur in der Ersetzung der einen Form durch eine andere, in der Ersetzung des feudalen Mehrproduktes durch den bürgerlichen Mehrwert bestand. Genau dasselbe war auch bei uns der Fall. Gerade das System der „altadeligen“ Wirtschaft, das die Bevölkerung an einen bestimmten Ort kettete und in kleine Häuflein von Untertanen einzelner Erbgrundherren zersplitterte, hat auch die Niedergedrücktheit der Persönlichkeit erzeugt. Und weiter: gerade der Kapitalismus, der die Persönlichkeit von allen Banden der Leibeigenschaft dadurch befreit hat. dass er sie in selbständige Beziehungen zum Markt brachte und zum Warenbesitzer machte (und als solchen jedem anderen Warenbesitzer gleichstellte), hat auch den Aufschwung des Persönlichkeitsgefühls erzeugt. Wenn die Herren Narodniki pharisäerhaft in Schrecken geraten, wenn man zu ihnen von der fortschrittlichen Rolle des russischen Kapitalismus spricht, so nur deshalb, weil sie nicht über die Frage der materiellen Bedingungen jener „Güter des Fortschritts“ nachdenken, die das Russland nach der Reform kennzeichnen. Wenn Herr Michailowski seine „Soziologie“ mit der „Persönlichkeit“ beginnt, die gegen den russischen Kapitalismus als ein zufälliges und vorübergehendes Abweichen Russlands vom richtigen Wege protestiert, so schlägt er schon damit sich selbst, da er nicht begreift, dass erst der Kapitalismus eben die Bedingungen geschaffen hat, die diesen Protest der Persönlichkeit möglich machten. – An diesem Beispiel sehen wir noch einmal, welcher Abänderung die Argumentation des Herrn Struve bedarf. Man hätte die Frage gänzlich auf den Boden der russischen Wirklichkeit zurückführen sollen, auf den Boden der Klarstellung dessen, was ist, und warum es gerade so ist und nicht anders: die Narodniki haben nicht umsonst ihre ganze Soziologie darauf aufgebaut, dass sie, anstatt die Wirklichkeit zu analysieren, darüber räsonierten, was „sein kann“; sie konnten nicht umhin zu sehen, dass die Wirklichkeit ihre Illusionen unbarmherzig zerstört.

Seine Untersuchung der Theorie der „Persönlichkeiten“ schließt der Verfasser mit der folgenden Formulierung:

Die Persönlichkeit ist für die Soziologie eine Funktion der Umwelt“, „die Persönlichkeit ist hier ein formaler Begriff, dessen Inhalt durch die Erforschung der sozialen Gruppe gegeben wird.“ (S. 40.)

Diese letzte Gegenüberstellung betont besonders treffend den Gegensatz von Subjektivismus und Materialismus: als die Subjektivisten über die „Persönlichkeit“ Betrachtungen anstellten, bestimmten sie den Inhalt dieses Begriffs (d. h. „die Gedanken und Gefühle“ dieser Persönlichkeit, ihre sozialen Handlungen) a priori, d. h. sie setzten ihre Utopien an die Stelle der „Erforschung der sozialen Gruppe“.

Eine andere „wichtige Seite“ des Materialismus – fährt Herr Struve fort – „besteht darin, dass der ökonomische Materialismus die Idee der Tatsache, das Bewusstsein und das Sollen dem Sein unterordnet“ (S. 40). „Unterordnet“ heißt im gegebenen Falle natürlich: er weist ihnen in der Erklärung gesellschaftlicher Erscheinungen einen untergeordneten Platz an. Die Narodniki gehen als Subjektivisten gerade umgekehrt vor: sie gehen in ihren Betrachtungen von „Idealen“ aus, ohne irgendwie darüber nachzudenken, dass diese Ideale nur eine gewisse Widerspiegelung der Wirklichkeit sein konnten, dass man sie folglich an der Hand von Tatsachen prüfen, sie auf Tatsachen zurückführen muss. – Übrigens wird dem Narodnik dieser letzte Satz ohne eine Erläuterung unverständlich sein. Wieso denn? – denkt er – die Ideale sollen doch über die Tatsachen richten, sollen darauf hinweisen, wie diese zu verändern sind, sollen die Tatsachen prüfen, nicht aber von den Tatsachen geprüft werden. Dies scheint dem Narodnik, der gewohnt ist, über den Wolken zu schweben, eine Aussöhnung mit der Tatsache zu sein. Wir wollen es erklären.

Das Vorhandensein des „Wirtschaftens auf fremde Rechnung“, das Vorhandensein der Ausbeutung wird stets sowohl bei den Ausgebeuteten selbst als auch bei einzelnen Vertretern der „Intelligenz“ Ideale erzeugen, die diesem System entgegengesetzt sind.

Diese Ideale sind für den Marxisten außerordentlich wertvoll; nur auf ihrem Boden polemisiert er ja gegen das Narodnikitum, er polemisiert ausschließlich in der Frage der Konstruktion dieser Ideale und ihrer Verwirklichung.

Für den Narodnik genügt es, die Tatsache festzustellen, die solche Ideale erzeugt, dann Hinweise darauf anzuführen, dass das Ideal vom Standpunkt der „modernen Wissenschaft und der modernen sittlichen Ideen“ berechtigt ist (wobei er nicht begreift, dass diese „modernen Ideen“ nur Zugeständnisse der westeuropäischen „öffentlichen Meinung“ an die neu entstehende Macht sind), und die „Gesellschaft“ und den „Staat“ weiterhin zu beschwören: gewährleistet, schützt, organisiert!

Der Marxist geht von demselben Ideal aus, aber er vergleicht es nicht mit der „modernen Wissenschaft und den modernen sittlichen Ideen“H, sondern mit den lebenden Klassengegensätzen und formuliert es deshalb nicht als eine Förderung der „Wissenschaft“, sondern als die Forderung der und der Klasse, hervorgerufen durch die und die gesellschaftlichen Verhältnisse (die einer objektiven Erforschung unterliegen) und erreichbar nur auf die und die Weise infolge der und der Eigenschaften dieser Verhältnisse. Wenn man die Ideale nicht auf diese Weise auf die Tatsachen zurückführt, so bleiben diese Ideale fromme Wünsche, ohne jegliche Aussicht, von der Masse akzeptiert und folglich verwirklicht zu werden.

Nachdem er auf diese Weise die allgemeinen theoretischen Grundsätze aufgezeigt hat, die den Materialismus als einzig richtige Methode der Gesellschaftswissenschaft anzuerkennen zwingen, geht Herr Struve zur Darstellung der Ansichten von Marx und Engels über, wobei er vorwiegend die Werke Engels’ zitiert. Das ist ein außerordentlich interessanter und lehrreicher Teil des Buches.

Außerordentlich zutreffend ist der Hinweis des Verfassers, dass „man nirgends auf ein solches Nichtverstehen von Marx stößt wie bei den russischen Publizisten“ (S. 44). Als Beispiel wird vor allem Herr Michailowski angeführt, der in der „geschichtsphilosophischen Theorie“ von Marx nur die Aufklärung der „Genesis der kapitalistischen Ordnung“ erblickt. Herr Struve protestiert dagegen mit vollem Recht. In der Tat, das ist eine im höchsten Grade bezeichnende Tatsache. Herr Michailowski hat viele Male über Marx geschrieben, aber niemals hat er auch nur ein Wort über jenes Verhältnis fallen lassen, in dem die Methode von Marx zur „subjektiven Methode in der Soziologie“ steht. Herr Michailowski hat über das „Kapital“ geschrieben, er hat seine „Solidarität“ (?) mit der ökonomischen Lehre von Marx erklärt, hat aber mit strengem Schweigen, sagen wir zum Beispiel, die Frage umgangen, ob nicht die russischen Subjektivisten unter die Methode Proudhons fallen, der die Warenwirtschaft nach seinem Ideal der Gerechtigkeit umgestalten möchte?I Wodurch unterscheidet sich dieses Kriterium (der Gerechtigkeit, – der justice eternelle4) vom Kriterium des Herrn Michailowski: „Die moderne Wissenschaft und die modernen sittlichen Ideen“? Und warum hat Herr Michailowski, der stets so energisch gegen die Identifizierung der Methode der Gesellschaftswissenschaften mit der Methode der Naturwissenschaften protestierte, nicht die Erklärung von Marx angefochten, dass eine derartige Methode Proudhons genau so unsinnig sei, wie wenn ein Chemiker, statt „die wirklichen Gesetze des Stoffwechsels zu studieren“, diesen Stoffwechsel nach den Gesetzen der „Affinität“ ummodeln wollte? Warum hat er nicht die Ansicht von Marx angefochten, dass der soziale Prozess ein „naturgeschichtlicher Prozess“ sei? Durch Unkenntnis der Literatur lässt sich dies nicht erklären: es liegt hier offenbar völliges Nichtbegreifen oder Nichtbegreifenwollen vor. Herr Struve ist, scheint es, der erste, der dies in unserer Literatur ausgesprochen hat, und darin besteht sein großes Verdienst.

Gehen wir nun zu denjenigen Erklärungen des Verfassers über den Marxismus über, die zu Kritik Anlass geben.

Wir können nicht umhin, zuzugeben“ – sagt Herr Struve –, „dass eine rein philosophische Begründung dieser Lehre noch nicht gegeben worden ist und dass sie noch nicht jenes gewaltige konkrete Material bewältigt hat, das die Weltgeschichte darstellt. Es bedarf offenbar einer Überprüfung der Tatsachen vom Standpunkt der neuen Theorie aus; es bedarf einer Kritik der Theorie an Hand der Tatsachen. Vielleicht werden viele Einseitigkeiten und allzu überstürzte Verallgemeinerungen fallen gelassen werden.“ (S. 46.)

Es ist nicht ganz klar, was der Verfasser unter „rein philosophischer Begründung“ versteht. Vom Standpunkt Marx’ und Engels’ hat die Philosophie gar kein Recht auf eine besondere, selbständige Existenz, und ihr Material verteilt sich auf die verschiedenen Zweige der positiven Wissenschaft. Unter philosophischer Begründung kann man mithin entweder die Gegenüberstellung ihrer Thesen und der einwandfrei festgestellten Gesetze der anderen Wissenschaften (und Herr Struve hat selbst zugegeben, dass schon die Psychologie Thesen liefert, die zwingen, auf den Subjektivismus zu verzichten und den Materialismus zu akzeptieren) oder die Erfahrung der Anwendung dieser Theorie verstehen. In dieser Hinsicht nun besitzen wir die Erklärung des Herrn Struve selbst, dass

dem Materialismus stets das Verdienst bleiben wird, dass er einer ganzen Reihe (das NB) historischer Tatsachen von gewaltiger Bedeutung eine tief wissenschaftliche, wahrhaft philosophische (vom Verfasser hervorgehoben) Deutung gegeben hat“. (S. 50.)

Diese Erklärung des Verfassers enthält die Anerkennung, dass der Materialismus die einzig wissenschaftliche Methode der Soziologie ist, und deshalb bedarf es natürlich einer „Überprüfung der Tatsachen“ von diesem Standpunkt aus, besonders einer Überprüfung der Tatsachen der russischen Geschichte und Wirklichkeit, die von den russischen Subjektivisten so eifrig entstellt wurden. Was die letzte Bemerkung über eventuelle „Einseitigkeiten“ und „allzu überstürzte Verallgemeinerungen“ betrifft, so wenden wir uns, ohne bei dieser allgemeinen und deshalb unklaren Bemerkung zu verweilen, direkt einer jener Korrekturen zu, die der „nicht von Orthodoxie angesteckte“ Verfasser an den „allzu überstürzten Verallgemeinerungen“ von Marx vornimmt.

Es handelt sich um den Staat. Bei der Verneinung des Staates haben sich „Marx und seine Anhänger“ „in der Kritik des gegenwärtigen Staates allzu weit“ „hinreißen lassen“ und sind in eine „Einseitigkeit“ verfallen.

Der Staat“ – verbessert Herr Struve dieses Sichhinreißenlassen – „ist vor allem die Organisation der Ordnung; eine Organisation der Herrschaft (der Klassenherrschaft) dagegen ist er in einer Gesellschaft, in der die Unterordnung der einen Gruppen unter die anderen durch die ökonomische Struktur der Gesellschaft bedingt ist.“ (S. 53.)

Die Gentilverfassung hat nach der Auffassung des Autors den Staat gekannt, der auch bei Aufhebung der Klassen bestehen bleiben werde, denn das Kennzeichen des Staates sei die Zwangsgewalt.

Man kann nur darüber staunen, dass der Verfasser mit einem solchen auffallenden Mangel an Argumenten Marx von seinem Professorenstandpunkt aus kritisiert. Vor allem erblickt er durchaus mit Unrecht das Unterscheidungsmerkmal des Staates in der Zwangsgewalt: eine Zwangsgewalt gibt es in jeglichem menschlichen Zusammenleben, in der Gentilverfassung so gut wie in der Familie; einen Staat jedoch hat es hier nicht gegeben. In demselben Werk, aus dem Herr Struve das Zitat über den Staat genommen hat, sagt Engels,

dass ein wesentliches Kennzeichen des Staates in einer von der Masse des Volkes unterschiedenen öffentlichen Gewalt besteht“ („Der Ursprung der Familie usw.“, S. 108),

und etwas weiter oben sagt er von der Institution der Naukrarien, dass sie die Gentilverfassung zwiefach angegriffen habe:

Erstens indem sie eine öffentliche Gewalt“ (in der russischen Übersetzung unrichtig mit gesellschaftlicher Kraft wiedergegeben) „schuf, die schon nicht mehr ohne weiteres mit der Gesamtheit des bewaffneten Volkes zusammenfiel.“ (Ebenda, S. 104.)

Das Kennzeichen des Staates ist also das Vorhandensein einer besonderen Klasse von Menschen, in deren Händen sich die Macht konzentriert. Eine Gemeinschaft, in der alle ihre Mitglieder der Reihe nach der „Organisation der Ordnung“ vorständen, würde natürlich niemand als Staat bezeichnen können. Weiter. In Bezug auf den gegenwärtigen Staat ist die Betrachtung des Herrn Struve noch weniger stichhaltig. Von ihm zu sagen, er sei „vor allem (sic!?!) die Organisation der Ordnung“, heißt einen sehr wichtigen Punkt der Theorie von Marx nicht verstehen. Jene besondere Schicht, in deren Händen sich die Gewalt in der modernen Gesellschaft befindet, ist die Bürokratie. Der unmittelbare und äußerst enge Zusammenhang dieses Organs mit der in der modernen Gesellschaft herrschenden Klasse der Bourgeoisie erhellt sowohl aus der Geschichte (die Bürokratie war das erste politische Werkzeug der Bourgeoisie gegen die Feudalen, überhaupt gegen die Vertreter der „altadeligen“ Ordnung, das erste Betreten der Arena der politischen Herrschaft nicht durch rassenreine Grundbesitzer, sondern durch die Rasnotschinzy, das „Spießbürgertum“) als auch aus den Bedingungen der Bildung und Zusammensetzung dieser Klasse, in die der Zugang nur für die bürgerlichen „Abkömmlinge des Volkes“ offensteht und die mit dieser Bourgeoisie durch tausende stärkster Fäden verknüpft ist.J Der Fehler des Verfassers ist um so ärgerlicher, als gerade die russischen Narodniki, gegen die ins Feld zu ziehen er den so guten Gedanken gehabt hat, keinen Begriff davon haben, dass jedwede Bürokratie sowohl ihrem geschichtlichen Ursprung als auch ihrer gegenwärtigen Quelle und ihrer Bestimmung nach eine rein und ausschließlich bürgerliche Einrichtung ist, an die vom Standpunkt der Interessen des Produzenten sich zu wenden nur eben Ideologen des Kleinbürgertums fähig sind.

Es lohnt sich, noch etwas beim Verhältnis des Marxismus zur Ethik zu verweilen. Der Verfasser zitiert auf S. 64-65 die ausgezeichnete Engelssche Erläuterung des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit: „Die Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit.“ Der Determinismus setzt nicht nur den Fatalismus nicht voraus, sondern gibt im Gegenteil die Grundlage für ein vernünftiges Handeln. Man kann nicht umhin hinzuzufügen. dass die russischen Subjektivisten es nicht verstanden, sich selbst in einer so elementaren Frage, wie es die Frage der Willensfreiheit ist, zurechtzufinden. Herr Michailowski verwirrte sich hilflos in einer Vermengung des Determinismus mit dem Fatalismus und fand einen Ausweg … indem er sich zwischen zwei Stühle setzte: nicht gewillt, die Gesetzmäßigkeit zu bestreiten, behauptete er, die Willensfreiheit sei eine Tatsache unseres Bewusstseins (eigentlich eine Idee Mirtows, die Herr Michailowski übernommen hat) und könne deshalb als Grundlage der Ethik dienen. Es versteht sich, dass diese Theorien, auf die Soziologie angewandt, nichts ergeben konnten als eine Utopie oder eine leere Moral, die den in der Gesellschaft vor sich gehenden Kampf der Klassen ignoriert. Man kann deshalb nicht umhin, die Richtigkeit der Behauptung Sombarts anzuerkennen, dass es „im Marxismus selbst von Anfang bis zu Ende kein Gramm Ethik“ gebe: in theoretischer Hinsicht ordne er den „ethischen Standpunkt“ dem „Prinzip der Kausalität“ unter, in praktischer Hinsicht laufe sie bei ihm auf den Klassenkampf hinaus.

Die Darlegung des Materialismus ergänzt Herr Struve durch die materialistische Einschätzung von „zwei Faktoren, die in allen Konstruktionen des Narodnikitums eine höchst wichtige Rolle spielen“ – der „Intelligenz“ und des „Staates“ (S. 70). Bei dieser Einschätzung wirkt sich wiederum dieselbe „Nicht-Orthodoxie" des Verfassers aus, die oben in Hinsicht auf seinen Objektivismus vermerkt worden ist.

Wenn … überhaupt alle gesellschaftlichen Gruppen eine reale Macht nur insofern darstellen, als … sie mit Gesellschaftsklassen zusammenfallen oder sich an sie anlehnen, so ist es augenscheinlich, dass die ,ständelose Intelligenz' keine reale gesellschaftliche Macht ist.“ (S. 70.)

Im abstrakten theoretischen Sinn hat der Verfasser natürlich recht. Er nimmt sozusagen die Narodniki beim Worte. Ihr sagt, es sei die Intelligenz, die Russland auf „andere Wege“ bringen müsse, – ihr versteht nicht, dass sie, wenn sie sich nicht an eine Klasse anlehnt, eine Null ist. Ihr prahlt damit, dass die russische ständelose Intelligenz sich stets durch „Reinheit“ der Ideen ausgezeichnet habe – gerade deshalb war sie auch stets ohnmächtig. Die Kritik des Verfassers beschränkt sich auf die Gegenüberstellung der unsinnigen Idee des Narodnikitums von der Allmacht der Intelligenz und seiner eigenen ganz richtigen Idee von der „Ohnmacht der Intelligenz im ökonomischen Prozess“ (S. 71). Doch eine derartige Gegenüberstellung genügt nicht. Um über die russische „ständelose Intelligenz“ als über eine besondere Gruppe der russischen Gesellschaft zu urteilen, die für die ganze Epoche nach der Reform – die Epoche der endgültigen Verdrängung des Adligen durch den Rasnotschinez – so kennzeichnend ist und die zweifellos eine gewisse geschichtliche Rolle spielte und zu spielen fortfährt, dazu muss man die Ideen und noch mehr die Programme unserer „ständelosen Intelligenz“ der Lage und den Interessen der gegebenen Klassen der russischen Gesellschaft gegenüberstellen. Um die Möglichkeit zu beseitigen, uns der Parteilichkeit zu verdächtigen, werden wir diese Gegenüberstellung nicht selbst vornehmen, sondern uns auf die Berufung auf jenen Narodnik beschränken, dessen Artikel im ersten Kapitel kommentiert wurde. Aus allen seinen Äußerungen ergibt sich die ganz bestimmte Schlussfolgerung: die russische fortgeschrittene, liberale, „demokratische“ Intelligenz war eine bürgerliche Intelligenz. Die „Ständelosigkeit“ schließt den Klassenursprung der Ideen der Intelligenz nicht im Geringsten aus. Stets und überall hat sich die Bourgeoisie gegen den Feudalismus im Namen der Ständelosigkeit erhoben – auch bei uns trat gegen das altadelige, ständische System eine ständelose Intelligenz auf. Stets und überall ist die Bourgeoisie gegen die überlebten ständischen Schranken und andere mittelalterliche Einrichtungen im Namen des ganzen „Volkes“ aufgetreten, in dem die Klassengegensätze noch nicht entwickelt waren, und sie war sowohl im Westen als auch in Russland im Recht, weil die kritisierten Einrichtungen tatsächlich alle beengten. Sobald der Ständegliederung in Russland der entscheidende Schlag versetzt worden war (1861), begann sofort der Antagonismus innerhalb des „Volkes“ zum Vorschein zu kommen, gleichzeitig damit aber und als Folge davon der Antagonismus innerhalb der ständelosen Intelligenz zwischen den Liberalen und den Narodniki, den Ideologen der Bauernschaft (innerhalb der die ersten russischen Ideologen der unmittelbaren Produzenten die Entstehung einander entgegengesetzter Klassen nicht sahen und auch noch nicht sehen konnten). Die weitere ökonomische Entwicklung führte zur vollständigeren Aufdeckung der sozialen Gegensätze in der russischen Gesellschaft und zwang, die Tatsache des Zerfalls der Bauernschaft in Dorfbourgeoisie und Proletariat anzuerkennen. Das Narodnikitum verwandelte sich schon fast gänzlich in eine Ideologie des Kleinbürgertums, wobei es den Marxismus von sich abschied. Deshalb stellt die russische „ständelose Intelligenz“ eine „reale gesellschaftliche Macht“ dar, insofern sie allgemein bürgerliche Interessen vertritt.K

Wenn diese Macht dennoch keine Einrichtungen zu schaffen vermochte, die den von ihr verteidigten Interessen entsprochen hätten, und nicht imstande war, die „Atmosphäre der modernen russischen Kultur“ (Herr W. W.) umzugestalten, und wenn der „aktive Demokratismus in der Epoche des politischen Kampfes“ von einem „gesellschaftlichen Indifferentismus“ abgelöst wurde (Herr W. W. in „Nedelja“, 1894, Nr. 47) – so liegt die Ursache dessen nicht nur in der träumerischen Natur der „ständelosen Intelligenz“ unseres Landes, sondern auch und hauptsächlich in der Stellung jener Klassen, aus denen sie hervorging und aus denen sie die Kraft schöpfte, in deren Zwiespältigkeit. Es ist unbestreitbar, dass die russische „Atmosphäre“ für sie viele Minus darstellte, aber sie gab ihnen auch einige Plus.

In Russland ist die geschichtliche Rolle jener Klasse, die nach der Meinung der Narodniki nicht der Träger der „reinen Idee der Arbeit“ ist, besonders groß; ihre „Aktivität“ lässt sich nicht durch „Stör mit Meerrettich“ einschläfern. Die Hinweise der Marxisten auf diese Klasse „reißen den demokratischen Faden“ deshalb nicht nur nicht ab, wie Herr W. W. versichert, der sich im Ausdenken des unglaublichsten Unsinns über die Marxisten spezialisiert, sondern greifen, umgekehrt, diesen „Faden“ wieder auf, den die indifferente „Gesellschaft“ aus den Händen gleiten lässt, und fordern seine Fortführung und Stärkung, seine Annäherung an das Leben.

Im Zusammenhang mit der Unvollständigkeit der Einschätzung der Intelligenz steht bei Herrn Struve die nicht ganz glückliche Formulierung der folgenden Behauptung.

Man muss beweisen“ – sagt er –, „dass die Zersetzung der alten Wirtschaftsordnung unvermeidlich ist.“ (S. 71.)

Erstens, was versteht der Verfasser unter der „alten Wirtschaftsordnung“? Die Leibeigenschaft? Deren Zerfall braucht ja nicht erst bewiesen zu werden. Die „Volksproduktion“? Aber er sagt ja selbst weiter unten und sagt es vollkommen mit Recht, dass diese Wortverbindung „keiner realen geschichtlichen Ordnung entspricht“ (S. 177), dass dies, mit anderen Worten, eine Mythe ist, da sich bei uns nach der Aufhebung der „Leibeigenschaft“ die Warenwirtschaft in beschleunigtem Tempo zu entwickeln begann. Wahrscheinlich hatte der Verfasser jenes Entwicklungsstadium des Kapitalismus im Auge, wo er sich der mittelalterlichen Einrichtungen noch nicht völlig entledigt hat, wo das Handelskapital noch stark ist und die Kleinproduktion sich noch bei einem großen Teil der Produzenten behauptet. Zweitens, worin erblickt der Verfasser die Kriterien dieser Unvermeidlichkeit? In der Herrschaft der und der Klassen? In den Eigenschaften des gegebenen Systems der Produktionsverhältnisse? In beiden Fällen reduziert sich die Frage auf das Feststellen des Vorhandenseins dieser oder jener (kapitalistischer) Zustände; die Frage reduziert sich auf das Feststellen einer Tatsache, und man hätte sie in keinem Falle auf das Gebiet der Betrachtungen über die Zukunft übertragen sollen. Derartige Betrachtungen sollte man als Monopolbesitz den Herren Narodniki überlassen, die „andere Wege für das Vaterland“ suchen. Gleich auf der folgenden Seite sagt der Verfasser selbst, dass jeder Staat „der Ausdruck der Herrschaft gewisser Gesellschaftsklassen ist“, dass „eine Neuverteilung der sozialen Macht zwischen den einzelnen Klassen notwendig ist, damit der Staat seinen Kurs grundlegend ändere“ (S. 72). All das ist sehr, sehr richtig und sehr treffend gegen die Narodniki gerichtet, und dementsprechend hätte man die Frage anders stellen sollen: man muss das Vorhandensein kapitalistischer Produktionsverhältnisse in Russland (nicht die „Unvermeidlichkeit der Zersetzung“ usw.) beweisen; man muss beweisen, dass auch die russischen Daten das Gesetz bewahrheiten, dass „die Warenwirtschaft eine kapitalistische Wirtschaft ist“, d. h. dass auch bei uns die Warenwirtschaft überall in die kapitalistische umschlägt; man muss beweisen, dass überall in ihrem Wesen bürgerliche Zustände herrschen, dass gerade die Herrschaft dieser Klasse und nicht die berüchtigten „Zufälle“ der Narodniki oder die „Politik“ und ähnliches mehr die Freisetzung des Produzenten von den Produktionsmitteln und überall sein Wirtschaften auf fremde Rechnung hervorruft.

Damit wollen wir die Kritik des ersten Teils des Buches des Herrn Struve, der allgemeinen Charakter trägt, abschließen.

1 Hier wird nur Kap. II dieser Arbeit abgedruckt. Ein Teil des Kap. III ist im Bd. I der vorliegenden Ausgabe enthalten. Die ganze Arbeit ist in Bd. I der Werke (russ.) abgedruckt. D. Red.

A Diesen Ausdruck: „ganz bestimmte Ideale“ darf man natürlich nicht wörtlich verstehen, d. h. in dem Sinne, als ob die Narodniki „ganz bestimmt“ wüssten, was sie wollen. Das wäre vollständig unrichtig. Unter „ganz bestimmten Idealen“ hat man nicht mehr zu verstehen als die Ideologie der unmittelbaren Produzenten, mag diese noch so verschwommen sein.

B Unter den alten Narodniki verstehe ich nicht jene, die z. B. die „Otjetschestwennyje Sapiski“ leiteten, sondern gerade jene, die „ins Volk gingen“. (Siehe Sämtl. Werke. Bd. I, S. 218–234, russ. D. Red.)

C Konkrete Beispiele dafür, dass Herr Struve den Materialismus nicht voll zur Geltung bringt und die Theorie des Klassenkampfes nicht durchhält, werden weiter unten in jedem einzelnen Falle angeführt werden.

D Der Verfasser weiß also nicht – wie es sich für einen Kleinbürger auch ziemt –, dass das werktätige Volk Westeuropas schon längst über jenes Entwicklungsstadium hinausgewachsen ist, wo es „Recht auf Arbeit“ forderte, und dass es heute das Recht auf Faulheit“ fordert, das Recht auf Erholung von der übermäßigen Arbeit, durch die es verkümmert und erdrückt wird.

2 Heilige Einfalt. D. Red.

E Werke, Bd. III, S. 155: „Die Soziologie soll mit einer gewissen Utopie beginnen.“

F „Die Praxis beschneidet sie („die Möglichkeit eines neuen geschichtlichen Weges“) erbarmungslos“: sie nimmt, kann man sagen, mit jedem Tage ab.“ (Worte des Herrn Michailowski, zitiert bei Herrn Struve, S. 16.) Nicht die „Möglichkeit“ nimmt natürlich ab, die es niemals gab, sondern die Illusionen nehmen ab. Und es ist gut, dass sie abnehmen.

3 Halbdunkel, Verschleierung. D. Red.

H Engels hat in seinem Buch „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“ ausgezeichnet bemerkt, dass dies die alte psychologische Methode sei, seinen Begriff nicht mit der Tatsache, die er widerspiegelt, sondern mit einem anderen Begriff, mit dem Abklatsch einer anderen Tatsache zu vergleichen.

4 ewigen Gerechtigkeit. D. Red.

J Vgl. Karl Marx „Der Bürgerkrieg in Frankreich“, S. 23 (Lpz. 1876) und „Der achtzehnte Brumaire“, S. 45-46 (Hmb. 1885): „Aber das materielle Interesse der französischen Bourgeoisie ist gerade auf das Innigste mit der Entfaltung jener breiten und vielverzweigten Staatsmaschine verwebt“ (die Rede ist von der Bürokratie). „Hier bringt sie ihre überschüssige Bevölkerung unter und ergänzt in der Form von Staatsgehältern, was sie nicht in der Form von Profiten, Zinsen, Renten und Honoraren einstecken kann.“

K Der kleinbürgerliche Charakter der allermeisten Wünsche des Narodnikitums ist im ersten Kapitel vermerkt worden. Die Wünsche, die nicht unter diese Charakteristik fallen (von der Art der „Vergesellschaftung der Arbeit“) nehmen im modernen Narodnikitum bereits einen ganz winzigen Platz ein. Sowohl das „Russkoje Bogatstwo“ (1893, Nr. 11-12, Artikel Juschakows „Fragen der ökonomischen Entwicklung Russlands“) als auch Herr W. W. („Beiträge zur theoretischen Ökonomie“, St. Petersburg 1895) protestieren gegen, Herrn N.-on, der sich über die abgegriffenen Allheilmittel der Kredite, der Erweiterung des Grundbesitzes, der Umsiedlungen usw. „scharf“ (Ausdruck Juschakows) äußert.

Kommentare