Wladimir
I. Lenin:
Friedrich Engels
[Geschrieben
im Herbst des Jahres 1895. Zum ersten Mal gedruckt im Jahre 1896 im
Sammelband „Rabotnik"
Nr. 1-2, S. 69-79. Eigene Übersetzung nach Полное
собрание сочинений, Band 2, Moskau 1967, S.
1-14]
Welche
Leuchte der Vernunft erlosch,
Welch Herz hörte zu schlagen auf!1
Am
5. August neuen Stils (24. Juli) 1895 verstarb in London Friedrich
Engels. Nach seinem (im Jahre 1883 gestorbenen) Freund Karl Marx
war Engels der hervorragendste Gelehrte und Lehrer des
zeitgenössischen Proletariats in der ganzen zivilisierten Welt. Seit
jenen Zeiten, als das Schicksal Karl Marx mit Friedrich Engels
zusammenbrachte, fand die Lebensarbeit der beiden Freunde als ihre
gemeinsame Angelegenheit statt. Darum muss man, um zu verstehen, was
Friedrich Engels für das Proletariat tat, klar die Bedeutung der
Lehre und Tätigkeit von Marx für die Entwicklung der
zeitgenössischen Arbeiterbewegung erfassen. Marx und Engels zeigten
als erste, dass die Arbeiterklasse mit ihren Forderungen ein
notwendiges Ergebnis der zeitgenössischen ökonomischen Ordnung ist,
welche zusammen mit der Bourgeoisie unausweichlich das Proletariat
schafft und organisiert; sie zeigten, dass nicht wohlwollende
Versuche einzelner edler Persönlichkeiten, sondern der Klassenkampf
des organisierten Proletariats die Menschheit von dem sie jetzt
bedrückenden Unheil erretten wird. Marx und Engels erklärten als
erste in ihren wissenschaftlichen Arbeiten, dass der Sozialismus
nicht eine Erfindung von Träumern, sondern das Endziel und
notwendige Resultat der Entwicklung der Produktivkräfte in der
zeitgenössischen Gesellschaft ist. Alle geschriebene Geschichte war
bisher eine Geschichte des Klassenkampfs, ein Wechsel der Herrschaft
und der Sieg einer Gesellschaftsklasse über die andere. Und dies
wird weitergehen bis zu jenen Zeiten, in denen die Grundlage des
Klassenkampfs und der Klassenherrschaft verschwinden – das
Privateigentum und die ungeordnete gesellschaftliche Produktion. Die
Interessen des Proletariats fordern die Vernichtung dieser Grundlage,
und deshalb muss gegen sie der bewusste Klassenkampf der
organisierten Arbeiter gerichtet sein. Aber jeder Klassenkampf ist
ein politischer Kampf.
Diese
Ansichten von Marx und Engels hat sich jetzt das ganze für seine
Befreiung kämpfende Proletariat angeeignet, aber als die zwei
Freunde in den 40er Jahren die Mitwirkung an der sozialistischen
Literatur und den gesellschaftlichen Bewegungen ihrer Zeit begannen,
waren solche Anschauungen eine vollkommene Neuigkeit. Damals gab es
viele talentierte und unbegabte, redliche und unredliche Leute,
welche der Kampf für politische Freiheit, der Kampf mit der
Selbstherrschaft der Monarchen, der Polizei und Popen mitriss, die
nicht den Gegensatz der Interessen der Bourgeoisie und des
Proletariats sahen. Diese Leute ließen auch nicht den Gedanken zu,
dass die Arbeiter als eigenständige Gesellschaftskraft handeln
könnten. Auf der anderen Seite gab es viele, mitunter geniale,
Träumer, die dachten, dass man nur die Regenten und die herrschenden
Klassen von der Ungerechtigkeit der zeitgenössischen
Gesellschaftsordnung überzeugen müsse und dann leicht auf der Erde
Frieden und allgemeines Wohlergehen schaffen werde. Sie träumten von
einem Sozialismus ohne Kampf. Schließlich sahen beinahe alle
damaligen Sozialisten und im Allgemeinen Freunde der Arbeiterklasse
im Proletariat nur ein Geschwür, mit Entsetzen sahen sie, wie
mit dem Wachstum der Industrie auch dies Geschwür wächst. Darum
dachten sie alle darüber nach, wie man die Entwicklung der Industrie
und des Proletariats anhalten, das „Rad der Geschichte"
anhalten könne. Im Gegensatz zur allgemeinen Angst vor der
Entwicklung des Proletariats übertrugen Marx und Engels alle ihre
Hoffnung auf das ununterbrochene Wachstum des Proletariats. Je mehr
Proletarier, desto größer ihre Kraft als revolutionäre Klasse,
desto näher und möglicher der Sozialismus. In wenigen Worten kann
man die Verdienste von Marx und Engels gegenüber der Arbeiterklasse
so ausdrücken: sie lehrten die Arbeiterklasse Selbsterkenntnis und
Selbstbewusstsein und stellten an den Platz der Träumereien
Wissenschaft.
Deshalb
muss der Name und das Leben von Engels jedem Arbeiter bekannt sein,
deshalb müssen wir in unserem Sammelband, dessen Ziel, wie auch das
aller unserer Veröffentlichungen, es ist, das
Klassenselbstbewusstsein in den russischen Arbeitern zu wecken, einen
Abriss des Lebens und der Tätigkeit von Friedrich Engels geben,
eines der zwei großen Lehrer des zeitgenössischen Proletariats.
Engels
kam im Jahre 1820 in der Stadt Barmen zur Welt, in der Rheinprovinz
des preußischen Königreichs. Sein Vater war Fabrikant. Im Jahre
1838 war Engels durch familiäre Umstände gezwungen, das Gymnasium
nicht zu beenden und als Handlungsgehilfe in ein Bremer Handelshaus
einzutreten. Die Beschäftigung mit kaufmännischen Angelegenheiten
hinderte Engels nicht, an seiner wissenschaftlichen und politischen
Bildung zu arbeiten. Schon als Gymnasiast verabscheute er
Selbstherrschaft und Beamtenwillkür. Die Beschäftigung mit der
Philosophie führte ihn weiter. In der damaligen Zeit herrschte in
der deutschen Philosophie die Lehre Hegels,
und Engels wurde ihr Anhänger. Obgleich Hegel selbst Verehrer des
selbstherrschaftlichen preußischen Staates war, in dessen Diensten
er als Professor der Berliner Universität stand, war die Lehre
Hegels revolutionär. Der Glaube Hegels an die menschliche Vernunft
und ihre Rechte und die grundlegende These der Hegelschen
Philosophie, dass in der Welt ein beständiger Prozess der
Veränderung und Entwicklung stattfinde, brachten jene Schüler des
Berliner Philosophen, welche sich nicht mit der Wirklichkeit
aussöhnen wollten, zu dem Gedanken, dass auch der Kampf mit der
Wirklichkeit, der Kampf mit der bestehenden Ungerechtigkeit und dem
herrschenden Übel im Weltgesetz der ewigen Entwicklung wurzeln. Wenn
alles sich entwickelt, wenn eine Einrichtung von der anderen abgelöst
wird, weshalb sollten das Fortbestehen der Selbstherrschaft des
preußischen Königs oder russischen Zaren, die Bereicherung einer
nichtigen Minderheit auf Rechnung der riesigen Mehrheit, die
Herrschaft der Bourgeoisie über das Volk ewig sein? Die Philosophie
Hegels sprach über die Entwicklung des Geistes und der Ideen, sie
war idealistisch.
Aus der Entwicklung des Geist leitete sie die Entwicklung der Natur,
des Menschen und der menschlichen, gesellschaftlichen Beziehungen ab.
Marx und Engels, die an den Gedanken Hegels über einen ewigen
Prozess der Entwicklung festhielten*,
verwarfen die vorgefassten idealistischen Anschauungen; sie wendeten
sich dem Leben zu, sie sahen, dass nicht die Entwicklung des Geistes
die Entwicklung der Natur erklärt, sondern umgekehrt – der Geist
aus der Natur, der Materie zu erklären ist … Im Gegensatz zu Hegel
und anderen Hegelianern
waren Marx und Engels Materialisten. Indem sie die Welt und die
Menschheit materialistisch betrachteten, sahen sie, dass so, wie als
Grundlage aller Erscheinungen der Natur Materielles zugrunde liegt,
so auch die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft von der
Entwicklung der materiellen, der Produktivkräfte bedingt wird. Von
der Entwicklung der Produktivkräfte hängen die Beziehungen ab, in
welchen Menschen zueinander bei der Produktion der Gegenstände
stehen, die für die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse
notwendig sind. Und in diesen Beziehungen liegt die Erklärung aller
Erscheinungen des Gesellschaftslebens, der menschlichen Bestrebungen,
Ideen und Gesetze. Die Entwicklung der Produktivkräfte schafft
Gesellschaftsbeziehungen, die sich auf das Privateigentum stützen,
aber jetzt sehen wir, wie diese Entwicklung der Produktivkräfte der
Mehrheit das Eigentum wegnimmt und es in den Händen einer nichtigen
Minderheit konzentriert. Sie vernichtet das Eigentum, die Grundlage
der zeitgenössischen Gesellschaftsordnung, sie selbst strebt
demselben Ziel zu, welches sich die Sozialisten gestellt haben. Die
Sozialisten müssen nur verstehen, welche gesellschaftliche Kraft
gemäß ihrer Lage in der zeitgenössischen Gesellschaft
an der Durchführung
des Sozialismus interessiert
ist,
und dieser Kraft das Bewusstsein ihrer Interessen und historischen
Aufgabe übermitteln. Eine solche Kraft ist das Proletariat. Mit ihm
machte sich Engels in England bekannt, im Zentrum der englischen
Industrie, in Manchester, wohin er im Jahre 1842 übersiedelte, wo er
in den Dienst des Handelshauses trat, dessen Teilhaber sein Vater
war. Hier saß Engels nicht nur im Fabrikkontor – er ging in die
schmutzigen Viertel, wo die Arbeiter hausten, sah mit seinen eigenen
Augen ihr Elend und Unheil. Aber er begnügte sich nicht mit
persönlichen Beobachtungen, er las alles, was es bis zu ihm über
die Lage der englischen Arbeiterklasse gab, er studierte sorgsam alle
ihm zugänglichen offiziellen Dokumente. Die Frucht dieses Studiums
und dieser Beobachtungen war das im Jahre 1845 erschienene Buch:
„Die Lage der arbeitenden Klasse in England“. Wir erwähnten
schon oben, worin das Hauptverdienst von Engels als Autor der „Lage
der arbeitenden Klasse in England“ bestand. Auch vor Engels
schilderten sehr viele die Leiden des Proletariats und wiesen auf die
Notwendigkeit hin, ihm zu helfen. Engels sagte als erster, dass das
Proletariat nicht
nur
eine leidende Klasse ist; dass genau die schändliche ökonomische
Lage, in welcher sich das Proletariat befindet, es unaufhaltsam
vorwärts stößt und es nötigt, für seine endgültige Befreiung zu
kämpfen. Aber das kämpfende Proletariat wird sich
selbst helfen.
Die politische Bewegung der Arbeiterklasse wird die Arbeiter
unausweichlich zu dem Bewusstsein dessen bringen, dass es für sie
keinen Ausweg außer dem Sozialismus gibt. Auf der anderen Seite wird
der Sozialismus nur dann eine Kraft, wenn er das Ziel des politischen
Kampfes der Arbeiterklasse werden wird. Das sind die grundlegenden
Gedanken des Buches von Engels über die Lage der Arbeiterklasse in
England. Diese Gedanken hat sich jetzt das ganze denkende und
kämpfende Proletariat angeeignet, aber damals waren sie vollkommen
neu. Diese Gedanken wurden in dem mitreißend niedergeschriebenen
Buch voll wahrheitsgetreuester und erschütterndster Bilder des
Unheils des englischen Proletariats dargelegt. Dieses Buch war eine
furchtbare Anklage des Kapitalismus und der Bourgeoisie. Der Eindruck
des Werkes war sehr groß. Auf das Buch Engels berief man sich
überall als auf das beste Bild der Lage des zeitgenössischen
Proletariats. Und wirklich, weder bis zum Jahre 1845 noch später
erschien eine solch leuchtend und wahrhaftige Schilderung des Unheils
der Arbeiterklasse.
Zum
Sozialisten wurde Engels erst in England. In Manchester trat er in
Verbindung mit Aktiven der damaligen englischen Arbeiterbewegung und
schrieb in englischen sozialistischen Publikationen. Im Jahre 1844
kehrt er nach Deutschland zurück und machte sich auf dem Weg in
Paris mit Marx bekannt, mit welchem bei ihm schon vorher ein
Briefwechsel in Gang kam. Marx wurde in Paris unter dem Einfluss der
französischen Sozialisten und des französischen Lebens ebenfalls
zum Sozialisten. Hier schrieben die Freunde miteinander das Buch:
„Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik“. In
diesem Buch, das ein Jahr vor der „Lage der arbeitenden Klasse in
England“ erschien und zum größeren Teil von Marx geschrieben
wurde, legte die Grundlage jenes revolutionär-materialistischen
Sozialismus, dessen Hauptgedanken wir oben darlegten. „Heilige
Familie“ ist ein scherzhafter Beiname der Philosophen-Brüder
Bauer
mit ihren Anhänger*innen. Diese Herren predigten eine Kritik, welche
höher als jede Wirklichkeit steht, höher als Parteien und Politik,
jede praktische Tätigkeit leugnet und bloß die umgebende Welt und
die in ihr vorgehenden Ereignisse „kritisch" betrachtet. Herr
Bauer richtete von oben herab über das Proletariat als über eine
unkritische Masse. Dieser unsinnigen und schädlichen Richtung traten
Marx und Engels entschlossen entgegen. Im Namen der wirklichen
menschlichen Persönlichkeit des von den herrschenden Klassen und dem
Staat niedergetretenen Arbeiters, fordern sie nicht Betrachtung,
sondern Kampf für die beste Einrichtung der Gesellschaft. Eine einen
solchen Kampf zu führen fähige und an ihm interessierte Kraft sehen
sie sicherlich in Proletariat. Schon vor der „Heiligen Familie"
veröffentlichte Engels in den „Deutsch-Französischen
Jahrbüchern"
von Marx und Ruge
„Umrisse zu
einer Kritik der Nationalökonomie“, in welcher er aus dem
Blickwinkel des Sozialismus grundlegende Erscheinungen der
zeitgenössischen ökonomischen Ordnung als notwendige Folgen der
Herrschaft des Privateigentums betrachtete. Der Umgang mit Engels
trug ganz offenkundig dazu bei, dass Marx entschied, sich mit
politischer Ökonomie zu befassen, jener Wissenschaft, in welcher
seine Arbeiten eine ganze Umwälzung erzeugten.
Die
Zeit vom Jahre 1845 bis zum Jahre 1847 verbrachte Engels in Brüssel
und Paris, verband die wissenschaftliche Beschäftigung mit
praktischer Tätigkeit im Umfeld der deutschen Arbeiter in Brüssel
und Paris. Hier traten Engels und Marx in Beziehung zu dem geheimen
deutschen „Bund
der Kommunisten“,
welcher sie beauftragte, die grundlegenden Prinzipien des von ihnen
erarbeiteten
Sozialismus darzulegen. So entstand das berühmte im Jahre 1848
veröffentlichte „Manifest
der Kommunistischen Partei" von Marx und Engels. Dieses
kleine Büchlein steht für ganze Bände: Sein Geist belebt und
bewegt bis jetzt das ganze organisierte und kämpfende Proletariat
der zivilisierten Welt.
Die
zuerst in Frankreich ausgebrochene, aber danach auch auf andere
Länder Westeuropa ausgreifende Revolution im Jahre 1848 brachte Marx
und Engels in die Heimat. Hier, in Rheinpreußen, wurden sie Häupter
der demokratischen in Köln herausgegebenen „Neuen
Rheinischen Zeitung". Die beiden Freunde waren die Seele
aller revolutionär-demokratischen Bestrebungen in Rheinpreußen. Bis
zur letzten Möglichkeit setzen sie sich für die Interessen des
Volkes und der Freiheit gegen die reaktionären Kräfte ein. Letztere
siegten bekanntlich. Die „Neue Rheinische Zeitung" wurde
verboten, Marx, der in der Zeit seines Emigrantenlebens
das preußische Staatsangehörigkeitsrecht verlor hatte, wurde
ausgewiesen, aber Engels nahm an bewaffneten Volksaufständen teil,
kämpfte in drei Schlachten für die Freiheit und flüchtete nach der
Niederlage der Aufständischen über die Schweiz nach London. Dort
hatte sich auch Marx angesiedelt. Engels wurde bald erneut
Handlungsgehilfe, aber danach auch Teilhaber jenes Handelshauses in
Manchester, in welchem er in den 40er Jahren diente. Bis zum Jahre
1870 lebte er in Manchester, aber Marx in London, was sie nicht
hinderte, sich in lebendigstem geistigen Umgang zu befinden: sie
schrieben sich beinahe täglich. In diesem Briefwechsel tauschten die
Freunde ihre Ansichten und ihre Kenntnisse aus und führten
miteinander die Ausarbeitung des wissenschaftlichen Sozialismus
weiter. Im Jahre 1870 siedelte sich Engels in London an und bis zum
Jahre 1883, als Marx verstarb, ging ihr gemeinsames geistigen Leben
voll angespannter Arbeit weiter. Deren Frucht war auf Seiten von Marx
das „Kapital",
das größte politisch-ökonomische Werk unseres Jahrhunderts, auf
Seiten von Engels eine ganze Reihe großer und kleiner Werke. Marx
arbeitete an der Auswertung der verwickelten Erscheinungen der
kapitalistischen Wirtschaft. Engels beleuchtete in überaus leicht
geschriebenen, nicht selten polemischen Arbeiten die allgemeinsten
wissenschaftlichen Fragen und verschiedene Erscheinungen der
Vergangenheit und Gegenwart – im Geist der materialistischen
Geschichtsauffassung und ökonomischen Theorie von Marx. Von diesen
Arbeiten von Engels seien genannt: das polemische
Werk gegen Dühring
(hier werden die größten Fragen aus dem Gebiet der Philosophie,
Naturwissenschaften und Gesellschaftswissenschaften
untersucht)**,
„Ursprung der
Familie, des Privateigentums und des Staats" (übersetzt in
die russische Sprache, herausgegeben in St. Petersburg, 3. Aufl.,
1895), „Ludwig
Feuerbach" (russische
Übersetzung
mit Anmerkungen G. Plechanows,
Genf, 1892), Artikel
über die auswärtige Politik der russischen Regierung (übersetzt
in die russische Sprache vom Genfer „Sozialdemokrat"
Nr. 1 und 2), hervorragende Artikel über die Wohnungsfrage,
schließlich, zwei kleine, aber sehr wertvolle Artikel über die
ökonomische Entwicklung Russlands („Friedrich
Engels über Russland", übersetzt in die russische Sprache
von W. I. Sassulitsch,
Genf, 1894). Marx starb, ohne es zu schaffen, seine riesige Arbeit
über das Kapital abschließend zu bearbeiten. Im Entwurf war sie
jedoch schon fertig und jetzt nahm Engels nach dem Tod des Freundes
die schwere Arbeit der Bearbeitung und Veröffentlichung des
II. und III.
Bandes des „Kapitals" auf sich. Im Jahre 1885 gab er den
II., im Jahre 1894 den III. Band heraus (den IV.
Band zu bearbeiten, schaffte er nicht mehr). Die Arbeiten an
diesen zwei Bänden erforderte sehr viel. Der österreichische
Sozialdemokrat Adler
bemerkte richtig, dass Engels mit der Veröffentlichung des II. und
III. Bandes des „Kapital" seinem genialen Freund ein
imposantes Denkmal errichtete, in welches er seinen eigenen Namen
unwillkürlich mit unauslöschlichen Linien eingrub. Wirklich, diese
zwei Bände „Kapital" sind die Arbeit von zweien: von Marx und
Engels. Alte Überlieferungen erzählen von verschiedenen rührenden
Beispielen von Freundschaft. Das europäische Proletariat kann sagen,
dass seine Wissenschaft von zwei Gelehrten und Kämpfern geschaffen
wurde, deren Beziehung alle rührendsten Sagen der Antike über
menschliche Freundschaft übertrifft. Engels stellte sich immer –
und im Allgemeinen vollkommen zurecht – hinter Marx. „Bei Marx“
– schrieb er einem alten
Freund – „spielte ich die zweite Geige"2.
Seine Liebe zum lebendigen Marx und seine Ehrfurcht vor dem
Gedächtnis des Gestorbenen waren grenzenlos. Dieser raue Kämpfer
und strenge Denker besaß eine tief liebende Seele.
Nach
der Bewegung der Jahre 1848-1849 beschäftigten sich Marx und Engels
im Exil nicht nur mit der Wissenschaft. Marx schuf im Jahre 1864 die
„Internationale Arbeiterassoziation" und leitete diese
Assoziation im Verlauf eines ganzen Jahrzehnts. Lebendigen Anteil an
ihren Angelegenheiten nahm ebenso auch Engels. Die Tätigkeit der
„Internationalen Assoziation", die nach den Ideen von Marx die
Proletarier aller Länder vereinigen sollte, besaß riesige Bedeutung
in der Entwicklung der Arbeiterbewegung. Aber auch mit der Schließung
der „Internationalen Assoziation" in den 70er Jahren war die
vereinigende Rolle von Marx und Engels nicht beendet. Umgekehrt kann
man sagen, dass ihre Bedeutung als geistige Leiter der
Arbeiterbewegung beständig größer wurde, weil auch die Bewegung
selbst ununterbrochen wuchs. Nach dem Tod von Marx fuhr Engels allein
als Ratgeber und Leiter der europäischen Sozialisten fort. An ihn
wendeten sich wegen Rat und Weisungen gleichermaßen sowohl deutsche
Sozialisten, deren Kraft sich trotz Regierungsverfolgungen schnell
und ununterbrochen vergrößerte, als auch Vertreter rückständiger
Länder – z.B. Spanier, Rumänen, Russen, welche ihre ersten
Schritte überdenken und erwägen mussten. Sie alle schöpften aus
der reichen Schatzkammer des Wissens und der Erfahrung des alten
Engels.
Marx
und Engels, welche beide die russische Sprache kannten und russische
Bücher lasen, interessierten sich lebhaft für Russland, folgten der
russischen revolutionären Bewegung mit Mitgefühl und unterhielten
Verbindungen zu russischen Revolutionären. Sie beide wurden von
Demokraten
zu Sozialisten, und das demokratische Gefühl des Hasses
auf politische Willkür war in ihnen außerordentlich kräftig.
Dieses unmittelbare politische Gefühl zusammen mit tiefem
theoretischem Verständnis für die Verbindung von politischer
Willkür mit ökonomischer Bedrückung, aber ebenso ihre reiche
Lebenserfahrung machten Marx und Engels ungewöhnlich einfühlsam
gerade in politischen
Beziehungen. Darum fand der heroische
Kampf des kleinen
Häufchens der
russischen Revolutionäre mit der machtvollen Zarenregierung in den
Seelen
dieser erprobten Revolutionäre den mitfühlendsten Widerhall.
Umgekehrt erschien der Anspruch, sich wegen vermeintlicher
ökonomischer Vorteile von den unmittelbarsten und wichtigsten
Aufgaben der russischen Sozialisten – die Erringung der politischen
Freiheit – abzuwenden, in ihren Augen natürlich verdächtig und
sie erachteten ihn sogar geradewegs als Verrat an der großen Sache
der sozialen Revolution. „Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur
das Werk der Arbeiterklasse selbst sein" - das lehrten
Marx und Engels beständig.3
Aber um für seine ökonomische Befreiung zu kämpfen, muss sich das
Proletariat bestimmte politische
Rechte
erringen. Außerdem sahen sowohl Marx als auch Engels klar, dass auch
für die westeuropäische Arbeiterbewegung die politische Revolution
in Russland riesige Bedeutung besitzen werde. Das
selbstherrschaftliche Russland war immer das Bollwerk
der ganzen europäischen Reaktion. Die ungewöhnlich vorteilhafte
internationale Lage, in welche Russland durch den Krieg des Jahres
1870 gestellt war, der für lange Zeit Zwietracht zwischen
Deutschland und Frankreich hervorrief, vergrößerte sicherlich nur
die Bedeutung des selbstherrschaftlichen Russlands als reaktionärer
Kraft. Nur ein freies Russland, das weder der Bedrückung der Polen,
Finnen, Deutschen, Armenier und anderer kleiner Völker noch des
beständigen Aufeinanderhetzens von Frankreich und Deutschland
bedarf, wird
dem zeitgenössischen Europa ein von Kriegsbürden
freies Aufatmen
geben,
alle
reaktionären Elemente in Europa schwächen
und
die Kraft der europäischen Arbeiterklasse vergrößern. Deshalb
wünschte
Engels
auch für den Erfolg
der Arbeiterbewegung im Westen die Einführung der politischen
Freiheit in Russland heiß.
Die russischen Revolutionäre büßten
in ihm ihren besten
Freund ein.
Ewiges
Gedenken Friedrich Engels, dem großen Kämpfer
und Lehrer des Proletariats!
1
Das Motto zu seinem Artikel „Friedrich Engels" hat Lenin N.
A. Nekrassows
Gedicht „Dem Andenken Dobroljubows"
entnommen. Siehe N. A. Nekrassow, Vollständige Ausgabe der
Gedichte, Bd. II, 1948, S. 200, russ.
*
Marx und Engels wiesen nicht nur einmal darauf hin, dass sie in
ihrer Geistesentwicklung viel den großen deutschen Philosophen und
insbesondere Hegel verdankten. „Ohne die deutsche Philosophie“ –
sagt
Engels – „gäbe es auch keinen wissenschaftlichen
Sozialismus“. [wörtlich: „Ohne Vorausgang der deutschen
Philosophie, namentlich Hegels, wäre der deutsche wissenschaftliche
Sozialismus - der einzige wissenschaftliche Sozialismus, der je
existiert hat - nie zustande gekommen.“]
**
Dies ist ein erstaunlich inhaltsreiches und lehrreiches Buch. Von
ihm wurde zu unserem Bedauern nur ein kleiner, einen historischen
Abriss der Entwicklung des Sozialismus („Die Entwicklung des
wissenschaftlichen Sozialismus", 2. Aufl., Genf, 1892)
enthaltenden Teil in die russische Sprache übersetzt.
2
Brief an J. Ph. Becker vom 15. Oktober 1884, wörtlich: „Ich habe
mein Leben lang das getan, wozu ich gemacht war, nämlich zweite
Violine spielen und
glaube auch meine Sache ganz passabel gemacht zu haben."
3wörtlich:
„dass die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse
selbst erobert werden muss"