I. 6. Die Marxsche Theorie der Realisierung

6. Die Marxsche Theorie der Realisierung

Aus dem oben Gesagten geht bereits hervor, dass die grundlegenden Voraussetzungen der Marxschen Theorie in den folgenden zwei Sätzen bestehen. Erstens: Das Gesamtprodukt eines kapitalistischen Landes besteht ebenso wie jedes einzelne Produkt aus drei Teilen: 1. konstantes Kapital, 2. variables Kapital, 3. Mehrwert. Für jeden, der mit der Analyse des Produktionsprozesses des Kapitals im I. Bande des „Kapital" von Marx vertraut ist, versteht sich dieser Satz von selbst. Der zweite Satz lautet: es ist notwendig, die kapitalistische Produktion in zwei große Abteilungen zu teilen, und zwar: (I. Abteilung) die Produktion der Produktionsmittel – der Gegenstände, die der produktiven Konsumtion dienen, d. h. der Produktion zugeführt, nicht von Personen, sondern vom Kapital verbraucht werden, und (II. Abteilung) die Produktion von Konsumtionsmitteln, d. h. von Gegenständen, die in die individuelle Konsumtion eingehen.

Schon in dieser Einteilung liegt mehr theoretischer Sinn als in allen vorangegangenen Wortfechtereien über die Theorie des Marktes" (Bulgakow, a a. O., S. 27).

Es entsteht die Frage, warum eine solche Einteilung der Produkte nach ihrer Naturalform gerade jetzt, bei der Analyse der Reproduktion des gesellschaftlichen Kapitals, notwendig ist, da doch die Analyse der Produktion und der Reproduktion des individuellen Kapitals ohne diese Einteilung möglich war und dort die Frage nach der Naturalform des Produktes nicht aufgeworfen wurde. Aus welchem Grunde dürfen wir bei der theoretischen Untersuchung der kapitalistischen Wirtschaft die Frage nach der Naturalform des Produktes stellen, wo diese Wirtschaft doch ausschließlich auf dem Tauschwert des Produktes beruht? Es liegt dies daran, dass bei der Analyse der Produktion des individuellen Kapitals die Frage, wie und wo das Produkt verkauft wird, wo und wie die Konsumtionsmittel von den Arbeitern und die Produktionsmittel von den Kapitalisten gekauft werden, beiseite gelassen wurde, weil sie nichts mit der Analyse zu tun hatte und für sie belanglos war. Dort stand nur die Frage nach dem Wert der einzelnen Elemente der Produktion und nach dem Ergebnis der Produktion zur Untersuchung. Jetzt handelt es sich gerade um die Frage: woher nehmen die Arbeiter und Kapitalisten ihre Konsumtionsmittel? Wo beschaffen die Kapitalisten ihre Produktionsmittel? Auf welche Weise genügt das hergestellte Produkt allen diesen Anforderungen und ermöglicht die Erweiterung der Produktion? Hier kommt folglich „nicht nur Wertersatz, sondern Stoffersatz" („Das Kapital", Bd. II, S. 369) in Frage, und darum ist eine Unterscheidung der Produkte, die im Prozess der gesellschaftlichen Wirtschaft eine durchaus verschiedenartige Rolle spielen, unbedingt notwendig. Stehen diese grundlegenden Sätze einmal fest, dann bereitet die Frage der Realisierung des gesellschaftlichen Produktes in der kapitalistischen Gesellschaft keine Schwierigkeiten mehr. Nehmen wir zuerst die einfache Reproduktion, d. h. die Wiederholung des Produktionsprozesses auf gleichbleibender Stufenleiter, das Fehlen der Akkumulation. Es ist klar, dass das variable Kapital und der Mehrwert der II. Abteilung (die die Form von Konsumtionsmitteln haben) durch die individuelle Konsumtion der Arbeiter und Kapitalisten dieser Abteilung realisiert werden (denn die einfache Reproduktion setzt voraus, dass der gesamte Mehrwert konsumiert wird und dass kein Teil von ihm in Kapital verwandelt wird). Weiter, das variable Kapital und der Mehrwert, die in Form von Produktionsmitteln bestehen (I. Abteilung), müssen zum Zweck ihrer Realisierung in Konsumtionsmittel für die Arbeiter und Kapitalisten, die mit der Herstellung der Produktionsmittel beschäftigt sind, eingetauscht werden. Auf der anderen Seite kann auch das konstante Kapital, das in der Form von Konsumtionsmitteln auftritt (II. Abteilung), nicht anders als durch Tausch gegen Produktionsmittel realisiert werden, um im folgenden Jahre erneut der Produktion zugeführt werden zu können. So erhalten wir einen Tausch von variablem Kapital und Mehrwert in Form von Produktionsmitteln gegen konstantes Kapital in Form von Konsumtionsmitteln: die Arbeiter und Kapitalisten (in der Abteilung der Produktionsmittel) empfangen auf diese Weise Subsistenzmittel, während die Kapitalisten (in der Abteilung der Konsumtionsmittel) ihr Produkt absetzen und konstantes Kapital für die neue Produktion erhalten. Bei einfacher Reproduktion müssen diese sich austauschenden Teile einander gleich sein: die Summe des variablen Kapitals und des Mehrwerts in Produktionsmitteln muss dem konstanten Kapital in Konsumtionsmitteln gleich sein. Umgekehrt, wenn man Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter, d. h. Akkumulation annimmt, so muss die erste Größe größer als die zweite sein, da ein Überschuss von Produktionsmitteln vorhanden sein muss, um die neue Produktion zu beginnen. Kehren wir jedoch zur einfachen Reproduktion zurück. Es blieb uns noch ein nicht realisierter Teil des gesellschaftlichen Produkts zurück, nämlich das konstante Kapital in Produktionsmitteln. Es wird teilweise durch Austausch zwischen den Kapitalisten derselben Abteilung realisiert (z. B. Steinkohle wird gegen Eisen ausgetauscht, denn jedes dieser Produkte ist notwendiges Material oder Werkzeug in der Produktion des andern), teilweise auch durch unmittelbare Verwendung in der Produktion (z. B. wird Steinkohle gefördert, um in derselben Unternehmung wieder zur Produktion von Steinkohle verwendet zu werden; Korn in der Landwirtschaft usw.). Was nun die Akkumulation betrifft, so ist deren Ausgangspunkt, wie wir gesehen haben, der Überschuss an Produktionsmitteln (die aus dem Mehrwert der Kapitalisten dieser Abteilung herrühren), der auch die teilweise Verwandlung des in Konsumtionsmitteln vorhandenen Mehrwerts in Kapital verlangte. Im einzelnen die Frage zu untersuchen, wie sich diese zuschüssige Produktion mit der einfachen Reproduktion vereinigt, halten wir für überflüssig. Eine spezielle Untersuchung der Theorie der Realisierung gehört nicht zu unserer Aufgabe. Zur Aufdeckung der Fehler der Narodniki-Ökonomen und Ermöglichung bestimmter Schlüsse über den inneren Markt genügt aber auch das obengesagte.A

Für das uns hier beschäftigende Problem des inneren Marktes besteht die wichtigste Schlussfolgerung aus der Marxschen Realisierungstheorie in folgendem: das Wachstum der kapitalistischen Produktion und folglich auch des inneren Marktes erfolgt nicht so sehr auf Rechnung der Konsumtionsmittel, als auf Rechnung der Produktionsmittel. Mit anderen Worten: das Wachstum der Produktionsmittel überholt das Wachstum der Konsumtionsmittel. Wir sahen in der Tat, dass konstantes Kapital in Konsumtionsmitteln (II. Abteilung) gegen variables Kapital und Mehrwert in Produktionsmitteln (I. Abteilung) ausgetauscht wird. Nun wächst aber nach dem allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Produktion das konstante Kapital rascher als das variable. Folglich muss das konstante Kapital in Konsumtionsmitteln schneller anwachsen als das variable Kapital plus Mehrwert in Konsumtionsmitteln; das konstante Kapital in Produktionsmitteln muss aber am schnellsten wachsen, und sowohl das Anwachsen des variablen Kapitals (+ Mehrwert) in Produktionsmitteln als auch das Wachstum des konstanten Kapitals in Konsumtionsmitteln übersteigen. Die Abteilung der gesellschaftlichen Produktion, die Produktionsmittel herstellt, muss folglich schneller wachsen als die, welche Konsumtionsmittel erzeugt. Damit ist das Wachsen des inneren Marktes für den Kapitalismus vom Wachsen des individuellen Konsums bis zu einem gewissen Grade „unabhängig", indem dieses Wachsen mehr auf Rechnung der produktiven Konsumtion kommt. Es wäre aber falsch, diese „Unabhängigkeit" im Sinne eines vollständigen Losgelöstseins der produktiven von der individuellen Konsumtion zu verstehen: die erstere kann und muss schneller wachsen als die zweite (darauf beschränkt sich auch die „Unabhängigkeit"), aber selbstverständlich bleibt im Endergebnis der produktive Konsum immer in Verbindung mit dem individuellen. Marx äußert hierzu:

Außerdem findet, wie wir gesehen haben (II. Buch, 3. Abschn.) eine beständige Zirkulation statt zwischen konstantem Kapital und konstantem Kapital" … (Marx hat das konstante Kapital in Produktionsmitteln, das durch Austausch innerhalb derselben Abteilung realisiert wird, im Auge) …„die insofern zunächst unabhängig ist von der individuellen Konsumtion, als sie nie in dieselbe eingeht, die aber doch durch sie definitiv begrenzt ist, indem die Produktion von konstantem Kapital nie seiner selbst wegen stattfindet, sondern nur weil mehr davon gebraucht wird in den Produktionssphären, deren Produkte in die individuelle Konsumtion eingehen" („Das Kapital", Bd. III, 1, S. 289).

Diese größere Verwendung konstanten Kapitals ist nichts anderes, als die in der Terminologie des Tauschwertes ausgedrückte höhere Entwicklung der Produktivkräfte, denn der Hauptteil der schnell anwachsenden „Produktionsmittel" besteht aus Rohstoffen, Maschinen, Werkzeugen, Gebäuden und allen sonstigen Einrichtungen für die Großindustrie und im Besonderen für die maschinelle Produktion. Ganz natürlich ist deshalb, dass die kapitalistische Produktion, die die Produktivkräfte der Gesellschaft entwickelt und die Großindustrie wie auch die maschinelle Industrie geschaffen hat, auch durch die besondere Erweiterung desjenigen Teiles des gesellschaftlichen Reichtums gekennzeichnet ist, der aus Produktionsmitteln besteht.

Was hier" (nämlich bei der Herstellung von Produktionsmitteln) „die kapitalistische Gesellschaft vom Wilden unterscheidet, ist nicht, wie Senior meint, dass es das Privilegium und die Eigenheit des Wilden sei, seine Arbeit zu verausgaben in gewisser Zeit, die ihm keine in Revenue, d. h. in Konsumtionsmittel auflösbare (umsetzbare) Früchte verschafft, sondern der Unterschied besteht darin:

a) Die kapitalistische Gesellschaft verwendet mehr ihrer disponiblen Jahresarbeit in Produktion von Produktionsmitteln (ergo von konstantem Kapital), die weder unter der Form von Arbeitslohn noch von Mehrwert in Revenue auflösbar sind, sondern nur als Kapital fungieren können.

b) Wenn der Wilde Bogen, Pfeile, Steinhämmer, Äxte, Körbe usw. macht, so weiß er ganz genau, dass er die so verwandte Zeit nicht auf Herstellung von Konsumtionsmitteln verwendet hat, dass er also seinen Bedarf an Produktionsmitteln gedeckt hat und weiter nichts" („Das Kapital", Bd. II, S. 414),

Dieses „genaue Wissen" um ihr Verhältnis zur Produktion hat die kapitalistische Gesellschaft eingebüßt durch den ihr eigenen Fetischismus, der das gesellschaftliche Verhältnis der Menschen in Form eines Verhältnisses von Produkten darstellt – durch die Verwandlung eines jeden Produktes in Ware, die für einen unbekannten Verbraucher produziert wird und auf einem unbekannten Markt zur Realisierung gelangt. Und da es dem einzelnen Unternehmer ganz gleichgültig ist, was für eine Art von Gegenständen er produziert – denn jedes Produkt gibt „Einkommen" –, so wurde derselbe oberflächliche, individuelle Standpunkt von den Theoretikern auch der gesamten Gesellschaft gegenüber eingenommen und verhinderte das Verständnis dafür, wie sich der Prozess der Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtproduktes in der kapitalistischen Wirtschaft vollzieht.

Dass die Entwicklung der Produktion (und folglich auch des inneren Marktes) hauptsächlich auf Rechnung der Produktionsmittel erfolgt, erscheint paradox und birgt zweifelsohne einen Widerspruch in sich. Es ist dies eine wirkliche „Produktion für die Produktion", eine Erweiterung der Produktion ohne entsprechende Erweiterung der Konsumtion. Aber dies ist nicht der Widerspruch einer Doktrin, sondern ein Widerspruch des wirklichen Lebens; eben ein Widerspruch, der ganz der Natur des Kapitalismus und den sonstigen Widersprüchen dieses Systems gesellschaftlicher Wirtschaft entspricht. Gerade diese Erweiterung der Produktion ohne entsprechende Erweiterung der Konsumtion entspricht auch der historischen Mission des Kapitalismus und seiner gesellschaftlichen Struktur: seine Mission besteht in der Entwicklung der Produktivkräfte der Gesellschaft; seine Struktur schließt die Nutzbarmachung dieser technischen Errungenschaften für die Massen der Bevölkerung aus. Zwischen dem grenzenlosen Streben nach Erweiterung der Produktion, das dem Kapitalismus wesenhaft ist, und der begrenzten Konsumtion der Volksmassen (begrenzt infolge ihrer proletarischen Lage) besteht zweifellos ein Widerspruch. Gerade diesen Widerspruch konstatiert auch Marx in den Sätzen, die die Narodniki so gern als angebliche Bekräftigung ihrer Anschauungen über die Verengerung des inneren Marktes, über das nicht fortschrittliche Wesen des Kapitalismus usw. usw. anführen. Hier einige von diesen Sätzen:

Widerspruch in der kapitalistischen Produktionsweise: Die Arbeiter als Käufer von Ware sind wichtig für den Markt. Aber als Verkäufer ihrer Ware – der Arbeitskraft – hat die kapitalistische Gesellschaft die Tendenz, sie auf das Minimum des Preises zu beschränken" („Das Kapital", Bd. II, S. 289).

Die Bedingungen der Realisation… sind … beschränkt… durch die Proportionalität der verschiedenen Produktionszweige und durch die Konsumtionskraft der Gesellschaft… Je mehr sich aber die Produktivkraft entwickelt, um so mehr gerät sie in Widerstreit mit der engen Basis, worauf die Konsumtionsverhältnisse beruhen" (ebenda, Bd. III, 1, S. 225 f.). „Die Schranken, in denen sich die Erhaltung und Verwertung des Kapitalwerts, die auf der Enteignung und Verarmung der großen Masse der Produzenten beruht, allein bewegen kann, diese Schranken treten daher beständig in Widerspruch mit den Produktionsmethoden, die das Kapital zu seinem Zweck anwenden muss, und die auf unbeschränkte Vermehrung der Produktion, auf die Produktion als Selbstzweck, auf unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit lossteuern … Wenn daher die kapitalistische Produktionsweise ein historisches Mittel ist, um die materielle Produktivkraft zu entwickeln und den ihr entsprechenden Weltmarkt zu schaffen, ist sie zugleich der beständige Widerspruch zwischen dieser ihrer historischen Aufgabe und den ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen" (Bd. III, 1, S. 232). „Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde".B (Bd. III, 2, S. 21).

In allen diesen Sätzen wird der obenerwähnte Widerspruch zwischen dem schrankenlosen Streben nach Produktionserweiterung und der Beschränktheit des Konsums festgestellt und nichts weiter.C Nichts wäre sinnloser, als aus diesen Stellen des „Kapital" abzuleiten, dass Marx die Möglichkeit, den Mehrwert in der kapitalistischen Gesellschaft zu realisieren, bestritten, die Krisen durch ungenügenden Konsum erklärt hätte usw. Die Marxsche Analyse der Realisierung zeigte, „dass die Zirkulation zwischen konstantem Kapital und konstantem Kapital … durch sie (durch die individuelle Konsumtion) definitiv begrenzt ist," doch deckte dieselbe Analyse den wahren Charakter dieser „Begrenzung" auf und zeigte, dass die Konsumtionsmittel bei der Bildung des inneren Marktes im Vergleich zu den Produktionsmitteln eine kleinere Rolle spielen. Und schließlich gibt es nichts Abgeschmackteres, als aus den Widersprüchen des Kapitalismus auf seine Unmöglichkeit, sein nicht fortschrittliches Wesen usw. zu schließen – das ist Flucht aus der unangenehmen, aber unbezweifelbaren Wirklichkeit in die Wolkenreiche romantischer Phantasien. Der Widerspruch zwischen dem schrankenlosen Streben nach Erweiterung der Produktion und der Beschränktheit der Konsumtion ist nicht der einzige Widerspruch des Kapitalismus, der überhaupt ohne Widersprüche weder existieren noch sich entwickeln kann. Die Widersprüche des Kapitalismus zeugen von seinem historisch-vergänglichen Charakter, erklären die Bedingungen und Ursachen seines Zerfalls und seiner Umwandlung in eine höhere Form, – aber sie schließen weder die Möglichkeit des Kapitalismus noch seine Fortschrittlichkeit im Vergleich zu den vorangegangenen Systemen gesellschaftlicher Wirtschaft irgendwie aus.D

A Siehe „Das Kapital", Bd. II, 3. Abschn., wo sowohl die Akkumulation als auch die Verteilung der Konsumtionsmittel in Gegenstände des täglichen Bedarfs und Luxusartikel, weiter die Geldzirkulation und die Abnutzung des Grundkapitals usw. genau untersucht werden. Dem Leser, dem es nicht möglich ist, sich mit dem II. Bande des „Kapital" vertraut zu machen, empfehlen wir die Behandlung der Marxschen Theorie der Realisierung in dem oben zitierten Buche von S. Bulgakow. {Die Auslegung der Marxschen Realisierungstheorie befindet sich in den ersten sieben Kapiteln des Buches von S. Bulgakow, „Der Markt bei kapitalistischer Produktion" – Theoretische Studie. Verlag von M. I. Wodowosowa, Moskau 1897.} Bulgakows Darstellung ist zufriedenstellender als die von Tugan-Baranowski („Industriekrisen", S. 407–438), der äußerst unglückliche Abweichungen von Marx in der Aufstellung seiner Schemata macht und Marx' Theorie ungenügend erklärt17, besser auch als die Darstellung von A. Skworzow („Grundlagen der politischen Ökonomie", Petersburg 1898, S. 281–295), der in den äußerst wichtigen Fragen des Profits und der Rente falsche Auffassungen vertritt. {Seine Meinung über das Buch Tugan-Baranowskis „Die Industriekrisen" brachte Lenin bereits beim ersten Lesen des Buches in einem Brief aus dem Gefängnis an A. I. Jelisarowa vom 16. Januar 1896 zum Ausdruck.}

B Eben diese Stelle zitiert der berühmte (herostratisch berühmte) Eduard Bernstein in seinen „Die Voraussetzungen des Sozialismus usw.", Stuttgart 1899, S. 67. Es versteht sich von selbst, dass unser Opportunist sich bei seinem Übertritt vom Marxismus zu der alten bourgeoisen Volkswirtschaftslehre zu bemerken beeilt, dass hier ein Widerspruch in der Marxschen Krisenlehre vorliege, dass diese Marxsche Auffassung „nicht so sonderlich von der Rodbertusschen Krisentheorie verschieden sei". Tatsächlich besteht jedoch lediglich ein „Widerspruch" zwischen den Ansprüchen Bernsteins auf der einen und seinem gedankenlosen Eklektizismus und Nichtverstehenwollen der Marxschen Theorie auf der andern Seite. Wie wenig Bernstein die Realisierungstheorie von Marx verstanden hat, das geht aus seiner wahrhaft lächerlichen Behauptung hervor, dass das enorme Wachsen der Masse des Mehrprodukts notwendigerweise das Anwachsen der Zahl der Besitzenden (oder die Steigerung des Wohlstandes der Arbeiter) bedeute, denn die Kapitalisten selbst – belieben Sie, dies zu beachten – samt ihrer „Dienerschaft" (sic! S. 51 u. 52) vermögen nicht das ganze Mehrprodukt zu „konsumieren"!! {Ende der neunziger Jahre änderte Bernstein ganz erheblich seine theoretische Stellung, indem er die philosophische und ökonomische Lehre von Marx einer radikalen „Revision" unterzog. Anfangs in Zeitschriftenartikeln und später in dem im Jahre 1899 erschienenen Buche „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie" erklärte Bernstein, dass das theoretische System von Marx in allen seinen Teilen „revisionsbedürftig" sei. Am Ende des III. Kapitels des erwähnten Buches findet sich ein besonderer Paragraph: „Die Krisen und die Anpassungsmöglichkeiten der modernen Wirtschaft", gegen dessen Thesen Lenin sich denn auch wendet.

Das Buch Bernsteins gelangte erst nach Erscheinen der ersten Ausgabe der „Entwicklung des Kapitalismus in Russland" in Lenins Hände. In dem Briefe an Potressow vom 27. Juni 1899, d. h. drei Monate nach Erscheinen des Buches „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland" schreibt er: „Bernstein habe ich noch immer nicht zu Gesicht bekommen". (Lenin-Sammelbuch Nr. 4.) Darum sind auch die Bemerkungen über das Buch von Bernstein erst in der zweiten Ausgabe des Buches erschienen.}

C Irrtümlich ist die Annahme von Tugan-Baranowski, dass Marx durch Aufstellung dieser Behauptung in Widerspruch zu seiner eigenen Analyse der Realisierung gerät („Mir Boschi", 1898, Nr. 6, S. 123, in dem Artikel „Kapitalismus und Markt"). Ein Widerspruch ist bei Marx nicht vorhanden, da auch in der Analyse der Realisierung auf den Zusammenhang zwischen der produktiven und der individuellen Konsumtion hingewiesen wird.

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