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Wladimir I. Lenin 19020722 Brief an I. I. Radtschenko

Wladimir I. Lenin: Brief an I. I. Radtschenko1

[Geschrieben am 22. Juli 1902. Nach Sämtliche Werke, Band 5, Wien-Berlin 1930, S. 196-200]

Lieber Freund! Ihre uns vor kurzem zugegangene Mitteilung über die Freilassung von Wanjas Freunden – den „Bündlern" (Anhänger des „Rabotscheje Djelo") ruft in uns wiederum eine Reihe von Zweifeln hervor. Wird Wanja jetzt standhalten? Stellen Sie ihm jedenfalls die Frage mit aller Deutlichkeit, zwingen Sie ihn zu einer offenen Antwort, fällt diese Antwort verneinend aus, dann kanzeln Sie ihn mit den schärfsten Worten ab und teilen Sie uns auf jeden Fall sofort mit, wie die Dinge stehen. Wenn Wanja unseren Händen wiederum entglitten ist (oder im Begriff ist, es zu tun), so ist es um so dringender notwendig, dass Sie Ihre verdreifachten Anstrengungen auf Manja richten: wenn es möglich ist, dann grad drauflos; wenn nicht, dann durch Ihre neuen Freunde, über deren Unterhaltung mit Ihnen Sie uns einen so ausführlichen und fesselnden Bericht gegeben haben.

Sie müssen sich (wenn Wanja auch nur die allergeringste Unzuverlässigkeit bekunden oder Ausflüchte machen sollte) die Vorbereitung eines Krieges der Petersburger Iskristen gegen die Überreste des Ökonomismus zur Aufgabe machen. Von diesem Krieg braucht man ihnen natürlich nichts zu erzählen, doch muss er mit allen Kräften und, wenn möglich, nach beiden Seiten hin vorbereitet werden. D. h., Sie müssen sich, erstens bemühen, die einmal angeknüpften persönlichen Beziehungen zu unseren Freunden unter den Intellektuellen Wanjas aufrechtzuerhalten, sich mit ihnen zu treffen, sie zu beeinflussen, ihnen Vorhaltungen zu machen, mit den Jugendlichen zu sprechen, den Abfall der Iskristen von schwankenden Leuten vorzubereiten Viel wichtiger ist der zweite Flügel: die Arbeiter. Ihr Zirkel ist ein ausgezeichneter Boden, und Sie müssen vor allem durchsetzen, dass dieser Zirkel seine Feindschaft gegen Wanja entwickelt, erkennt und in eine bestimmte Form bringt. Bemühen Sie sich, diesem Zirkel „Was tun?" zu geben und erzielen Sie (das ist, nach Ihrem Brief zu urteilen, sehr leicht) eine vollständige Solidarität, betonen Sie dabei besonders und mit doppelter Schärfe, dass „Was tun?" eben gerade und vor allem gegen Leute vom „Petersburger" Schlag gerichtet ist. Auch in der Unterhaltung mit ihnen setzen Sie den Punkt auf das i, berufen Sie sich stets auf Wanja als auf das Muster des Schlechten, das Muster dessen, was man nicht tun soll. Ich bin gern bereit, Ihnen bei all dem zu helfen, soweit ich kann, – z. B. durch eine Reihe von Briefen an den Zirkel. Mag dieser Zirkel zunächst bewusst und vollständig iskristisch werden, bewusst und unbedingt feindselig gegen das ganze Wesen der alten „Petersburger", gegen die „Rabotschaja Mysl", das „Rabotscheje Djelo" und jede Halbheit. Dann (aber nur dann) werden wir folgendes machen: die Erklärung, die Sie Wanja abzugeben rieten und von der ich Ihnen ausführlich schrieb, diese Erklärung wird, natürlich in etwas abgeänderter Form, der Zirkel abgeben, er wird „die Fahne des Aufstandes" gegen die Ökonomisten Wanjas erheben und einen offenen Krieg verkünden, dessen Ziel die restlose Eroberung Manjas für den Standpunkt des Zirkels sein wird.

Ich zweifle keinen Augenblick, dass dieser Feldzug mit einem raschen und vollständigen Sieg enden wird, und als Hauptschwierigkeit betrachte ich nicht diesen Feldzug, sondern die Aufgabe, die Leute zu einem offenen Feldzug und dazu zu bringen, nicht wieder auf den Weg von Kompromissen mit Wanja, von Zugeständnissen an ihn, von Verzögerungen usw. zu geraten. Absolut keine Kompromisse, rücksichtsloser Krieg gegen die geringsten Überreste des Ökonomismus und der Handwerklerei – das ist es, was Sie sich, meines Erachtens, im Zirkel zur Aufgabe setzen müssen. Es ist besser, ein Vierteljahr, ein halbes Jahr und mehr für die Vorbereitung zu verlieren, aber die Herausbildung eines iskristischen Kampfzirkels zu erreichen, als nicht ganz feste Leute mit den Diplomaten und Kunktatoren Wanjas zu vereinigen.

Machen Sie es sich zunutze, dass Sie hinsichtlich des Zirkels freie Hand haben, führen Sie Ihre Linie entschlossen durch und lassen Sie Leute, die nicht ganz sicher sind, nicht in Schussnähe heran.

Wenn Sie die Sache so durchführen, dann werden Sie von den Schwankungen und der Unentschlossenheit Wanjas unabhängig sein, Sie werden Ihren eigenen Stützpunkt haben. Und wenn die Notwendigkeit Sie mitunter zwingen wird, mit Wanja zu kannegießern, so halten Sie sich in Hinsicht auf den Zirkel von jeder Kannegießerei fern und zeigen Sie sich dort immer unversöhnlich gegen Wanja. Ihre Taktik wird dann einfach sein: nähert sich Wanja Ihnen, so streicheln Sie ihn, aber halten Sie den Stein fest unterm Gürtel, d. h. verbergen Sie ihm nicht, dass das nicht genügt, dass man ganz herankommen und hineingehen muss und dass Sie sich mit Wenigem nicht begnügen werden. Entfernt Wanja sich, so erlauben Sie ihm keinen einzigen Fehler, keinen einzigen Fehltritt. Wanja bei jedem Fehler fangen und ihn im Zirkel und nach Möglichkeit manchmal auch in der „Iskra" rücksichtslos der Entlarvung und Beschimpfung preisgeben – das muss eine Ihrer Hauptaufgaben sein.

Mit einem Wort, halten Sie sich in Ihren Beziehungen zu Wanja stets an den Grundsatz: ich will den Frieden mit dir und darum bereite ich mit allen Kräften den Krieg gegen dich vor.

Zum Schluss – ein praktischer Rat. Wanja ist von Natur ein Diplomat und Buchstabenfresser. Er hat jetzt die Frage des Umbaus der Hundehütte aufgeworfen, und es ist sehr wahrscheinlich, dass er unter der wohlaussehenden Hülle dieser „Revision der Verfassung" die Sache in die Länge ziehen, tausend Vermittlungsvorschläge ersinnen wird usw. Gehen Sie nicht in diese Falle. Verhöhnen Sie unbarmherzig die Vorliebe für Statuten. Nicht um Statuten handelt es sich, und wer glaubt, er könne, von diesen oder jenen taktischen und organisatorischen Gedanken ausgehend, ein musterhaftes Statut schreiben, –- der versteht gar nichts und den muss man wegen dieses Unverstands bis zu Ende bekämpfen. Wenn Wanja sich einbildet, sie würden das Statut von allen Seiten erörtern, 50 Paragraphen in 40 umarbeiten und dann – „nach dem ehrlichen Schmaus die Hochzeit", d. h., dass dann nach einem neuen Statut auch die Arbeit eine neue sein würde, – wenn er sich (wie aus allem hervorgeht) das einbildet, so hat er nur mit Worten die alten Vorurteile abgeworfen, in Wirklichkeit aber hält er noch Hunderte von dummen Ansichten aufrecht, gegen die nur Kampf und nochmals Kampf helfen kann. Greifen Sie die Buchstabenfresserei und die Formreiterei an und weisen Sie nach, dass es nicht auf Statuten ankommt, sondern dass es darum geht, dass man erstens in den Ansichten übereinstimmt und sie bis zu Ende durchdenkt und dass man zweitens in der praktischen Arbeit selber einmütig zusammenarbeitet.

Auf diesem Standpunkt stehend, pfeifen wir auf Euer (Wanjas) Spiel mit Statuten und erklären offen: wer wir sind, was wir wollen und wie wir arbeiten, wisst Ihr und müsst Ihr nicht nur aus der Literatur erfahren, sondern auch aus persönlichen Zusammenkünften in Russland und im Auslande (solche Zusammenkünfte sind in der revolutionären Arbeit notwendig). Wollt Ihr nicht Hand in Hand mit uns gehen, – so sagt es offen, macht keine Ausflüchte und wisst, dass wir gegen jedes Schwanken nach „Kriegsart" kämpfen werden. Glaubt nicht, dass Ihr Euer Schwanken durch Revision der Statuten usw. vor uns verbergen könnt. Wollt Ihr aber mit uns zusammen marschieren, dann geht sofort an die Arbeit, und dann werdet Ihr sehen, dass diese Arbeit in Verbindung mit der allgemein-russischen Zeitung, an dieser und auf ihrer Grundlage, dass diese Arbeit selber zeigen wird, welche neuen Formen notwendig sind, und dass sie wahrscheinlich (sogar zweifellos) zeigen wird, dass diese Formen bei einer wirklichen, lebendigen Sache ganz von selbst, ohne jedes Statut, in Erscheinung treten. Und wenn wir stark sein werden, werden wir viermal im Jahr russische und zweimal ausländische (oder umgekehrt – je nach den Umständen) Zusammenkünfte und Konferenzen abhalten, die verschiedenen Statuten aber werden wir in diesen Konferenzen festlegen (besser gesagt: die verschiedenen Statuten werden wir zum Teufel schicken).

Ich drücke Ihnen fest die Hand und erwarte mit Ungeduld Ihre Antwort: treffen meine Briefe ins Schwarze, d. h. geben sie Ihnen das, was notwendig ist?

Ihr Lenin

1 Die Briefe Lenins an I. I. Radtschenko fallen in die Periode, in der die „Iskra" um die Eroberung der Petersburger Organisation kämpfte, in der die Traditionen des Ökonomismus besonders stark waren. Die Aufgabe der „Iskra"-Leute in Petersburg bestand darin, erstens, zu erreichen, dass die Petersburger Sozialdemokraten die „Iskra" als führendes Organ anerkannten; zweitens, die Petersburger Organisation organisatorisch auf das Prinzip des strengsten Zentralismus umzustellen, die Wählbarkeit zu beseitigen und vor allem die veraltete Einteilung des Komitees in einen „proletarischen" und einen „nichtproletarischen" Teil, in das eigentliche „Komitee" und das „Komitee der Arbeiterorganisation", aufzuheben. Mit der Aufgabe, die Petersburger Organisation ideologisch zu gewinnen und sie zu reformieren, waren hauptsächlich I. I. Radtschenko, P. N. Lepeschinski (2a 3b) und Р. A. Krassikow betraut, deren Arbeit, mit Hilfe von Briefen, Lenin leitete. Die Pläne der Iskristen stießen auf den erbitterten Widerstand der Ökonomisten, an deren Spitze A. S. Tokarew (Wyschibalo) stand, der gerade im Juni 1902 aus dem Gefängnis entlassen wurde (siehe den Anfang des zweiten Briefes Lenins an Radtschenko).

Lenin benutzt in den konspirativen Briefen verabredete Bezeichnungen: „Wanja", „Manja" usw. und deckt sofort ihre Bedeutung auf: Wanja ist der Petersburger Bund, Manja – die Arbeiterorganisation. Das erklärt sich dadurch, dass der Originalbrief Lenins in der Redaktion der „Iskra" blieb, der Brief wurde von der Redaktionssekretärin, N. Krupskaja, abgeschrieben, die entsprechenden Stellen chiffriert und in dieser konspirativen Form an den Adressaten abgesandt.

Die in dem Brief erwähnte „Sonja" – die russische Organisation der „Iskra" – war vertreten durch G. und S. Krschischanowski, die sich in Samara aufhielten.

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