I. Das „Gesetz" des abnehmenden Bodenertrages

I. Das „Gesetz" des abnehmenden Bodenertrages

Betrachten wir zunächst einmal die allgemeine theoretische Physiognomie der Kritiker. Herr Bulgakow hat schon in der Zeitschrift „Natschalo" einen Artikel gegen Kautskys „Agrarfrage" veröffentlicht1 und sogleich alle seine „kritischen" Methoden offenbart. Mit der größten Schneidigkeit und der Unverfrorenheit eines echten Jockeys „erledigt" er Kautsky, wobei er ihm Behauptungen unterstellt, die dieser nicht geäußert, und ihn beschuldigt, Umstände und Argumente ignoriert zu haben, die gerade Kautsky eingehend erörtert hat, während dem Leser Kautskys Schlussfolgerungen als eigene Schlussfolgerungen des Verfassers vorgesetzt werden. Mit Kennermiene beschuldigt Herr Bulgakow Kautsky der Vermengung von Technik und Wirtschaft, während er selbst dabei nicht nur eine unglaubliche Konfusion an den Tag legt, sondern überdies noch einen mangelnden Willen offenbart, die von ihm zitierten Seiten bei seinem Gegner zu Ende zu lesen. Es versteht sich von selbst, dass es im Artikel des zukünftigen Professors von abgedroschenen Ausfällen gegen die Sozialisten, gegen die „Zusammenbruchstheorie", Utopismus, Wunderglauben usw. nur so wimmeltA. In seiner Doktordissertation („Kapitalismus und Landwirtschaft", Petersburg 1900) hat Herr Bulgakow nunmehr endgültig mit dem Marxismus gebrochen und seine „kritische" Entwicklung bis zu ihrem logischen Ende geführt.

An die Spitze seiner „Theorie der landwirtschaftlichen Entwicklung" stellt Bulgakow das „Gesetz des abnehmenden Bodenertrages". Man führt uns Stellen an aus den Werken der Klassiker, die dieses „Gesetz" (wonach jede zusätzliche Anlage von Arbeit und Kapital auf den Boden nicht eine entsprechende, sondern eine abnehmende Ertragsmenge erziele) aufgestellt haben; man präsentiert uns eine Liste englischer Nationalökonomen, die dieses Gesetz anerkennen; man versichert uns, dass es eine „universelle Geltung habe", dass es eine „durchaus evidente Wahrheit sei, die ganz unmöglich geleugnet werden kann", „die nur unzweideutig konstatiert zu werden braucht" usw. usf. Je entschiedener sich Herr Bulgakow ausdrückt, desto deutlicher wird es, dass er sich zurückentwickelt zur bürgerlichen politischen Ökonomie, die die gesellschaftlichen Beziehungen durch erdachte „ewige Gesetze" verdeckt. In der Tat, worauf läuft denn die „Evidenz" des „berühmten" „Gesetzes des abnehmenden Bodenertrages" hinaus? Darauf, dass, wenn weitere Aufwendungen von Arbeit und Kapital dem Boden nicht eine abnehmende, sondern eine gleiche Ertragsmenge abgewinnen würden, keinerlei Veranlassung vorläge, die Anbaufläche überhaupt auszudehnen, eine zusätzliche Menge an Brotgetreide auf dem bisherigen Bodenareal, wie klein letzteres auch immer sei, erzeugt werden könnte, so dass „die Landwirtschaft des ganzen Erdballs auf einer einzigen Desjatine Platz fände". Dies das übliche (und einzige) Argument zugunsten des „universellen" Gesetzes. Allein schon eine flüchtige Überlegung lehrt, dass dieses Argument eine völlig inhaltsleere Abstraktion darstellt, die das Wichtigste außer acht lässt: den Stand der Technik, die Entwicklungsstufe der Produktivkräfte. Im Grunde setzt doch schon der Begriff „zusätzliche" (oder sukzessive) Anlage von Arbeit und Kapital bereits eine Veränderung der Produktionsweise, eine Verwandlung der Technik voraus. Um in beträchtlichem Maße die Menge des im Boden angelegten Kapitals zu steigern, müssen neue Maschinen, neue Methoden der Feldbestellung, der Viehhaltung, des Transports der Bodenerzeugnisse usw. usw. erfunden werden. Allerdings kann, sofern es sich um einen relativ geringen Umfang handelt, „die zusätzliche Anlage von Arbeit und Kapital" auch auf der Grundlage eines gegebenen, unveränderten Standes der Technik erfolgen (und erfolgt auch). In diesem Falle gilt bis zu einem gewissen Grade auch das „Gesetz des abnehmenden Bodenertrages"; es gilt in dem Sinne, dass ein unveränderter Stand der Technik der zusätzlichen Anlage von Arbeit und Kapital verhältnismäßig sehr enge Grenzen zieht. Anstelle eines universellen Gesetzes erhalten wir mithin ein im höchsten Grade relatives „Gesetz", ein dermaßen relatives, dass weder von einem „Gesetz" noch auch nur von einer grundlegenden Eigentümlichkeit der Landwirtschaft die Rede sein kann. Nehmen wir als gegeben an: Dreifelderwirtschaft, Anbau traditionellen Brotgetreides, Dünger liefernde Viehzucht, Fehlen verbesserter Wiesen und vervollkommneter Geräte. Es ist offensichtlich, dass bei Konstanz dieser Faktoren die zusätzliche Anlage von Arbeit und Kapital auf den Boden nur innerhalb ganz enger Schranken möglich ist. Aber selbst innerhalb der engen Schranken, die eine zusätzliche Anlage von Arbeit und Kapital dennoch gestatten, wird keineswegs immer und unbedingt eine Abnahme der Produktivität einer jeden solchen zusätzlichen Anlage zu beobachten sein. Nehmen wir die Industrie. Vergegenwärtigen wir uns den Mühlenbetrieb oder die Eisenverarbeitung der Zeit vor der Entwicklung des Welthandels und der Erfindung der Dampfmaschine. Beim damaligen Stande der Technik waren die Grenzen der zusätzlichen Anlagen von Arbeit und Kapital in der Handschmiede, der Wind- und Wassermühle sehr eng gezogen. Eine ungeheure Zunahme der Zahl kleiner Schmieden und Mühlen war solange unvermeidlich, bis eine radikale Änderung der Produktionsweise die Grundlage für neue Formen der Industrie geschaffen hatte.

Das „Gesetz des abnehmenden Bodenertrages" ist mithin überhaupt nicht anwendbar in jenen Fällen, wo die Technik fortschreitet, die Produktionsmethoden sich ändern. Es gilt nur sehr relativ und bedingt für jene Fälle, wo die Technik eine unveränderte bleibt. Dies der Grund, warum weder Marx noch die Marxisten von diesem „Gesetz" sprechen. Lärm damit machen nur Vertreter der bürgerlichen Wissenschaft à la Brentano, die von den Vorurteilen der alten politischen Ökonomie mit ihren abstrakten ewigen und naturnotwendigen Gesetzen nun einmal nicht loskommen können.

Herr Bulgakow verteidigt das „Universalgesetz" mit Argumenten, über die man wirklich lachen muss:

Was einst ein freies Geschenk der Natur gewesen, muss nun vom Menschen erzeugt werden. Wind und Regen lockerten den nährstoffreichen Boden, so dass es nur geringer Anstrengungen seitens des Menschen bedurfte, um das Notwendige zu gewinnen. Im Laufe der Zeit entfällt ein immer größerer Anteil der produktiven Arbeit auf den Menschen. Wie überall werden die natürlichen Prozesse immer mehr von den künstlichen Prozessen verdrängt. Wenn dies jedoch in der Industrie den Sieg des Menschen über die Natur bedeutet, so bedeutet es in der Landwirtschaft eine zunehmende Erschwerung der Existenz, für die die Natur ihre Gaben einschränkt.

In vorliegendem Falle ist es gleichgültig, ob es die Vermehrung der menschlichen Arbeit oder die Vermehrung der Erzeugnisse derselben, z. B. der Produktionsmittel oder des Düngers usw., ist, durch die die Erschwerung der Nahrungsmittelerzeugung zum Ausdruck gelangt" (Herr Bulgakow will offenbar sagen: es ist gleichgültig, ob sich die zunehmende Erschwerung der Nahrungsmittelproduktion in der Vermehrung menschlicher Arbeit oder in der Vermehrung der Erzeugnisse derselben äußert), „wesentlich ist lediglich, dass sie für den Menschen immer kostspieliger wird. In diesem Ersatz der Naturkräfte durch menschliche Arbeit, der natürlichen Faktoren der Produktion durch künstliche, besteht eben das Gesetz des abnehmenden Bodenertrags." (S. 16.)

Es scheint, dass die Lorbeeren der Herren Struve und Tugan-Baranowski, die sich zu der Weisheit verstiegen haben, dass nicht der Mensch mit Hilfe der Maschine, sondern die Maschine mit Hilfe des Menschen arbeite, Herrn Bulgakow nicht ruhen lassen. Gleich diesen Kritikern sinkt auch er zum Niveau eines Vulgärökonomen herab, wenn er von einem Ersatz der Naturkräfte durch menschliche Arbeit und dergl. mehr spricht. Naturkräfte durch menschliche Arbeit zu ersetzen, ist, allgemein gesprochen, ebenso unmöglich, wie es unmöglich ist, Meter durch Zentner zu ersetzen. Sowohl in der Industrie als auch in der Landwirtschaft vermag sich der Mensch der Macht der Naturkräfte, sofern er deren Wirken einmal erkannt, nur zu bedienen und die Ausnützung derselben durch Maschinen, Werkzeuge usw. zu erleichtern. Dass dem Urmenschen das Notwendige als freie Gabe der Natur zufloss, ist ein einfältiges Märchen, wofür sogar junge Studenten Herrn Bulgakow auspfeifen können. Es hat nie ein goldenes Zeitalter gegeben, und der Urmensch ächzte förmlich unter dem Drucke der Existenzschwierigkeiten, der Schwierigkeiten des Kampfes mit der Natur. Die Einführung der Maschinen und verbesserter Produktionsmethoden erleichterte dem Menschen diesen Kampf im Allgemeinen und die Produktion von Nahrungsmitteln im Besonderen ganz ungeheuer. Nicht die Schwierigkeit der Nahrungsmittelerzeugung hat zugenommen, sondern die Schwierigkeit der Nahrungsmittelbeschaffung für den Arbeiter; diese aber hat zugenommen, weil die kapitalistische Entwicklung die Grundrente und den Bodenpreis in die Höhe getrieben und die landwirtschaftlichen Betriebe, noch mehr aber Maschinen, Geräte und Geld, ohne die eine erfolgreiche Produktion unmöglich ist, in den Händen großer und kleiner Kapitalisten konzentriert hat. Diese zunehmende Erschwerung der Existenz der Arbeiter damit zu erklären, dass die Natur ihre Gaben vermindere, heißt ein Apologet der Bourgeoisie werden.

Wenn wir dieses Gesetz anerkennen," fährt Herr Bulgakow fort, „so behaupten wir damit keinesfalls das Bestehen einer kontinuierlichen Zunahme der Schwierigkeit der Nahrungsmittelproduktion, bzw. leugnen wir nicht den landwirtschaftlichen Fortschritt. Ersteres zu behaupten oder letzteres zu leugnen, hieße Offensichtliches bestreiten. Es unterliegt keinem Zweifel, dass diese Schwierigkeit nicht kontinuierlich zunimmt; vielmehr vollzieht sich die Entwicklung in einer Zickzacklinie. Agronomische Entdeckungen, technische Vervollkommnungen verwandeln unfruchtbaren Boden in fruchtbaren und heben zeitweilig die im Gesetz des abnehmenden Bodenertrages zum Ausdruck gelangende Tendenz auf." (Ibidem.)

Sehr scharfsinnig, nicht wahr? Der technische Fortschritt – eine „zeitweilige" Tendenz, das Gesetz des abnehmenden Bodenertrages, d. h. der abnehmenden (und selbst das nicht immer) Produktivität der zusätzlichen Anlage von Kapital auf der Grundlage unveränderter Technik dagegen „hat universelle Geltung"! Es ist ganz dasselbe, als wollte man sagen: Das Halten der Züge auf den Stationen stellt ein Universalgesetz des durch Dampfkraft bewerkstelligten Transportes dar, das Rollen der Züge zwischen den Stationen dagegen eine zeitweilige Tendenz, die die Wirkung des universellen Haltegesetzes paralysiert.

Schließlich gibt es aber auch statistische Daten, die die Universalität des Gesetzes des abnehmenden Bodenertrages anschaulich widerlegen, nämlich die Angaben über die landwirtschaftliche und nichtlandwirtschaftliche Bevölkerung. Herr Bulgakow gibt selbst zu, „die Gewinnung der Nahrungsmittel würde eine ständig relativ zunehmende (man beachte!) Menge von Arbeit und folglich eine Zunahme der landwirtschaftlichen Bevölkerung erfordern, sofern jedes Land auf seine natürlichen Hilfsquellen beschränkt bliebe" (19). Wenn also in Westeuropa die landwirtschaftliche Bevölkerung abnimmt, so sei das damit zu erklären, dass es durch die Einfuhr von Brotgetreide gelungen sei, der Wirkung des Gesetzes des abnehmenden Bodenertrages auszuweichen. Fürwahr eine schöne Erklärung! Unser Gelehrter hat nur die Kleinigkeit übersehen, dass eine relative Abnahme der landwirtschaftlichen Bevölkerung in allen kapitalistischen Ländern zu beobachten ist, einschließlich der Agrarländer und der Getreide exportierenden Länder. Die landwirtschaftliche Bevölkerung nimmt in Amerika und in Russland relativ ab, in Frankreich seit dem Ende des XVIII. Jahrhunderts (vergleiche die im gleichen Werke des Herrn Bulgakow, Bd. II, S. 168 angeführten Zahlen) ebenfalls, wobei diese relative Abnahme gelegentlich sogar zu einer absoluten wird, während der Überschuss der Getreideeinfuhr über die Ausfuhr noch in den dreißiger und vierziger Jahren ein ganz minimaler war und erst seit 1878 keine Jahre mehr angetroffen werden, in denen die Ausfuhr die Einfuhr übersteigtB. In Preußen ging die landwirtschaftliche Bevölkerung von 73,5 Prozent im Jahre 1816 auf 71,7 Prozent 1849 und 67,5 Prozent 1871 zurück, während die Einfuhr von Roggen erst zu Beginn der sechziger, die von Weizen zu Beginn der siebziger Jahre einsetzt (a. a. O. II, S. 70 und 88). Betrachten wir schließlich die europäischen Getreide importierenden Länder, z. B. Frankreich und Deutschland im letzten Jahrzehnt, so sehen wir einen unbestreitbaren Aufschwung der Landwirtschaft bei gleichzeitig absoluter Abnahme der Zahl der in ihr beschäftigten Arbeiter. In Frankreich sank diese Zahl in der Zeit von 1882–1892 von 6.913.504 auf 6.663.135 (Stat. agric. II, S. 248–251), in Deutschland in der Zeit von 1882–1895 von 8.064.000 auf 8.045.000C. Mithin beweist die Statistik für die ganze Geschichte des XIX. Jahrhunderts bezüglich der verschiedensten Länder unwiderleglich, dass das „universale" Gesetz des abnehmenden Bodenertrages vollständig paralysiert wird durch die „zeitweilige" Tendenz des technischen Fortschritts, der der relativ (und mitunter sogar absolut) zurückgehenden landwirtschaftlichen Bevölkerung die Möglichkeit bietet, eine wachsende Menge landwirtschaftlicher Produkte entsprechend den Bedürfnissen einer wachsenden Bevölkerung zu erzeugen.

Überdies widerlegt dieses statistische Material gleichzeitig zwei weitere Hauptpunkte der „Theorie" des Herrn Bulgakow, nämlich:

Erstens seine Behauptung, die Theorie des schnelleren Anwachsens des konstanten Kapitals (der Produktionsmittel und Produktionsmaterialien) gegenüber dem variablen (der Arbeitskraft) sei „auf die Landwirtschaft unter keinen Umständen anwendbar". Selbstbewusst erklärt Herr Bulgakow, diese Theorie sei falsch, und beruft sich zur Bekräftigung seiner Ansicht a) auf den „Professor A. Skworzow" (vorzüglich berühmt geworden dadurch, dass er Marx' Theorie der durchschnittlichen Profitrate für eine agitatorische Zwecke verfolgende Erfindung erklärte) und b) auf die Tatsache, dass bei Intensifikation der Wirtschaft die Anzahl der auf die Einheit der Bodenfläche entfallenden Arbeiter zunimmt. Dies ist eine jener bewussten Missdeutungen der Ansichten von Marx, wie sie sich bei den Vertretern der zur Mode gewordenen Kritik durchweg finden. Man denke nur: die Theorie des schnelleren Wachstums des konstanten Kapitals gegenüber dem variablen wird widerlegt durch die Tatsache der Zunahme des variablen Kapitals pro Einheit der Bodenfläche! Und Herr Bulgakow sieht nicht, dass die von ihm selbst in solcher Fülle beigebrachten statistischen Daten just Marx' Theorie bestätigen. Wenn in der gesamten deutschen Landwirtschaft die Zahl der Arbeiter von 1882–1895 von 8.064.000 auf 8.045.000 zurückgegangen ist (bei Berücksichtigung der in der Landwirtschaft nebenberuflich beschäftigten Personen von 11.208.000 auf 11.623.000, d. h. um nur 3,7 Prozent, gestiegen ist), während der Viehbestand in derselben Zeit (in Großvieh umgerechnet) von 23,0 Millionen auf 25,4 Millionen Stück, d. h. um mehr als 10 Prozent, die Anzahl der Fälle der Verwendung der fünf wichtigsten Maschinen von 458.000 auf 922.000, also um mehr als das Doppelte, die eingeführte Düngemittelmenge von 636.000 t (1883) auf 1.961.000 t (1892) und die Menge der Kalisalze von 304.000 Doppelzentner auf 2.400.000 Doppelzentner gestiegen istD – ist es da nicht offensichtlich, dass das konstante Kapital gegenüber dem variablen zunimmt? Ganz zu schweigen davon, dass diese generellen Angaben den Fortschritt des Großbetriebes in weitestgehendem Maße verschleiern. Darüber später.

Zweitens widerlegt der Fortschritt der Landwirtschaft bei Abnahme oder minimaler absoluter Zunahme der landwirtschaftlichen Bevölkerung den törichten Versuch des Herrn Bulgakow, den Malthusianismus zu neuem Leben zu erwecken. Unter den russischen „ehemaligen Marxisten" war es zum ersten Mal wohl Herr Struve, der in seinen „Kritischen Bemerkungen" einen solchen Versuch unternahm, dabei aber, wie gewöhnlich, über schüchterne und zweideutige Halbheiten nicht hinauskam und konsequent zu Ende gedachte und zu einem System zusammengefasste Anschauungen nicht zu entwickeln vermochte. Herr Bulgakow ist beherzter und konsequenter, im Handumdrehen verwandelt sich ihm das „Gesetz des abnehmenden Bodenertrages" in „eines der wichtigsten Gesetze der Geschichte der Zivilisation" (sic! S. 18).

Die gesamte Geschichte des XIX. Jahrhunderts… mit ihren Problemen des Reichtums und der Armut bliebe ohne dieses Gesetz unverständlich." „Für mich steht es außer Zweifel, dass die soziale Frage in ihrer gegenwärtigen Fassung mit diesem Gesetz wesentlich zusammenhängt!" (das erklärt unser strenger Gelehrter bereits auf Seite 18 seiner „Untersuchung") … „Zweifellos", heißt es am Schlusse seines Werkes, „ist bei bestehender Übervölkerung ein gewisser Teil der Armut auf das Konto der absoluten Armut, der Armut der Produktion, nicht aber der Distribution zu setzen" (II, S. 221). „Das Bevölkerungsproblem in jener besonderen Fassung, die ihm die Bedingungen der landwirtschaftlichen Produktion verleihen, bildet meines Erachtens das Haupthindernis – zum mindesten in der gegenwärtigen Zeit – für eine auch nur einigermaßen umfassende Durchführung des kollektivistischen oder genossenschaftlichen Prinzips in landwirtschaftlichen Betrieben." (II, S. 265.) „Die Vergangenheit hinterlässt der Zukunft als Erbe die Brotfrage, eine schrecklichere und kompliziertere Frage als die soziale Frage, eine Frage der Produktion, nicht aber der Distribution." (II, S. 455 ff.) Usw., usw., usw.

Es erübrigt sich, auf die wissenschaftliche Bedeutung dieser mit dem universellen Gesetz des abnehmenden Bodenertrages unzertrennlich verbundenen „Theorie" einzugehen, nachdem wir dieses Gesetz bereits analysiert haben. Dass das „kritische" Liebäugeln mit dem Malthusianismus in seiner unvermeidlichen logischen Weiterführung zur vulgärsten bürgerlichen Apologetik geführt hat, bezeugen die angeführten Schlussfolgerungen des Herrn Bulgakow mit einer Offenheit, die nichts zu wünschen übrig lässt.

In der folgenden Studie werden wir die Angaben einiger neuer, von unseren Kritikern (die allen die Ohren davon voll lärmen, dass die Orthodoxen der Betrachtung der Einzelheiten auszuweichen suchen) angeführter Quellen prüfen und zeigen, dass Herrn Bulgakow das Wörtchen „Übervölkerung" überhaupt zur Schablone wird, deren Anwendung ihn der Notwendigkeit jeglicher Analyse, insbesondere der Analyse der Klassengegensätze innerhalb der „Bauernschaft" enthebt. Hier sei unter Beschränkung auf die allgemein-theoretische Seite der Agrarfrage, nur noch die Rententheorie berührt.

Was Marx anbelangt," schreibt Herr Bulgakow, „so fügt er im III. Band des ,Kapital', wie er uns zur Zeit vorliegt, der Ricardoschen Theorie der Differentialrente nichts Beachtenswertes hinzu."

Merken wir uns dieses „nichts Beachtenswertes" und konfrontieren wir den Urteilsspruch des Kritikers mit der folgenden von ihm zuvor aufgestellten Behauptung:

Ungeachtet seiner offensichtlich ablehnenden Haltung gegenüber diesem Gesetze (dem Gesetz des abnehmenden Bodenertrages) übernimmt Marx in den Grundprinzipien die Rententheorie Ricardos, die auf diesem Gesetz aufgebaut ist." (S. 13.)

Nach Herrn Bulgakow folgt also, dass Marx den Zusammenhang der Ricardoschen Rententheorie mit dem Gesetz des abnehmenden Bodenertrages übersehen und sich daher in Widersprüche verwickelt habe! Zu einer solchen Darstellung lässt sich nur sagen: Niemand verfälscht Marx dermaßen, wie die einstigen Marxisten, niemand schiebt dem kritisierten Schriftsteller mit einer so unglaublichen Leichtfertigkeit wie sie Tausende von Todsünden in die Schuhe.

Die Behauptung des Herrn Bulgakow ist eine himmelschreiende Verdrehung des wahren Sachverhaltes. In Wirklichkeit hat Marx diesen Zusammenhang der Rententheorie Ricardos mit dessen irriger Lehre vom abnehmenden Bodenertrag nicht nur bemerkt, sondern darüber hinaus Ricardos Fehler auch noch mit vollkommenster Bestimmtheit bloßgelegt. Wer auch nur mit einer Spur von Aufmerksamkeit den III. Band des „Kapital" gelesen hat, dem kann der höchst „beachtenswerte" Umstand nicht entgangen sein, dass just Marx die Theorie der Differentialrente von jeglichem Zusammenhang mit dem berüchtigten „Gesetz des abnehmenden Bodenertrages" befreit hat. Marx hat gezeigt, dass zur Entstehung einer Differentialrente die Tatsache einer verschiedenen Produktivität verschiedener im Boden investierter Kapitale erforderlich und auch ausreichend ist. Dabei ist es ganz unwesentlich, ob ein Fortgang stattfindet von besserem zu schlechterem Boden oder umgekehrt, ob die Produktivität des im Boden investierten zusätzlichen Kapitals abnimmt oder zunimmt. In der Wirklichkeit kommen die verschiedensten Kombinationen dieser verschiedenen Fälle vor und es ist unmöglich, diese Kombinationen unter eine allgemeine Regel zu bringen. So z. B. beschreibt Marx zunächst die Differentialrente der ersten Form, die durch die verschiedene Produktivität der Kapitalanlagen auf verschiedenen Bodenarealen entsteht, und er erläutert seine Ausführungen durch Tabellen (die Herrn B. veranlassen, „Marxens übermäßige Vorliebe für die Einkleidung seiner häufig sehr einfachen Gedanken in ein verwickeltes mathematisches Gewand" zu rügen. Dieses verwickelte mathematische Gewand beschränkt sich auf die vier Rechnungsarten, während andererseits der gelehrte Professor, wie wir sehen, ganz einfache Gedanken nicht zu fassen vermochte). Marx schließt seine Erörterung dieser Tabellen wie folgt:

Es fällt hiermit die erste falsche Voraussetzung der Differentialrente fort, wie sie noch bei West, Malthus, Ricardo herrscht, dass sie nämlich notwendig Fortgang zu stets schlechterem Boden voraussetzt oder stets abnehmende Fruchtbarkeit der Agrikultur. Sie kann, wie wir gesehen haben, stattfinden bei Fortgang zu stets besserem Boden; sie kann stattfinden, wenn ein besserer Boden statt des früheren schlechteren, die unterste Stelle einnimmt; sie kann mit steigendem Fortschritt in der Agrikultur verbunden sein. Ihre Bedingung ist nur Ungleichheit der Bodenarten." (Marx spricht hier nicht von der verschiedenen Produktivität sukzessiver Anlagen von Kapital im Boden, da das eine Differentialrente der zweiten Form erzeugt, während es sich in diesem Kapitel um die Differentialrente der ersten Form handelt.) „Soweit die Entwicklung der Produktivität in Betracht kommt, unterstellt sie, dass die Steigerung der absoluten Fruchtbarkeit des Gesamtareals diese Ungleichheit nicht aufhebt, sondern sie entweder vermehrt oder stationär lässt oder nur vermindert." („Kapital", III, 2, S. 199.)

Diesen grundlegenden Unterschied zwischen der Marxschen Theorie der Differentialrente und der Ricardoschen Rententheorie hat Herr Bulgakow nicht bemerkt. Dafür zog er es vor, im III. Band des „Kapital" einen Passus zu finden, „der eher annehmen lässt, dass sich Marx gegenüber dem Gesetz des abnehmenden Bodenertrages bei weitem nicht ablehnend verhielt." (S. 13, Anm.). Der Leser mag uns entschuldigen, wenn wir einem (in Bezug auf die uns und Herrn Bulgakow interessierende Frage) durchaus unwesentlichen Passus viel Platz einräumen. Allein, was soll man tun, wenn die Helden der heutigen Kritik (die es obendrein wagen, den Orthodoxen Rabulisterei vorzuwerfen) den völlig unzweideutigen Sinn einer ihnen feindlichen Lehre durch aus dem Zusammenhang gerissene Zitate und durch verdrehte Übersetzungen verfälschen? Herr Bulgakow zitiert den von ihm entdeckten Passus folgendermaßen:

Vom Standpunkt der kapitalistischen Produktionsweise findet stets relative Verteuerung der (landwirtschaftlichen) Produkte statt, da (wir bitten den Leser, besonders die von uns gesperrten Worte zu beachten), um dasselbe Produkt zu erhalten, eine Auslage gemacht, etwas bezahlt werden muss, was früher nicht bezahlt wurde."

Und Marx sagt weiter, dass die Naturelemente, die in die Produktion als deren Agentien eingehen, ohne etwas zu kosten, eine Gratisnaturproduktivkraft der Arbeit darstellen, dass aber, falls zur Erzeugung des zusätzlichen Produktes ohne die Hilfe dieser Naturkraft gearbeitet werden muss, eine neue Kapitalaufwendung erforderlich sei, was zur Verteuerung der Produktion führt.

Bezüglich dieser Methode des „Zitierens" seien uns drei Bemerkungen gestattet. Erstens das Wörtchen „da", das dem ganzen Satz den absoluten Sinn der Formulierung eines gewissen „Gesetzes" verleiht, hat Herr Bulgakow selbst eingefügt. Im Original („Kapital", III, 2, S. 277 u. 278) steht nicht „da", sondern „wenn"2. Wenn etwas bezahlt werden muss, was früher nicht bezahlt wurde, so findet stets eine relative Verteuerung der Produkte statt. Wie ähnlich sieht doch dieser Satz der Anerkennung des „Gesetzes" des abnehmenden Bodenertrages 1 Zweitens, das Wörtchen „landwirtschaftlichen" rührt samt den Klammern ebenfalls von Herrn Bulgakow her. Im Original steht es überhaupt nicht. Offenbar hat Herr Bulgakow mit der den Herren Kritikern eigenen Leichtfertigkeit entschieden, dass Marx hier nur landwirtschaftliche Produkte im Auge gehabt haben könne. Daher beeilte er sich, dem Leser eine völlig irreführende „Erläuterung" zu geben. In Wahrheit spricht hier Marx von sämtlichen Produkten schlechthin; der von Bulgakow angeführten Stelle gehen bei Marx die Worte voraus: „Allgemein aber ist dies zu bemerken". Gratisnaturkräfte können auch in die industrielle Produktion eingehen – dies gilt von dem von Marx im gleichen Abschnitt über die Rente angeführten Beispiel des Wasserfalles, der für eine der Fabriken die Dampfkraft ersetzt – und wenn eine zusätzliche Menge von Produkten ohne Hilfe dieser Gratiskräfte produziert werden soll, so tritt stets eine relative Verteuerung der Produkte ein. Drittens muss geprüft werden, um welchen Zusammenhang es sich bei dieser Stelle handelt? Marx spricht in diesem Kapitel von der Differentialrente auf dem schlechtesten bebauten Boden und untersucht wie immer zwei ihm völlig gleichwertige, gleichermaßen mögliche Fälle. Erster Fall: Steigende Produktivität der sukzessiven Kapitalanlagen (S. 274–276); zweiter Fall: Abnehmende Produktivität derselben (S. 276–278). Zu diesem letzteren der möglichen Fälle sagt Marx:

Über die abnehmende Produktivität des Bodens bei sukzessiven Kapitalanlagen ist Liebig nachzusehen… Allgemein aber (von uns gesperrt) ist dies zu bemerken:"

Darauf folgt die von Herrn Bulgakow „übersetzte" Stelle, die besagt, dass, wenn etwas bezahlt wird, was früher nicht bezahlt wurde, stets eine relative Verteuerung der Produkte eintritt.

Wir überlassen es dem Leser, die wissenschaftliche Gewissenhaftigkeit eines Kritikers zu beurteilen, der eine Bemerkung Marxens über einen der möglichen Fälle in eine Anerkennung dieses Falles durch Marx als eines allgemeinen „Gesetzes" verwandelt.

Und nun das Schlussurteil des Herrn Bulgakow über den von ihm entdeckten Passus:

Dieser Passus ist natürlich nicht klar." Natürlich! Nach der Bulgakowschen Vertauschung der Worte verliert dieser Passus überhaupt jeden Sinn.

Allein, er kann nicht anders verstanden werden, denn als eine indirekte oder sogar direkte Anerkennung (hört!) des Gesetzes des abnehmenden Bodenertrages. Mir ist nicht bekannt, dass Marx sich über letzteres irgendwo noch geäußert hat." (I, S. 14.)

Als einstigem Marxisten ist es Herrn Bulgakow „nicht bekannt", dass Marx die Annahme von West, Malthus, Ricardo, die Differentialrente setze den Fortgang zu schlechterem Boden oder abnehmende Fruchtbarkeit des Bodens vorausE, für völlig falsch erklärt hat. Es ist ihm „nicht bekannt", dass Marx im Verlaufe seiner umfangreichen Analyse der Rente Dutzende von Malen zeigt, dass er die sinkende und steigende Produktivität der zusätzlichen Kapitalsanlagen als gleichermaßen mögliche Fälle betrachtet!

1 Der Artikel S. Bulgakows, von dem Lenin hier spricht, erschien im Jahrgang 1899 in Heft 1/2 (Januar-Februar) und Heft 3 (März) unter dem Titel „Zur Frage der kapitalistischen Entwicklung der Landwirtschaft".

A Auf Herrn Bulgakows Artikel im „Natschalo" antwortete ich schon damals mit dem Artikel „Der Kapitalismus in der Landwirtschaft". Da „Natschalo" verboten wurde, erschien dieser Artikel in der Zeitschrift „Schisn", 1900, Nr. 1 und 2.

B „Statistique agricole de la France. Enquete de 1892." Paris 1897, p. 113.

C „Statistik des Deutschen Reiches", Neue Folge, Bd. 112. „Die Landwirtschaft im Deutschen Reich." Berlin 1898, S. 6. Herrn Bulgakow ist diese seinen ganzen Malthusianismus vernichtende Tatsache des technischen Fortschritts bei abnehmender Landbevölkerung natürlich unangenehm. Unser „strenger Gelehrter" nimmt daher seine Zuflucht zu folgendem Kniff: Statt die eigentliche Landwirtschaft zu betrachten (Ackerbau, Viehzucht usw.), spricht er (nach Angabe der wachsenden Menge landwirtschaftlicher Produkte pro Hektar!) von der „Landwirtschaft im weiteren Sinne", wozu die deutsche Statistik auch die Treibhaus- und die Handelsgärtnerei, die Forstwirtschaft und den Fischfang rechnet! So ergibt sich eine Zunahme der Gesamtsumme der in der „Landwirtschaft" tatsächlich beschäftigten Personen!! (Bulgakow II, S. 133.) Die im Text angeführten Zahlen betreffen Personen, für die die Landwirtschaft die Hauptbeschäftigung darstellt. Die Zahl der Personen, die nebenberuflich Landwirtschaft treiben, stieg von 3.144.000 auf 3.578.000. Die Summierung dieser Zahlen mit den voraufgegangenen ist ein nicht ganz einwandfreies Verfahren, allein selbst bei Summierung derselben erhalten wir eine nur sehr geringe Zunahme: von 11.208.000 auf 11.623.000.

D „Statistik des Deutschen Reiches", Bd. 112, S. 36. Bulgakow, II, S. 135.

2 Die betreffende, von Bulgakow falsch übersetzte Stelle im zweiten Teil des dritten Bandes des „Kapital" lautet wie folgt: „Vom Standpunkt der kapitalistischen Produktionsweise findet stets relative Verteuerung der Produkte statt, wenn, um dasselbe Produkt zu erhalten, eine Auslage gemacht, etwas bezahlt werden muss, was früher nicht bezahlt wurde." („Das Kapital", III, 2, 1894, S. 277 u. 278.)

E Diese von Marx widerlegte irrige Annahme der klassischen Ökonomie hat natürlich, seinem Lehrer Brentano folgend, kritiklos auch der „Kritiker" Herr Bulgakow übernommen. „Vorbedingung der Entstehung der Rente", schreibt Herr Bulgakow, „bildet das Gesetz des abnehmenden Bodenertrages…" (I, S. 90). „Die englische Rente… unterscheidet faktisch sukzessive Kapitalanlagen verschiedener, im allgemeinen abnehmender Produktivität" (I, S. 130.)

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