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Wladimir I. Lenin 19020400 Brief an den Nord-Bund

Wladimir I. Lenin: Brief an den Nord-Bund1

[Geschrieben im April 1902 Zum ersten Mal veröffentlicht im Jahre 1923 in Berlin in der. Zeitschrift „Letopis Rewoluzii" Nr. 1. Nach Sämtliche Werke, Band 5, Wien-Berlin 1930, S. 171-183]

Bemerkungen zum Programm des „Nord-Bundes"

Vor allem muss der Hauptmangel des „Programms" in Hinsicht auf die Form festgestellt werden, und zwar: die wichtigsten Grundsätze des wissenschaftlichen Sozialismus sind in einen Topf geworfen mit den engen konkreten Aufgaben nicht nur eines Augenblicks, sondern auch einer Ortschaft. Dieser Mangel tritt sofort klar zutage, wenn man sich nur den Inhalt der fünfzehn Paragraphen des Programms ansieht. Tun wir das.

§ 1 – Ziel der Arbeiterbewegung im Allgemeinen;

§ 2 – Grundbedingung für die Erreichung dieses Zieles;

§ 3 – die nächste politische Aufgabe der russischen Sozialdemokratie;

§ 4 – die Stellung der russischen Sozialdemokratie zu den Liberalen usw.;

§ 5 – dasselbe;

§ 6 – die Begriffe „Klasse" und „Partei" (besondere Meinungsverschiedenheiten mit den „Ökonomisten");

§ 7 – die unmittelbaren Aufgaben der Agitation;

§ 8 – die Bedeutung der Propaganda;

§ 9 – über Demonstrationen und Kundgebungen;

§ 10 – über die Feier des 1. Mai;

§ 11 – Flugblätter und Demonstrationen am 19. Februar;

§ 12 – wirtschaftlicher Kampf und soziale Reformen;

§ 13 – Notwendigkeit nicht nur des Verteidigungs-, sondern auch des Angriffskampfes der Arbeiter;

§ 14 – aktive, nicht nur passive Rolle bei Streiks;

§ 15 – die Streiks als bestes Kampfmittel.

Es ist leicht zu ersehen, dass die ihrem Inhalte nach so verschiedenartigen Paragraphen in verschiedene Abteilungen geteilt werden müssten (sonst sind große Missverständnisse bei den Leuten möglich, die nicht fähig sind, die wichtigsten Grundsätze von den unmittelbaren Aufgaben des Augenblicks zu unterscheiden). Es ist nicht nur ungeschickt, sondern sogar geradezu falsch und zweideutig, den Hinweis auf das Endziel des Sozialismus und die Auseinandersetzung mit den Ökonomisten oder die Bestimmung der Bedeutung von Streiks nebeneinanderzustellen. Man müsste die grundsätzliche Darlegung seiner Überzeugungen im Allgemeinen scharf umreißen – dann die politischen Aufgaben der Partei, wie sie der Nord-Bund auffasst, darstellen – und, drittens, müsste man von diesen programmatischen Sätzen im eigentlichen Sinne des Wortes die Resolutionen (des Nord-Bundes) zu den Fragen der praktischen Bewegung (§§ 7–11 und 13–15) abtrennen. § 6 müsste besonders stehen, als Definition der Stellung des Nord-Bundes zu den Meinungsverschiedenheiten innerhalb der russischen Sozialdemokratie. § 12 dagegen müsste zu dem grundsätzlichen Teil gehören (denn das Verhältnis des Tageskampfes um kleine Verbesserungen und Reformen zu dem Kampf für das Endziel ist eine allgemeine, und nicht eine russische Sonderfrage).

Nach dieser allgemeinen Bemerkung will ich zur Analyse der einzelnen Paragraphen übergehen.

§ 1 zeigt die allgemeinen Ziele der Sozialdemokratie auf. Der Hinweis auf diese Ziele ist außerordentlich kurz und unvollständig. Man konnte natürlich im Programm einer örtlichen Organisation nicht auf die Einzelheiten eingehen, die für ein Parteiprogramm unerlässlich sind. Ich erkenne das vollkommen an und halte den Beschluss des Nord-Bundes, auch im Programm der Ortsorganisationen nicht mit Schweigen über die Hauptgrundsätze der Sozialdemokratie hinwegzugehen, für sehr nützlich und wichtig, nur würde ich es für notwendig halten, in diesem Falle einen Hinweis auf eine ausführlichere Darlegung der Hauptgrundsätze hinzuzufügen. Man hätte z. B. darauf hinweisen müssen, dass der Nord-Bund auf dem Boden des internationalen wissenschaftlichen Sozialismus (auf die Internationalität der Bewegung wird im Programm nirgends hingewiesen) steht und sich zur Theorie des „revolutionären Marxismus" bekennt. Neben einen solchen Hinweis auf seine allgemeinen Grundsätze könnte man einen Satz stellen, wie er in § 1 enthalten ist, aber, davon getrennt, ist er (§ 1) ungenügend.

Als Organisation, die der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands angehört, müsste der Nord-Bund auf seine Zustimmung zu ihrem „Manifest" hinweisen, wobei es nützlich wäre, auch auf die Zustimmung des Nord-Bundes, z. B. zu dem Programmentwurf der russischen Sozialdemokraten, den in den achtziger Jahren die Gruppe „Befreiung der Arbeit" verfasst hat, hinzuweisen. Ein solcher Hinweis, der die Frage von Abänderungen, die in diesem Entwurf notwendig sind, offen lässt, würde die grundsätzliche Stellung des Nord-Bundes genauer festlegen. Eins von beiden: entweder man muss selber eine vollständige Darlegung aller Hauptgrundsätze der Sozialdemokratie verfassen (d. h. selber den grundsätzlichen Teil des sozialdemokratischen Programms verfassen), oder man muss ganz klar sagen, dass der Nord-Bund den mehr oder weniger bekannten festgelegten Grundsätzen zustimmt. Der dritte im Programm gewählte Weg – der ganz unzusammenhängende Hinweis auf das Endziel – ist nicht gangbar.

§ 2 beginnt mit der äußerst ungenauen, zweideutigen und gefährlichen Erklärung: „den Sozialismus als das Klasseninteresse des Proletariats betrachtend". Es sieht so aus, als setzten diese Worte den Sozialismus mit dem „Klasseninteresse des Proletariats" gleich. Eine solche Gleichsetzung ist aber ganz falsch. Gerade in der jetzigen Zeit, wo eine äußerst enge Auffassung der „Klasseninteressen des Proletariats" weit verbreitet ist, ist es geradezu unzulässig, eine Formel aufzustellen, die, wenn sie auch irgendwie anerkannt werden kann, so doch nur unter der Bedingung einer außerordentlich weiten Auffassung des Ausdrucks „Klasseninteresse". Das „Klasseninteresse" zwingt die Proletarier, sich zu vereinigen, gegen die Kapitalisten zu kämpfen, über die Bedingungen ihrer Befreiung nachzudenken. Das „Klasseninteresse" macht sie für den Sozialismus empfänglich. Aber der Sozialismus, der die Ideologie des proletarischen Klassenkampfes ist, ist den allgemeinen Bedingungen der Entstehung, Entwicklung und Festigung einer Ideologie untergeordnet, d. h. er beruht auf dem ganzen Rüstzeug des menschlichen Wissens, setzt eine hohe Entwicklung der Wissenschaft voraus, erfordert wissenschaftliche Arbeit usw. In den Klassenkampf des Proletariats, der sich auf dem Boden der kapitalistischen Verhältnisse spontan entwickelt, wird der Sozialismus von den Ideologen hineingetragen. Die Fassung aber des § 2 beleuchtet das wirkliche Verhältnis des Sozialismus zum Klassenkampf ganz falsch. Und auch vom Klassenkampf sagt § 2 nichts. Das ist sein zweiter Mangel.

§ 3 kennzeichnet den Absolutismus ungenügend (es wird z. B. nicht hingewiesen auf seinen Zusammenhang mit den Überresten der Leibeigenschaft), zum Teil schwülstig („grenzenlosen") und verschwommen („Missachtung" der Persönlichkeit). Weiter ist die Eroberung der politischen Freiheit (man müsste sagen, dass der Nord-Bund diese Aufgabe der gesamten Partei stellt) nicht nur für die vollständige Entfaltung des Klassenkampfes der Arbeiter notwendig; man hätte in dieser oder jener Form darauf hinweisen müssen, dass sie auch für die gesamte gesellschaftliche Entwicklung notwendig ist.

Der Absolutismus vertritt ausschließlich die Interessen der herrschenden Klassen." Das ist ungenau und falsch. Der Absolutismus befriedigt gewisse Interessen der herrschenden Klassen, er hält sich zum Teil durch die Unbeweglichkeit der Bauernmassen und der Kleinproduzenten im Allgemeinen, zum Teil durch das Schwanken zwischen gegensätzlichen Interessen, wobei er bis zu einem gewissen Grade auch eine selbständige organisierte politische Kraft darstellt. Die Fassung des § 3 ist besonders unzulässig, weil bei uns die sinnlose Gleichsetzung des russischen Absolutismus mit der Herrschaft der Bourgeoisie stark verbreitet ist.

Mit dem Grundsatz der Demokratie unvereinbar." Wozu das, wenn von Demokratie bisher noch nichts gesagt ist? Und bringt die Forderung des Sturzes des Absolutismus und der Eroberung der politischen Freiheit nicht gerade den „Grundsatz" der Demokratie zum Ausdruck? Dieser Satz taugt nicht. Dafür müsste man genauer auf unsere Festigkeit und Entschiedenheit (im Vergleich zur bürgerlichen Demokratie) in der Auffassung des „Grundsatzes der Demokratie" hinweisen – z. B. in dieser oder jener Weise den Begriff und den Inhalt der „demokratischen Verfassung" auseinandersetzen oder von unserer „grundsätzlichen" Forderung der demokratischen Republik sprechen.

§ 4 ist besonders unbefriedigend. Anstatt von der „vollständigen" Ausnutzung der „breiten" Freiheit zu sprechen (das sind eigentlich unbestimmte Redensarten, die sehr gut ersetzt werden können und ersetzt werden müssen durch den genauen Hinweis auf die demokratische Republik und die demokratische Verfassung, denn die „Vollständigkeit" besteht ja eben im konsequenten Demokratismus) – war es unbedingt notwendig, zu sagen, dass nicht nur die Arbeiterklasse die politische Freiheit braucht. Darüber mit Schweigen hinweggehen, heißt den schlimmsten Formen des „Ökonomismus" die Tore weit öffnen und unsere allgemein demokratischen Aufgaben vergessen.

Es ist ganz falsch, dass die Verwirklichung (?? Erkämpfung, Eroberung) der politischen Freiheit „eben solch eine" Notwendigkeit für das Proletariat ist, wie die Lohnerhöhung und die Verkürzung der Arbeitszeit. Sie ist eben gerade nicht eine solche: diese Notwendigkeit ist von anderer Art, viel mehr verwickelt als die Notwendigkeit der Lohnerhöhung usw. Der Unterschied zwischen der „Notwendigkeit" der einen und der andern Art ist z. B. auch daraus klar zu ersehen, dass die Selbstherrscherregierung bereit ist, die Lage einzelner Schichten oder Gruppen der Arbeiterklasse aufzubessern (und das auch wirklich mitunter tut), nur damit diese Schichten sich mit dem Absolutismus aussöhnen. Der Satz ist ganz unzulässig, denn er bringt eine unglaubliche Verflachung des „ökonomischen" Materialismus und eine Herabdrückung der sozialdemokratischen Auffassung zur trade-unionistischen zum Ausdruck.

Weiter. „Angesichts dessen" … muss angesichts des oben Auseinandergesetzten wegfallen … „die Sozialdemokratie im bevorstehenden Kampf" (d. h. offenbar, im Kampf gegen den Zarismus?) … „mit einem klaren Klassenprogramm und mit Forderungen hervortritt" … Der Klassencharakter unseres politischen Programms und unserer politischen Forderungen kommt gerade in der Vollständigkeit und Folgerichtigkeit des Demokratismus zum Ausdruck. Wenn man aber nicht nur von den politischen Forderungen sprechen will, sondern von unserm ganzen Programm im Allgemeinen, so muss sich sein Klassencharakter aus dem Inhalt unseres Programms von selbst ergeben. Es ist überflüssig, von einem „klaren" Klassenprogramm zu sprechen, vielmehr ist es notwendig, dieses Klassenprogramm selber klar und genau festzulegen, auseinanderzusetzen, zum Ausdruck zu bringen und zu formulieren.

.… „Ohne diese dem liberalen Programm unterzuordnen …" Das ist sogar lächerlich. Wir treten als vorgeschrittene demokratische Partei auf und machen plötzlich den Vorbehalt, dass wir „nicht unterordnen"!! Wie Kinder, die sich eben erst von der „Unterordnung" befreit haben!

Dass wir uns den Liberalen nicht „unterordnen", darf nicht in Redensarten darüber zum Ausdruck kommen, sondern im ganzen Charakter unseres Programms (und selbstverständlich unserer Tätigkeit). Gerade die Auffassung der politischen Aufgaben, die die Notwendigkeit der Freiheit der Notwendigkeit der Lohnerhöhung gleichsetzt (oder auch nur annähernd gleichsetzt), bringt eben die Unterordnung der Sozialdemokratie unter die Liberalen zum Ausdruck.

Der Schluss des § 4 taugt auch nicht: er ist durch alles Vorhergesagte erledigt.

§ 5 beschränkt unser allgemeines Verhältnis zur Demokratie im Allgemeinen ausschließlich auf die Arbeitsgemeinschaft mit anderen Parteien zu bestimmten Zwecken. Das ist zu eng aufgefasst. Handelt es sich um bestimmte Parteien, so muss man sie (nicht im Programm, sondern in einer besonderen Konferenzresolution) genau nennen und das Verhältnis zu den Sozialrevolutionären, zur „Swoboda" usw. genau festlegen. Handelt es sich aber nicht um bestimmte Parteien, sondern um das Verhältnis zu anderen revolutionären (und oppositionellen) Richtungen im A/*llgemeinen, so muss man das auch allgemeiner fassen, indem man in dieser oder jener Form den Satz des Kommunistischen Manifestes über unsere Unterstützung jeder revolutionären Bewegung gegen die bestehende Ordnung wiederholt.

§ 6 ist im Programm nicht am Platze. Man müsste ihn in eine besondere Resolution bringen und gerade heraus sagen, dass es sich um Meinungsverschiedenheiten (oder zwei Richtungen) in der russischen Sozialdemokratie handelt. Das ist mehr als „zahlreiche Missverständnisse". Die Fassung der Meinungsverschiedenheiten ist zu eng, denn sie beschränken sich lange nicht auf die Verwechslung von Klasse und Partei. Es war notwendig, sich in dem entsprechenden Satz entschiedener und klarer gegen die „Kritik des Marxismus", den „Ökonomismus", die Einengung unserer politischen Aufgaben zu äußern.

Was den zweiten Teil des § 6 betrifft, so ist, da er durch andere Paragraphen (7, 14 u. a.) erläutert wird, das Urteil über ihn in dem Urteil über diese Paragraphen gegeben.

§ 7 muss, wie auch alle weiteren (mit Ausnahme von § 12), eine besondere Resolution bilden, nicht aber in das Programm eingehen.

Die „Aufgabe" der Tätigkeit fasst § 7 sehr eng. Wir müssen nicht nur „das Selbstbewusstsein des Proletariats entwickeln", sondern es auch zu einer politischen Partei organisieren, – und dann seinen Kampf (den wirtschaftlichen und den politischen) leiten.

Der Hinweis, dass das Proletariat in „bestimmte, gegebene Verhältnisse" gestellt ist, ist überflüssig. Das muss entweder weggelassen werden, oder man muss diese Verhältnisse darlegen (aber das muss an anderen Stellen des Programms gemacht werden).

Es ist falsch, dass die Agitation das „einzige" Mittel zur Verwirklichung unserer Aufgaben ist. Sie ist lange nicht das einzige Mittel.

Es genügt nicht, die Agitation als die „Einwirkung auf breite Arbeiterschichten" zu erklären. Es muss etwas über die Art dieser Einwirkung gesagt werden. Über die politische Agitation muss offener, entschiedener, klarer und ausführlicher gesprochen werden: sonst gerät das Programm – das über die politische Agitation mit Schweigen hinweggeht und in ganzen zwei Paragraphen (14 und 15) von der ökonomischen Agitation spricht – (gegen den eigenen Willen) auf die Wege des Ökonomismus. Die Notwendigkeit der Agitation aus Anlass aller Äußerungen der politischen und wirtschaftlichen, der kulturellen und nationalen Unterdrückung, auf welche Klassen oder Bevölkerungsschichten diese Unterdrückung auch lasten mag, die Notwendigkeit (für die Sozialdemokratie), bei jedem Zusammenstoß mit der Regierung usw. allen voran zu sein, – hätte besonders betont werden müssen, – und dann erst hätte man auf die Agitationsmittel hinweisen sollen (mündliche Agitation, Zeitungen, Flugblätter, Kundgebungen usw. usw.).

§ 8. Der Anfang ist eine überflüssige Wiederholung.

Erkennt die Propaganda nur insofern an" usw. Das ist falsch. Die Propaganda hat nicht nur diese Bedeutung, ist nicht nur „Ausbildung von Agitatoren", sondern Verbreitung des Klassenbewusstseins überhaupt. Das Programm überspannt den Bogen zu sehr nach der andern Seite. Wenn man sich gegen die Propaganda wenden musste, die von irgendwem zu sehr von den Aufgaben der Agitation losgerissen wird, so wäre es besser gewesen, zu sagen: „bei der Propaganda darf man besonders die Aufgaben der Ausbildung von Agitatoren nicht außer acht lassen", oder etwas in diesem Sinne. Man darf aber nicht die ganze Propaganda auf die Schulung „erfahrener und tüchtiger Agitatoren" beschränken, man darf die „Schulung nur einzelner klassenbewusster Arbeiter" nicht einfach „ablehnen". Wir sind der Meinung, dass das nicht genügt, aber wir lehnen es nicht ab. Darum muss der zweite Teil des § 8 (von den Worten ab: „während er einer Propaganda") ganz wegfallen.

§ 9. Sachlich bin ich mit ihm einverstanden. Vielleicht wäre es besser, zu sagen: „aus Anlass der verschiedensten Ereignisse im öffentlichen Leben und der Maßnahmen der Regierung …"

Anstatt „das beste Mittel" wäre genauer: „eines der besten Mittel".

Nur der Schluss des Paragraphen ist unbefriedigend. Die Demonstrationen und Kundgebungen vereinigen und müssen vereinigen nicht nur die Arbeiter (die „Vereinigung" durch Kundgebungen genügt auch nicht, wenn wir auch organisatorisch, unmittelbar und für immer, und nicht nur für einen bestimmten Fall vereinigen wollen) … „In ihnen dadurch das Bewusstsein entwickeln" … Das ist entweder ungenau: nur durch Kundgebungen entwickelt man nicht das Bewusstsein, oder überflüssig (es ist schon gesagt, dass es eines der besten Mittel ist).

Es wäre ganz nützlich, etwas über die Notwendigkeit der Veranstaltung von Kundgebungen, von ihrer Vorbereitung, Durchführung usw. zu sagen.

Überhaupt ist es eine große Lücke, dass das Programm nicht auf die Notwendigkeit hinweist, der revolutionären Organisation, und zwar einer allgemein-russischen, kampffähigen Organisation, die größte Aufmerksamkeit zu widmen. Wenn man schon von Agitation, Propaganda, Streiks usw. spricht, so ist es geradezu unverzeihlich, über die revolutionäre Organisation mit Schweigen hinwegzugehen.

§ 10. Es müsste hinzugefügt werden, dass der 1. Mai bei uns auch zu einer Demonstration gegen den Absolutismus, zu einer Forderung der politischen Freiheit werden muss. Es genügt nicht, auf die internationale Bedeutung dieses Feiertages hinzuweisen. Auch der Kampf um die dringendsten nationalen politischen Forderungen muss damit verbunden werden.

§ 11. Der Gedanke ist sehr gut. Er ist aber zu eng gefasst. Vielleicht müsste man „unter anderem" sagen, denn auch aus Anlass des Jahrestages der Kommune und aus vielen anderen Anlässen ist es notwendig, Demonstrationen zu veranstalten. Oder man müsste „insbesondere" sagen, sonst sieht es so aus, als wäre es aus anderen Anlässen nicht notwendig.

Weiter. Am 19. Februar darf man sich nicht (mit Flugblättern) nur an die Arbeiter wenden. Ganz abgesehen davon, dass wir uns mit Demonstrationen und Flugblättern, die sie vorbereiten, stets an das ganze Volk und sogar an die ganze Welt wenden, ist es am 19. Februar notwendig, sich auch an die Bauernschaft zu wenden. Sich an die Bauernschaft wenden – heißt aber eine sozialdemokratische Politik in der Agrarfrage ausarbeiten. Das Programm berührt diese Frage nicht, und wir verstehen sehr gut, dass eine örtliche Organisation vielleicht weder die Zeit noch die Kräfte hat, sich mit ihr zu beschäftigen. Doch wäre es unbedingt erforderlich, wenigstens – bei diesem oder jenem Versuch – die Frage in der russischen sozialdemokratischen Literatur oder in der Praxis unserer Bewegung aufzuwerfen*, in dieser oder jener Form auf sie hinzuweisen.

Das Ende des § 11 taugt nicht („nur die Gewalt der Klasse" – welcher Klasse? einzig und allein des Proletariats?). Das müsste weggelassen werden.

§ 12. „In jeder Weise" können und werden wir die Besserung der Lage der Arbeiter in den bestehenden Verhältnissen nicht fördern. Nach Subatowscher Art z. B. können wir sie nicht fördern, und selbst unter der Bedingung Subatowscher Zersetzungsarbeit werden wir sie nicht fördern. Wir kämpfen nur für eine solche Besserung der Lage der Arbeiter, die ihre Fähigkeit, den Klassenkampf zu führen, erhöht, d. h. wenn die Besserung der Verhältnisse nicht verbunden ist mit einer Korrumpierung des politischen Bewusstseins, mit einer Bevormundung durch die Polizei, mit der Fesselung an einen bestimmten Ort, mit der Knechtung durch die „Wohltäter", mit einer Erniedrigung der menschlichen Würde usw. usw. Gerade in Russland, wo das Selbstherrschertum so geneigt ist (und immer mehr geneigt wird), sich durch verschiedene Almosen und Scheinreformen von der Revolution loszukaufen, sind wir verpflichtet, uns von allerhand „Reformern" scharf abzugrenzen. Wir kämpfen auch für Reformen, aber eben nicht „in jeder Weise", sondern nur in sozialdemokratischer, revolutionärer Weise.

§ 13 ist auf Beschluss der Konferenz gestrichen worden. Er musste auch gestrichen werden.

§ 14 fasst den Inhalt und die Aufgaben der ökonomischen Agitation zu eng. Sie erschöpft sich nicht in Streiks. „Bessere Bedingungen" brauchen wir nicht nur für die kulturelle, sondern gerade für die revolutionäre Entwicklung des Proletariats. Die „aktive Rolle" der Sozialdemokratie bei Streiks wird nicht erschöpft durch das Anspornen zum Kampf um die Besserung der wirtschaftlichen Lage. Streiks (wie auch die ökonomische Agitation im allgemeinen) müssen stets auch als Anregung zum revolutionären Kampf für die Freiheit und für den Sozialismus ausgenutzt werden. Auch für die politische Agitation müssen Streiks ausgenutzt werden.

§ 15 ist ebenfalls sehr unbefriedigend. Streiks sind nicht das „beste" Kampfmittel, sondern nur eines der Mittel und nicht einmal immer unbedingt eines der besten. Die Bedeutung der Streiks muss anerkannt werden, Streiks müssen stets ausgenutzt und geleitet werden, – aber ihre Bedeutung zu übertreiben, ist um so gefährlicher, je mehr der Ökonomismus das getan hat.

Was weiter von den Streiks gesagt wird, ist überflüssig: es ist bereits in § 14 gesagt. Der Hinweis auf die führende Rolle im ökonomischen Kampf im Allgemeinen genügt. Mitunter wird diese führende Rolle auch in der Zurückhaltung vom Streik zum Ausdruck kommen. Die Fassungen des Programms sind zu absolut und gerade darum zu eng. Es müsste etwas Allgemeines gesagt werden über die Aufgabe, den wirtschaftlichen Kampf des Proletariats zu leiten, ihn organisierter und bewusster zu gestalten, Gewerkschaftsverbände der Arbeiter zu schaffen und danach zu streben, sie zu allgemein-russischen Verbänden zu erweitern, jeden Streik, jede Äußerung der wirtschaftlichen Unterdrückung usw. für die weitestgehende sozialistische und revolutionäre Propaganda und Agitation auszunutzen.

Der Schluss des § 15 schränkt die Aufgaben dieser Agitation ein; es sieht so aus, als mache er die Anwendbarkeit der politischen Agitation von der Aktion der Polizei usw. abhängig. In Wirklichkeit muss man bemüht sein, die politische Agitation auch vor der Aktion der „Erzengel" und unabhängig von dieser Aktion anzuwenden (und mit einigermaßen tüchtigen Führern ist das vollkommen möglich). Man müsste allgemeiner sagen: „Alle Anlässe sind zur politischen Agitation auszunützen" usw.

Der Schluss des § 15 ist auch nicht richtig. Von „Generalstreiks" zu reden, ist für uns um so weniger passend, je weniger bei uns in Russland die Möglichkeit besteht, sie vorzubereiten. Überhaupt hat es keinen Sinn, in Programmen besonders von Generalstreiks zu sprechen (man denke an den blödsinnigen „Generalstreik" in der Broschüre „Wer wird die politische Revolution vollbringen?"2. Auch solche Missverständnisse sind doch möglich). Es ist auch vollkommen falsch, die Streiks für das „beste Mittel zur Entwicklung des Bewusstseins" zu erklären.

Im Großen und Ganzen wäre eine ernste Umarbeitung des Programms sehr wünschenswert. Es wäre auch überhaupt sehr wünschenswert, dass der Nord-Bund sowohl an der Sache der parteiorganisatorischen Vereinigung der revolutionären Sozialdemokratie als auch an der Ausarbeitung des Parteiprogramms aktiv Anteil nimmt. Die Redaktion der „Sarja" und der „Iskra" hofft, dem Nord-Bund sehr bald ihren Entwurf senden zu können (der zum großen Teil bereits fertig ist), sie hofft ferner auf die Mitarbeit des Nord-Bundes an seiner Verbesserung, Verbreitung und Vorbereitung zur Annahme durch die ganze Partei.

1 Der Brief Lenins über das von der Konferenz angenommene Programm ist anscheinend nicht in die Hände des „Bundes" gelangt. Es ist möglich, dass es außer Lenins Brief auch noch kritische Notizen anderer Mitglieder der „Iskra"-Redaktion gegeben hat, da in den Erinnerungen der О. A. Warenzowa („Der Arbeiterbund des Nordens"), Iwanowo-Wosnessensk, 1925) folgende Notiz über das Programm enthalten ist: „Dieses Programm, das ins Ausland geschickt wurde, ist von den ,Iskra'-Genossen im Ausland einer gründlichen Kritik unterzogen worden; ihre kritischen Bemerkungen füllten 80 Seiten. Diese Kritik hat den Adressaten leider nicht erreicht: sie ist unterwegs aufgeflogen." (S. 27 u. 28.) Es ist aber auch möglich, dass die kritischen Bemerkungen der „Iskra" sich auf Lenins Brief beschränkten; dann würde die Seitenzahl der „Kritik" (80) übertrieben sein.

* Zum Beispiel, die Versuche der Arbeiter, aus Anlass von Auspeitschungen der Bauern zu demonstrieren usw.

2 Die Broschüre, eigentlich der Artikel „Wer wird die proletarische Revolution vollbringen?", die von А. A. Sanin geschrieben ist, wurde im Sammelbuch „Der proletarische Kampf" veröffentlicht (Nr. 1, 1899), das die „Sozialdemokratische Gruppe des Urals" (M. M. Berzinskaja-Essen, N. N. Kudrin, А. A. Sanin u. a.) herausgegeben hatte.

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