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Wladimir I. Lenin 18951000 Friedrich Engels

Wladimir I. Lenin: Friedrich Engels

[Geschrieben im Herbst des Jahres 1895. Zum ersten Mal gedruckt im Jahre 1896 im Sammelband „Rabotnik" Nr. 1-2, S. 69-79. Eigene Übersetzung nach Полное собрание сочинений, Band 2, Moskau 1967, S. 1-14]


Welche Leuchte der Vernunft erlosch,
Welch Herz hörte zu schlagen auf!1


Am 5. August neuen Stils (24. Juli) 1895 verstarb in London Friedrich Engels. Nach seinem (im Jahre 1883 gestorbenen) Freund Karl Marx war Engels der hervorragendste Gelehrte und Lehrer des zeitgenössischen Proletariats in der ganzen zivilisierten Welt. Seit jenen Zeiten, als das Schicksal Karl Marx mit Friedrich Engels zusammenbrachte, fand die Lebensarbeit der beiden Freunde als ihre gemeinsame Angelegenheit statt. Darum muss man, um zu verstehen, was Friedrich Engels für das Proletariat tat, klar die Bedeutung der Lehre und Tätigkeit von Marx für die Entwicklung der zeitgenössischen Arbeiterbewegung erfassen. Marx und Engels zeigten als erste, dass die Arbeiterklasse mit ihren Forderungen ein notwendiges Ergebnis der zeitgenössischen ökonomischen Ordnung ist, welche zusammen mit der Bourgeoisie unausweichlich das Proletariat schafft und organisiert; sie zeigten, dass nicht wohlwollende Versuche einzelner edler Persönlichkeiten, sondern der Klassenkampf des organisierten Proletariats die Menschheit von dem sie jetzt bedrückenden Unheil erretten wird. Marx und Engels erklärten als erste in ihren wissenschaftlichen Arbeiten, dass der Sozialismus nicht eine Erfindung von Träumern, sondern das Endziel und notwendige Resultat der Entwicklung der Produktivkräfte in der zeitgenössischen Gesellschaft ist. Alle geschriebene Geschichte war bisher eine Geschichte des Klassenkampfs, ein Wechsel der Herrschaft und der Sieg einer Gesellschaftsklasse über die andere. Und dies wird weitergehen bis zu jenen Zeiten, in denen die Grundlage des Klassenkampfs und der Klassenherrschaft verschwinden – das Privateigentum und die ungeordnete gesellschaftliche Produktion. Die Interessen des Proletariats fordern die Vernichtung dieser Grundlage, und deshalb muss gegen sie der bewusste Klassenkampf der organisierten Arbeiter gerichtet sein. Aber jeder Klassenkampf ist ein politischer Kampf.

Diese Ansichten von Marx und Engels hat sich jetzt das ganze für seine Befreiung kämpfende Proletariat angeeignet, aber als die zwei Freunde in den 40er Jahren die Mitwirkung an der sozialistischen Literatur und den gesellschaftlichen Bewegungen ihrer Zeit begannen, waren solche Anschauungen eine vollkommene Neuigkeit. Damals gab es viele talentierte und unbegabte, redliche und unredliche Leute, welche der Kampf für politische Freiheit, der Kampf mit der Selbstherrschaft der Monarchen, der Polizei und Popen mitriss, die nicht den Gegensatz der Interessen der Bourgeoisie und des Proletariats sahen. Diese Leute ließen auch nicht den Gedanken zu, dass die Arbeiter als eigenständige Gesellschaftskraft handeln könnten. Auf der anderen Seite gab es viele, mitunter geniale, Träumer, die dachten, dass man nur die Regenten und die herrschenden Klassen von der Ungerechtigkeit der zeitgenössischen Gesellschaftsordnung überzeugen müsse und dann leicht auf der Erde Frieden und allgemeines Wohlergehen schaffen werde. Sie träumten von einem Sozialismus ohne Kampf. Schließlich sahen beinahe alle damaligen Sozialisten und im Allgemeinen Freunde der Arbeiterklasse im Proletariat nur ein Geschwür, mit Entsetzen sahen sie, wie mit dem Wachstum der Industrie auch dies Geschwür wächst. Darum dachten sie alle darüber nach, wie man die Entwicklung der Industrie und des Proletariats anhalten, das „Rad der Geschichte" anhalten könne. Im Gegensatz zur allgemeinen Angst vor der Entwicklung des Proletariats übertrugen Marx und Engels alle ihre Hoffnung auf das ununterbrochene Wachstum des Proletariats. Je mehr Proletarier, desto größer ihre Kraft als revolutionäre Klasse, desto näher und möglicher der Sozialismus. In wenigen Worten kann man die Verdienste von Marx und Engels gegenüber der Arbeiterklasse so ausdrücken: sie lehrten die Arbeiterklasse Selbsterkenntnis und Selbstbewusstsein und stellten an den Platz der Träumereien Wissenschaft.

Deshalb muss der Name und das Leben von Engels jedem Arbeiter bekannt sein, deshalb müssen wir in unserem Sammelband, dessen Ziel, wie auch das aller unserer Veröffentlichungen, es ist, das Klassenselbstbewusstsein in den russischen Arbeitern zu wecken, einen Abriss des Lebens und der Tätigkeit von Friedrich Engels geben, eines der zwei großen Lehrer des zeitgenössischen Proletariats.

Engels kam im Jahre 1820 in der Stadt Barmen zur Welt, in der Rheinprovinz des preußischen Königreichs. Sein Vater war Fabrikant. Im Jahre 1838 war Engels durch familiäre Umstände gezwungen, das Gymnasium nicht zu beenden und als Handlungsgehilfe in ein Bremer Handelshaus einzutreten. Die Beschäftigung mit kaufmännischen Angelegenheiten hinderte Engels nicht, an seiner wissenschaftlichen und politischen Bildung zu arbeiten. Schon als Gymnasiast verabscheute er Selbstherrschaft und Beamtenwillkür. Die Beschäftigung mit der Philosophie führte ihn weiter. In der damaligen Zeit herrschte in der deutschen Philosophie die Lehre Hegels, und Engels wurde ihr Anhänger. Obgleich Hegel selbst Verehrer des selbstherrschaftlichen preußischen Staates war, in dessen Diensten er als Professor der Berliner Universität stand, war die Lehre Hegels revolutionär. Der Glaube Hegels an die menschliche Vernunft und ihre Rechte und die grundlegende These der Hegelschen Philosophie, dass in der Welt ein beständiger Prozess der Veränderung und Entwicklung stattfinde, brachten jene Schüler des Berliner Philosophen, welche sich nicht mit der Wirklichkeit aussöhnen wollten, zu dem Gedanken, dass auch der Kampf mit der Wirklichkeit, der Kampf mit der bestehenden Ungerechtigkeit und dem herrschenden Übel im Weltgesetz der ewigen Entwicklung wurzeln. Wenn alles sich entwickelt, wenn eine Einrichtung von der anderen abgelöst wird, weshalb sollten das Fortbestehen der Selbstherrschaft des preußischen Königs oder russischen Zaren, die Bereicherung einer nichtigen Minderheit auf Rechnung der riesigen Mehrheit, die Herrschaft der Bourgeoisie über das Volk ewig sein? Die Philosophie Hegels sprach über die Entwicklung des Geistes und der Ideen, sie war idealistisch. Aus der Entwicklung des Geist leitete sie die Entwicklung der Natur, des Menschen und der menschlichen, gesellschaftlichen Beziehungen ab. Marx und Engels, die an den Gedanken Hegels über einen ewigen Prozess der Entwicklung festhielten*, verwarfen die vorgefassten idealistischen Anschauungen; sie wendeten sich dem Leben zu, sie sahen, dass nicht die Entwicklung des Geistes die Entwicklung der Natur erklärt, sondern umgekehrt – der Geist aus der Natur, der Materie zu erklären ist … Im Gegensatz zu Hegel und anderen Hegelianern waren Marx und Engels Materialisten. Indem sie die Welt und die Menschheit materialistisch betrachteten, sahen sie, dass so, wie als Grundlage aller Erscheinungen der Natur Materielles zugrunde liegt, so auch die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft von der Entwicklung der materiellen, der Produktivkräfte bedingt wird. Von der Entwicklung der Produktivkräfte hängen die Beziehungen ab, in welchen Menschen zueinander bei der Produktion der Gegenstände stehen, die für die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse notwendig sind. Und in diesen Beziehungen liegt die Erklärung aller Erscheinungen des Gesellschaftslebens, der menschlichen Bestrebungen, Ideen und Gesetze. Die Entwicklung der Produktivkräfte schafft Gesellschaftsbeziehungen, die sich auf das Privateigentum stützen, aber jetzt sehen wir, wie diese Entwicklung der Produktivkräfte der Mehrheit das Eigentum wegnimmt und es in den Händen einer nichtigen Minderheit konzentriert. Sie vernichtet das Eigentum, die Grundlage der zeitgenössischen Gesellschaftsordnung, sie selbst strebt demselben Ziel zu, welches sich die Sozialisten gestellt haben. Die Sozialisten müssen nur verstehen, welche gesellschaftliche Kraft gemäß ihrer Lage in der zeitgenössischen Gesellschaft an der Durchführung des Sozialismus interessiert ist, und dieser Kraft das Bewusstsein ihrer Interessen und historischen Aufgabe übermitteln. Eine solche Kraft ist das Proletariat. Mit ihm machte sich Engels in England bekannt, im Zentrum der englischen Industrie, in Manchester, wohin er im Jahre 1842 übersiedelte, wo er in den Dienst des Handelshauses trat, dessen Teilhaber sein Vater war. Hier saß Engels nicht nur im Fabrikkontor – er ging in die schmutzigen Viertel, wo die Arbeiter hausten, sah mit seinen eigenen Augen ihr Elend und Unheil. Aber er begnügte sich nicht mit persönlichen Beobachtungen, er las alles, was es bis zu ihm über die Lage der englischen Arbeiterklasse gab, er studierte sorgsam alle ihm zugänglichen offiziellen Dokumente. Die Frucht dieses Studiums und dieser Beobachtungen war das im Jahre 1845 erschienene Buch: „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“. Wir erwähnten schon oben, worin das Hauptverdienst von Engels als Autor der „Lage der arbeitenden Klasse in England“ bestand. Auch vor Engels schilderten sehr viele die Leiden des Proletariats und wiesen auf die Notwendigkeit hin, ihm zu helfen. Engels sagte als erster, dass das Proletariat nicht nur eine leidende Klasse ist; dass genau die schändliche ökonomische Lage, in welcher sich das Proletariat befindet, es unaufhaltsam vorwärts stößt und es nötigt, für seine endgültige Befreiung zu kämpfen. Aber das kämpfende Proletariat wird sich selbst helfen. Die politische Bewegung der Arbeiterklasse wird die Arbeiter unausweichlich zu dem Bewusstsein dessen bringen, dass es für sie keinen Ausweg außer dem Sozialismus gibt. Auf der anderen Seite wird der Sozialismus nur dann eine Kraft, wenn er das Ziel des politischen Kampfes der Arbeiterklasse werden wird. Das sind die grundlegenden Gedanken des Buches von Engels über die Lage der Arbeiterklasse in England. Diese Gedanken hat sich jetzt das ganze denkende und kämpfende Proletariat angeeignet, aber damals waren sie vollkommen neu. Diese Gedanken wurden in dem mitreißend niedergeschriebenen Buch voll wahrheitsgetreuester und erschütterndster Bilder des Unheils des englischen Proletariats dargelegt. Dieses Buch war eine furchtbare Anklage des Kapitalismus und der Bourgeoisie. Der Eindruck des Werkes war sehr groß. Auf das Buch Engels berief man sich überall als auf das beste Bild der Lage des zeitgenössischen Proletariats. Und wirklich, weder bis zum Jahre 1845 noch später erschien eine solch leuchtend und wahrhaftige Schilderung des Unheils der Arbeiterklasse.

Zum Sozialisten wurde Engels erst in England. In Manchester trat er in Verbindung mit Aktiven der damaligen englischen Arbeiterbewegung und schrieb in englischen sozialistischen Publikationen. Im Jahre 1844 kehrt er nach Deutschland zurück und machte sich auf dem Weg in Paris mit Marx bekannt, mit welchem bei ihm schon vorher ein Briefwechsel in Gang kam. Marx wurde in Paris unter dem Einfluss der französischen Sozialisten und des französischen Lebens ebenfalls zum Sozialisten. Hier schrieben die Freunde miteinander das Buch: „Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik“. In diesem Buch, das ein Jahr vor der „Lage der arbeitenden Klasse in England“ erschien und zum größeren Teil von Marx geschrieben wurde, legte die Grundlage jenes revolutionär-materialistischen Sozialismus, dessen Hauptgedanken wir oben darlegten. „Heilige Familie“ ist ein scherzhafter Beiname der Philosophen-Brüder Bauer mit ihren Anhänger*innen. Diese Herren predigten eine Kritik, welche höher als jede Wirklichkeit steht, höher als Parteien und Politik, jede praktische Tätigkeit leugnet und bloß die umgebende Welt und die in ihr vorgehenden Ereignisse „kritisch" betrachtet. Herr Bauer richtete von oben herab über das Proletariat als über eine unkritische Masse. Dieser unsinnigen und schädlichen Richtung traten Marx und Engels entschlossen entgegen. Im Namen der wirklichen menschlichen Persönlichkeit des von den herrschenden Klassen und dem Staat niedergetretenen Arbeiters, fordern sie nicht Betrachtung, sondern Kampf für die beste Einrichtung der Gesellschaft. Eine einen solchen Kampf zu führen fähige und an ihm interessierte Kraft sehen sie sicherlich in Proletariat. Schon vor der „Heiligen Familie" veröffentlichte Engels in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" von Marx und RugeUmrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“, in welcher er aus dem Blickwinkel des Sozialismus grundlegende Erscheinungen der zeitgenössischen ökonomischen Ordnung als notwendige Folgen der Herrschaft des Privateigentums betrachtete. Der Umgang mit Engels trug ganz offenkundig dazu bei, dass Marx entschied, sich mit politischer Ökonomie zu befassen, jener Wissenschaft, in welcher seine Arbeiten eine ganze Umwälzung erzeugten.

Die Zeit vom Jahre 1845 bis zum Jahre 1847 verbrachte Engels in Brüssel und Paris, verband die wissenschaftliche Beschäftigung mit praktischer Tätigkeit im Umfeld der deutschen Arbeiter in Brüssel und Paris. Hier traten Engels und Marx in Beziehung zu dem geheimen deutschen „Bund der Kommunisten, welcher sie beauftragte, die grundlegenden Prinzipien des von ihnen erarbeiteten Sozialismus darzulegen. So entstand das berühmte im Jahre 1848 veröffentlichte „Manifest der Kommunistischen Partei" von Marx und Engels. Dieses kleine Büchlein steht für ganze Bände: Sein Geist belebt und bewegt bis jetzt das ganze organisierte und kämpfende Proletariat der zivilisierten Welt.

Die zuerst in Frankreich ausgebrochene, aber danach auch auf andere Länder Westeuropa ausgreifende Revolution im Jahre 1848 brachte Marx und Engels in die Heimat. Hier, in Rheinpreußen, wurden sie Häupter der demokratischen in Köln herausgegebenen „Neuen Rheinischen Zeitung". Die beiden Freunde waren die Seele aller revolutionär-demokratischen Bestrebungen in Rheinpreußen. Bis zur letzten Möglichkeit setzen sie sich für die Interessen des Volkes und der Freiheit gegen die reaktionären Kräfte ein. Letztere siegten bekanntlich. Die „Neue Rheinische Zeitung" wurde verboten, Marx, der in der Zeit seines Emigrantenlebens das preußische Staatsangehörigkeitsrecht verlor hatte, wurde ausgewiesen, aber Engels nahm an bewaffneten Volksaufständen teil, kämpfte in drei Schlachten für die Freiheit und flüchtete nach der Niederlage der Aufständischen über die Schweiz nach London. Dort hatte sich auch Marx angesiedelt. Engels wurde bald erneut Handlungsgehilfe, aber danach auch Teilhaber jenes Handelshauses in Manchester, in welchem er in den 40er Jahren diente. Bis zum Jahre 1870 lebte er in Manchester, aber Marx in London, was sie nicht hinderte, sich in lebendigstem geistigen Umgang zu befinden: sie schrieben sich beinahe täglich. In diesem Briefwechsel tauschten die Freunde ihre Ansichten und ihre Kenntnisse aus und führten miteinander die Ausarbeitung des wissenschaftlichen Sozialismus weiter. Im Jahre 1870 siedelte sich Engels in London an und bis zum Jahre 1883, als Marx verstarb, ging ihr gemeinsames geistigen Leben voll angespannter Arbeit weiter. Deren Frucht war auf Seiten von Marx das „Kapital", das größte politisch-ökonomische Werk unseres Jahrhunderts, auf Seiten von Engels eine ganze Reihe großer und kleiner Werke. Marx arbeitete an der Auswertung der verwickelten Erscheinungen der kapitalistischen Wirtschaft. Engels beleuchtete in überaus leicht geschriebenen, nicht selten polemischen Arbeiten die allgemeinsten wissenschaftlichen Fragen und verschiedene Erscheinungen der Vergangenheit und Gegenwart – im Geist der materialistischen Geschichtsauffassung und ökonomischen Theorie von Marx. Von diesen Arbeiten von Engels seien genannt: das polemische Werk gegen Dühring (hier werden die größten Fragen aus dem Gebiet der Philosophie, Naturwissenschaften und Gesellschaftswissenschaften untersucht)**, „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats" (übersetzt in die russische Sprache, herausgegeben in St. Petersburg, 3. Aufl., 1895), „Ludwig Feuerbach" (russische Übersetzung mit Anmerkungen G. Plechanows, Genf, 1892), Artikel über die auswärtige Politik der russischen Regierung (übersetzt in die russische Sprache vom Genfer „Sozialdemokrat" Nr. 1 und 2), hervorragende Artikel über die Wohnungsfrage, schließlich, zwei kleine, aber sehr wertvolle Artikel über die ökonomische Entwicklung Russlands („Friedrich Engels über Russland", übersetzt in die russische Sprache von W. I. Sassulitsch, Genf, 1894). Marx starb, ohne es zu schaffen, seine riesige Arbeit über das Kapital abschließend zu bearbeiten. Im Entwurf war sie jedoch schon fertig und jetzt nahm Engels nach dem Tod des Freundes die schwere Arbeit der Bearbeitung und Veröffentlichung des II. und III. Bandes des „Kapitals" auf sich. Im Jahre 1885 gab er den II., im Jahre 1894 den III. Band heraus (den IV. Band zu bearbeiten, schaffte er nicht mehr). Die Arbeiten an diesen zwei Bänden erforderte sehr viel. Der österreichische Sozialdemokrat Adler bemerkte richtig, dass Engels mit der Veröffentlichung des II. und III. Bandes des „Kapital" seinem genialen Freund ein imposantes Denkmal errichtete, in welches er seinen eigenen Namen unwillkürlich mit unauslöschlichen Linien eingrub. Wirklich, diese zwei Bände „Kapital" sind die Arbeit von zweien: von Marx und Engels. Alte Überlieferungen erzählen von verschiedenen rührenden Beispielen von Freundschaft. Das europäische Proletariat kann sagen, dass seine Wissenschaft von zwei Gelehrten und Kämpfern geschaffen wurde, deren Beziehung alle rührendsten Sagen der Antike über menschliche Freundschaft übertrifft. Engels stellte sich immer – und im Allgemeinen vollkommen zurecht – hinter Marx. „Bei Marx“ – schrieb er einem alten Freund – „spielte ich die zweite Geige"2. Seine Liebe zum lebendigen Marx und seine Ehrfurcht vor dem Gedächtnis des Gestorbenen waren grenzenlos. Dieser raue Kämpfer und strenge Denker besaß eine tief liebende Seele.

Nach der Bewegung der Jahre 1848-1849 beschäftigten sich Marx und Engels im Exil nicht nur mit der Wissenschaft. Marx schuf im Jahre 1864 die „Internationale Arbeiterassoziation" und leitete diese Assoziation im Verlauf eines ganzen Jahrzehnts. Lebendigen Anteil an ihren Angelegenheiten nahm ebenso auch Engels. Die Tätigkeit der „Internationalen Assoziation", die nach den Ideen von Marx die Proletarier aller Länder vereinigen sollte, besaß riesige Bedeutung in der Entwicklung der Arbeiterbewegung. Aber auch mit der Schließung der „Internationalen Assoziation" in den 70er Jahren war die vereinigende Rolle von Marx und Engels nicht beendet. Umgekehrt kann man sagen, dass ihre Bedeutung als geistige Leiter der Arbeiterbewegung beständig größer wurde, weil auch die Bewegung selbst ununterbrochen wuchs. Nach dem Tod von Marx fuhr Engels allein als Ratgeber und Leiter der europäischen Sozialisten fort. An ihn wendeten sich wegen Rat und Weisungen gleichermaßen sowohl deutsche Sozialisten, deren Kraft sich trotz Regierungsverfolgungen schnell und ununterbrochen vergrößerte, als auch Vertreter rückständiger Länder – z.B. Spanier, Rumänen, Russen, welche ihre ersten Schritte überdenken und erwägen mussten. Sie alle schöpften aus der reichen Schatzkammer des Wissens und der Erfahrung des alten Engels.

Marx und Engels, welche beide die russische Sprache kannten und russische Bücher lasen, interessierten sich lebhaft für Russland, folgten der russischen revolutionären Bewegung mit Mitgefühl und unterhielten Verbindungen zu russischen Revolutionären. Sie beide wurden von Demokraten zu Sozialisten, und das demokratische Gefühl des Hasses auf politische Willkür war in ihnen außerordentlich kräftig. Dieses unmittelbare politische Gefühl zusammen mit tiefem theoretischem Verständnis für die Verbindung von politischer Willkür mit ökonomischer Bedrückung, aber ebenso ihre reiche Lebenserfahrung machten Marx und Engels ungewöhnlich einfühlsam gerade in politischen Beziehungen. Darum fand der heroische Kampf des kleinen Häufchens der russischen Revolutionäre mit der machtvollen Zarenregierung in den Seelen dieser erprobten Revolutionäre den mitfühlendsten Widerhall. Umgekehrt erschien der Anspruch, sich wegen vermeintlicher ökonomischer Vorteile von den unmittelbarsten und wichtigsten Aufgaben der russischen Sozialisten – die Erringung der politischen Freiheit – abzuwenden, in ihren Augen natürlich verdächtig und sie erachteten ihn sogar geradewegs als Verrat an der großen Sache der sozialen Revolution. „Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein" - das lehrten Marx und Engels beständig.3 Aber um für seine ökonomische Befreiung zu kämpfen, muss sich das Proletariat bestimmte politische Rechte erringen. Außerdem sahen sowohl Marx als auch Engels klar, dass auch für die westeuropäische Arbeiterbewegung die politische Revolution in Russland riesige Bedeutung besitzen werde. Das selbstherrschaftliche Russland war immer das Bollwerk der ganzen europäischen Reaktion. Die ungewöhnlich vorteilhafte internationale Lage, in welche Russland durch den Krieg des Jahres 1870 gestellt war, der für lange Zeit Zwietracht zwischen Deutschland und Frankreich hervorrief, vergrößerte sicherlich nur die Bedeutung des selbstherrschaftlichen Russlands als reaktionärer Kraft. Nur ein freies Russland, das weder der Bedrückung der Polen, Finnen, Deutschen, Armenier und anderer kleiner Völker noch des beständigen Aufeinanderhetzens von Frankreich und Deutschland bedarf, wird dem zeitgenössischen Europa ein von Kriegsbürden freies Aufatmen geben, alle reaktionären Elemente in Europa schwächen und die Kraft der europäischen Arbeiterklasse vergrößern. Deshalb wünschte Engels auch für den Erfolg der Arbeiterbewegung im Westen die Einführung der politischen Freiheit in Russland heiß. Die russischen Revolutionäre büßten in ihm ihren besten Freund ein.

Ewiges Gedenken Friedrich Engels, dem großen Kämpfer und Lehrer des Proletariats!

1 Das Motto zu seinem Artikel „Friedrich Engels" hat Lenin N. A. Nekrassows Gedicht „Dem Andenken Dobroljubows" entnommen. Siehe N. A. Nekrassow, Vollständige Ausgabe der Gedichte, Bd. II, 1948, S. 200, russ.

* Marx und Engels wiesen nicht nur einmal darauf hin, dass sie in ihrer Geistesentwicklung viel den großen deutschen Philosophen und insbesondere Hegel verdankten. „Ohne die deutsche Philosophie“ – sagt Engels – „gäbe es auch keinen wissenschaftlichen Sozialismus“. [wörtlich: „Ohne Vorausgang der deutschen Philosophie, namentlich Hegels, wäre der deutsche wissenschaftliche Sozialismus - der einzige wissenschaftliche Sozialismus, der je existiert hat - nie zustande gekommen.“]

** Dies ist ein erstaunlich inhaltsreiches und lehrreiches Buch. Von ihm wurde zu unserem Bedauern nur ein kleiner, einen historischen Abriss der Entwicklung des Sozialismus („Die Entwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus", 2. Aufl., Genf, 1892) enthaltenden Teil in die russische Sprache übersetzt.

2 Brief an J. Ph. Becker vom 15. Oktober 1884, wörtlich: „Ich habe mein Leben lang das getan, wozu ich gemacht war, nämlich zweite Violine spielen und glaube auch meine Sache ganz passabel gemacht zu haben."

3wörtlich: „dass die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muss"

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