Lenin‎ > ‎1902‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19021028 Politischer Kampf und Politikantentum

Wladimir I. Lenin: Politischer Kampf und Politikantentum

[Iskra" Nr. 26 15. Oktober 1902. Nach Sämtliche Werke, Band 5, Wien-Berlin 1930, S. 273-282]

Der Innenpolitik der russischen Regierung kann im gegenwärtigen Augenblick wohl am wenigsten Mangel an Entschlossenheit und an Bestimmtheit zum Vorwurf gemacht werden. Der Kampf gegen den inneren Feind ist im vollen Gange. Schwerlich sind jemals in der Vergangenheit Festungen, Schlösser, Gefängnisse, die besonderen Räume in den Polizeirevieren und selbst provisorisch in Gefängnisse umgewandelte Privathäuser und Wohnungen derart mit Verhafteten überfüllt gewesen. Es fehlt an Raum, um alle Aufgegriffenen unterzubringen, es ist unmöglich, ohne Ausrüstung außerordentlicher „Expeditionen", mit den gewöhnlichen „Transportmitteln" alle Verbannten nach Sibirien zu verschicken, es fehlt an Kräften und Mitteln, ein einheitliches Regime für alle Häftlinge aufrechtzuerhalten, die insbesondere empört sind über die vollkommene Willkür der kopflosen und dabei dünkelhaften Ortsbehörden und durch sie zu Protesten, Kampf und Hungerstreik getrieben werden. Die höheren Behörden aber, die es den kleinen Beamten überlassen, mit den bereits festgenommenen inneren Feinden abzurechnen, arbeiten eifrig weiter an der „Verbesserung" und Reorganisierung der Polizei, um den Kampf gegen die Wurzeln und die Fäden der Bewegung fortzusetzen. Es ist ein offener und wirklicher Krieg, den immer größere Massen der russischen Bevölkerung nicht nur beobachten, sondern auch mehr oder weniger unmittelbar zu spüren bekommen. Hinter der Vorhut der fliegenden Polizei- und Gendarmerieabteilungen bewegt sich langsam, aber sicher auch die schwere Maschine der Gesetzgebung vorwärts. Man betrachte nur die Gesetze vom letzten Monat, – und vor allem springen einem hier die neuen Verordnungen in die Augen, die die letzten Reste der finnländischen Freiheiten beseitigen, dann vielleicht noch das umfassende Gesetz über die Unterstützungskassen des Adels. Die erste dieser Maßnahmen untergräbt vollkommen die Selbständigkeit der finnländischen Gerichte und des Senats und gibt dem Generalgouverneur die Möglichkeit, alles zu wissen, alles zu erfahren, d. h. sie macht Finnland tatsächlich zu einer der vielen rechtlosen und erniedrigten russischen Provinzen. Von nun an, – bemerkt die polizeioffizielle „Finlandskaja Gazeta"1 – besteht die Hoffnung auf ein „einträchtiges" Zusammenwirken aller örtlichen Behörden … Man weiß nicht, ist das nun eine schadenfrohe Verhöhnung des wehrlosen Gegners, der den niederträchtigsten und entscheidensten Schlag erhalten hat, oder ein salbungsvolles Gerede im Geiste des Juduschka Golowlew.

Das zweite der genannten Gesetze ist ein neuer Sprössling derselben Besonderen Konferenz für die Angelegenheiten des Adels, die das Vaterland bereits mit der Ausplünderung der sibirischen Ländereien beglückt hat („Einführung des Großgrundbesitzes in Sibirien"2). Während einer schweren Handels- und Industriekrise und der vollständigen Verelendung des Dorfes, wo Millionen Arbeiter und Bauern hungern und bitterste Not leiden, kann man sich selbstverständlich keine bessere Verwendung des Volksgeldes vorstellen, als für Gnadengeschenke an die unglücklichen adeligen Herren Grundbesitzer. Die Regierung wird jeder Adels-Unterstützungskasse erstens einmalig eine bestimmte Summe geben („nach Ermessen seiner Majestät des Kaisers"!) und, zweitens, zehn Jahre lang der Kasse einen Zuschuss geben in Höhe der Summe, die die Adligen der betreffenden Gegend selber aufbringen werden. Die Kasse wird diejenigen unterstützen, denen es schwer fällt, ihre Schuldzinsen zu zahlen. Die Herren Adeligen können unbekümmert Anleihen aufnehmen, nachdem man ihnen einen bequemen Weg gewiesen hat, das Geld zur Abzahlung der Schuld aus der Tasche des Volkes zu nehmen.

Und wie absichtlich, um aus dieser Politik der Verhetzung, der Gewalttätigkeit und des Raubes das Ergebnis zu ziehen, um sie zu verallgemeinern und zu heiligen, kamen die Reden des Zaren an die Adeligen, die Semstwoleute, die Bauern und die Arbeiter (in Kursk und Petersburg)3. Den Adeligen sprach der Zar seinen Dank für die ihm gewissenhaft geleisteten Dienste aus, er versprach, für die Festigung des Großgrundbesitzes, „der seit jeher die Stütze der Ordnung und der moralischen Stärke Russlands gewesen ist", unaufhörlich sorgen zu wollen. Den Semstwoleuten sagte der Zar weder von der Stütze noch von der moralischen Stärke Russlands noch von gewissenhaften Diensten ein Wort. Er erklärte ihnen kurz und bündig, dass sie „berufen seien", „für die örtlichen Einrichtungen auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Bedürfnisse Sorge zu tragen" und dass sie nur, wenn sie das nicht vergessen, nur wenn sie diese ihre Aufgabe erfolgreich erfüllen, seines Wohlwollens gewiss sein können. Das war eine ganz klare Antwort auf die konstitutionellen Neigungen der Semstwoleute, es war eine deutliche Warnung (oder richtiger, eine Herausforderung), eine Drohung, ihnen seine „Gunst" zu entziehen, wenn sie die Grenzen der „örtlichen Einrichtungen auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Bedürfnisse" auch nur im geringsten überschreiten sollten.

Den Bauern erteilte der Zar bereits geradezu einen Verweis wegen „Unruhestiftungen" und „Plünderung der Wirtschaften", die viehisch rohe Auspeitschung und Misshandlung der aus Hunger und Verzweiflung sich empörenden Bauern nannte er eine „verdiente Strafe" und erinnerte an die Worte Alexanders III., der befohlen hatte, „den Adelsmarschällen zu gehorchen". Den Arbeitern gegenüber sprach der Zar schließlich schlechthin von „den Feinden", seinen Feinden, die auch die Feinde der Arbeiter sein müssen.

Also, die Adeligen sind die treuen Diener und waren seit jeher die Stütze der Ordnung. Die Semstwoleute (oder der Semstwo-Adel?) verdienen eine Verwarnung. Die Bauern – einen Verweis und den Befehl, dem Adel zu gehorchen. Den Arbeitern gegenüber wird klipp und klar die Frage der Feinde gestellt. Lehrreiche Reden! Lehrreich ist es, diese Reden miteinander zu vergleichen, und es wäre sehr wünschenswert, dass möglichst große Volksmassen durch Aufrufe, Flugblätter, Reden in Zirkeln und Versammlungen den genauen Wortlaut und die wirkliche Bedeutung dieser Reden kennenlernen. Einfache erläuternde Anmerkungen zum Wortlaut dieser Reden könnten eine ausgezeichnete Unterlage für die Agitation selbst im unwissendsten Teil der rückständigsten Schichten der Arbeiterklasse, der kleinen Händler und Gewerbetreibenden, und auch der Bauernschaft liefern. Aber nicht nur für das „unwissende" Volk, sondern auch für viele aufgeklärte und gebildete russische Kleinbürger wäre es nützlich, über die Zarenreden gut nachzudenken – ganz besonders für die Kleinbürger aus den Kreisen der Liberalen im Allgemeinen und der Semstwoleute im Besonderen. Nicht oft hört man aus dem Munde gekrönter Häupter ein so bestimmtes Bekenntnis, eine solche Bestätigung und Verkündung des inneren Krieges: des Krieges der verschiedenen Bevölkerungsklassen, des Krieges gegen den inneren Feind. Und eine offene Anerkennung des Krieges ist ein ausgezeichnetes Mittel gegen das Politikantentum jeglicher Art, d. h. gegen die Versuche, den Krieg zu vertuschen, zu umgehen, zu dämpfen, oder gegen die Versuche, seinen Charakter abzuschwächen und herabzusetzen.

Das Politikantentum, von dem wir sprechen, äußert sich sowohl auf Seiten der Regierung als auch auf Seiten der friedlichen Opposition und hin und wieder sogar bei den Revolutionären (in diesem letzten Fall allerdings in einer besonderen Form, die den andern nicht ähnlich ist). Auf Seiten der Regierung ist es ein bewusstes Spiel, eine Bereitschaft, einen Bruchteil des Versprochenen zu verwirklichen, und die Forderung, dafür auf den politischen Kampf zu verzichten, – das ist das Wesen der „Subatowiade". Heute sehen sogar schon manche Semstwoleute ein, dass die Besprechungen des Innenministers Plehwe mit dem Herrn D. N. Schipow (dem Vorsitzenden des Moskauer

Semstwoamtes) den Beginn einer Semstwo-„Subatowiade" bedeuteten. Plehwe verspricht, dem Semstwo „mehr Wohlwollen" entgegenzubringen (vgl. „Oswoboschdenije" Nr. 7)4, er verspricht, zu Beginn des nächsten Jahres eine Konferenz der Vorsitzenden der Semstwoämter einzuberufen, in der „alle Fragen, die die Organisation der Semstwoeinrichtungen betreffen", entschieden werden sollen, und fordert dafür, dass die Semstwoleute „nichts von einer Vertretung in den höheren Regierungsstellen verlauten lassen". Man sollte meinen, die Sache sei vollkommen klar: ein ganz unbestimmtes Versprechen, dafür aber eine Forderung, deren Erfüllung die Wünsche der Semstwoleute undurchführbar macht. Gegen diesen politischen Betrug, diese Betrügerei und Korruption kann es nur ein einziges Mittel geben: schonungslose Entlarvung der Betrüger und entschlossener, politischer (d. h. in russischen Verhältnissen revolutionärer) Kampf gegen den Polizei-Absolutismus. Unsere Semstwoleute aber zeigen sich, soweit man es nach dem „Oswobosdenije" beurteilen kann, noch nicht auf der Höhe dieser Aufgabe. Auf Politikantentum antworten sie mit Politikantentum, ihr Organ offenbart eine vollkommene Unsicherheit. In Nr. 7 des „Oswoboschdenije" tritt dieser Mangel an Sicherheit besonders anschaulich zutage, da sich nicht nur die Redaktion, sondern auch verschiedene Mitarbeiter, mit denen die Redaktion mehr oder weniger nicht einverstanden ist, zu dieser Frage äußern. Im redaktionellen Leitartikel wird die Ansicht, die Versprechungen Plehwes seien eine Falle und eine „Subatowiade", nur als die Ansicht einzelner Semstwoleute angeführt, und gleich daneben wird die Ansicht anderer Semstwoleute mitgeteilt, die „geneigt sind, den Anweisungen des Herrn Ministers Folge zu leisten" (11), Die Redaktion ist weit entfernt von dem Gedanken, gegen die Semstwo-„Subatowiade" einen Feldzug zu eröffnen. Sie hat die Semstwoleute vor „Zugeständnissen" an die Regierung gewarnt (in Nr. 5 und 6)5, aber sie ist nicht aufgetreten mit einer entschiedenen Verurteilung der Herren Schipow und Konsorten, die dem Rat des alten Polizeifuchses gefolgt waren und aus dem Programm des Frühjahrskongresses der Semstwos den Punkt 4 gestrichen hatten (der auf die Notwendigkeit hinwies, die Besondere Konferenz für die Bedürfnisse der landwirtschaftlichen Industrie durch gewählte Semstwodelegierte zu ergänzen). Die Redaktion gelangte in ihrem Leitartikel nicht zu dem Schluss, dass das Eingehen eines Teiles der Semstwoleute auf die niederträchtigen Köderversuche der Polizei eine Erniedrigung für das Semstwo sei, sondern zu dem Schluss, dass schon allein die Tatsache der Verhandlungen der Regierung mit dem Semstwo beweise, dass das Semstwo schon jetzt eine „Vertretung" (!!) darstelle, und dass der von Plehwe versprochene „Kongress" (Plehwe hat doch wohl nur von einer Konferenz gesprochen?) „auf jeden Fall wünschenswert sei", denn „er werde nicht umhin können, in den Beziehungen zwischen Semstwo und Regierung Klarheit zu schaffen". Die Redaktion ist „fest davon überzeugt, dass die Semstwoführer verstehen werden, auf dem Kongress als das aufzutreten, was sie sein müssen, – als Vertreter der Bevölkerung, und nicht als Handlanger der Minister auf wirtschaftlichem Gebiet". Will man nur auf Grund des redaktionellen Leitartikels urteilen, so muss man, im Gegenteil, fest davon überzeugt sein, dass sich die Semstwoleute wieder als „Handlanger" der Polizeibehörde erweisen werden, als die sich schon die Herren Schipow und Konsorten erwiesen haben (solange eine andere Semstwoströmung sie nicht zurückdrängt oder verändert).

Von dem Politikantentum des Leitartikels erholt man sich mit Vergnügen bei den weiteren Artikeln der Mitarbeiter: des Herrn Anton Starizki und noch mehr des Semstwoabgeordneten T.6. Herr Starizki nennt die Handlungsweise der Herren Schipow und Konsorten einen „Fehlschritt" und rät den Semstwoleuten, „sich nicht zu beeilen, ihr Erstgeburtsrecht angesichts eines Kongresses preiszugeben, dessen Form von Herrn Plehwe bestimmt werden soll". Er rät, in keine Falle zu gehen und sich keinem Politikantentum hinzugeben. Die Redaktion macht die Anmerkung: „Wir sind im Allgemeinen mit dem Verfasser des Artikels einverstanden", anscheinend ist sie der Meinung, dass man im Besonderen das Politikantentum nicht so einseitig verurteilen dürfe.*

Der zweite Mitarbeiter rebelliert bereits offen gegen die ganze Stellung des „Oswoboschdenije", er greift deren Halbheit und Unentschlossenheit an, verurteilt so unaufrichtige Redensarten, wie den Hinweis auf die „Volksanarchie", und erklärt, dass „man sich nicht mit halben Maßnahmen zufrieden geben dürfe, dass man sich entschließen müsse, bis zu Ende zu gehen", dass „es notwendig sei, mit den sklavischen halben Maßnahmen der legalen Opposition aufzuhören" … „ohne vor Opfern halt zu machen", dass „wir (Semstwoleute), wenn wir nicht Revolutionäre werden, nichts Wesentliches für die Sache der politischen Befreiung Russlands zu tun imstande sein werden". Wir begrüßen von ganzem Herzen die ehrlichen und energischen Worte des Herrn Semstwoabgeordneten und raten allen, die sich mit dieser Frage beschäftigen, dringend, sie zu lesen. Der Herr Semstwoabgeordnete bestätigt vollkommen das von uns in der „Iskra" über das Programm des „Oswoboschdenije" gefällte Urteil.7 Noch mehr: sein Artikel beweist nicht nur die Richtigkeit unseres Standpunktes, sondern auch die Zweckmäßigkeit unserer schroffen Brandmarkung der Halbheit des Liberalismus. Es erweist sich, dass es auch in Semstwokreisen Leute gibt, denen jedes Schwanken zuwider ist und die wir – durch eine schonungslose Kritik dieser Liebedienerei von unserem Standpunkt aus – zu unterstützen bemüht sein müssen.

Der Redakteur des „Oswoboschdenije" ist natürlich mit dem Herrn Semstwoabgeordneten nicht einverstanden und erklärt achtungsvoll, aber entschieden: „Vieles betrachten wir mit anderen Augen" Ja, allerdings! Und was sind die Einwände der Redaktion? Sie laufen alle auf zwei Hauptpunkte hinaus: erstens, zieht Herr Struve „grundsätzlich" friedliche Wege vor, zum Unterschied, wie er meint, von einzelnen Revolutionären: zweitens, wirft er den Revolutionären Mangel an Duldsamkeit vor. Betrachten wir diese Einwände.

In dem Aufsatz „Aus Anlass eines Vorwurfs" führt Herr Struve (der Aufsatz ist gezeichnet. Die Red. der „Iskra") meinen Aufsatz in Nr. 2–3 der „Sarja" („Die Hetze gegen das Semstwo und die Hannibale des Liberalismus") an. Ihm Missfallen natürlich insbesondere die Worte, dass, „wenn das Volk in Russland wenigstens einmal der Regierung eine gründliche Lektion erteilen wollte", dies eine „gewaltige historische Bedeutung hätte". Herr Struve ist nämlich entschieden und unbedingt dagegen, dass eine gewaltsame Revolution einer friedlichen Reform vorzuziehen sei. Die entschlossensten russischen Revolutionäre – sagt er – zogen grundsätzlich den friedlichen Weg vor, und diese ruhmvolle Tradition kann durch keinerlei Doktrinen zum Schweigen gebracht werden.

Etwas Unrichtigeres und mehr Erkünsteltes als diese Darlegung kann man sich schwer vorstellen. Begreift denn Herr Struve nicht, dass der aufrührerische Sklave das Recht hat, von dem Vorzug eines Friedens mit dem Sklavenhalter zu sprechen, dass aber der Sklave, der auf den Aufruhr verzichtet, in schmachvolle Heuchelei verfällt, wenn er dieselben Worte wiederholt? „Die Kräfte der Revolution in Russland sind leider oder glücklicherweise noch nicht herangereift", sagt Herr Struve, und dieses Wort „glücklicherweise" verrät ihn ganz.

Was aber die ruhmvollen Traditionen des revolutionären Denkens anbelangt, so sollte Herr Struve lieber schweigen. Es genügt für uns, auf die berühmten Schlussworte des „Kommunistischen Manifestes" hinzuweisen. Es genügt, daran zu erinnern, dass dreißig Jahre nach dem Erscheinen des „Manifestes", als die deutschen Arbeiter eines Bruchteiles jener Rechte beraubt wurden, die das russische Volk niemals besessen hat, Engels Dühring folgende Antwort erteilte:

Für Herrn Dühring ist die Gewalt das absolut Böse, der erste Gewaltakt ist ihm der Sündenfall, seine ganze Darstellung ist eine Jammerpredigt über die hiermit vollzogene Ansteckung der ganzen bisherigen Geschichte. Mit der Erbsünde, über die schmähliche Fälschung aller natürlichen und gesellschaftlichen Gesetze durch die Teufelsmacht, die Gewalt. Dass die Gewalt aber noch eine andere Rolle in der Geschichte spielt, eine revolutionäre Rolle, dass sie, in Marx' Worten, die Geburtshelferin jeder alten Gesellschaft ist, die mit einer neuen schwanger geht, dass sie das Werkzeug ist. womit sich die gesellschaftliche Bewegung durchsetzt und erstarrte, abgestorbene politische Formen zerbricht – davon kein Wort bei Herrn Dühring. Nur unter Seufzen und Stöhnen gibt er die Möglichkeit zu, dass zum Sturz der Ausbeutungswirtschaft vielleicht Gewalt notwendig sein werde – leider! Denn jede Gewaltanwendung demoralisiere den, der sie anwendet. Und das angesichts des hohen moralischen und geistigen Aufschwungs, der die Folge jeder siegreichen Revolution war! Und das in Deutschland, wo ein gewaltsamer Zusammenstoß, der dem Volk ja aufgenötigt werden kann, wenigstens den Vorteil hätte, die aus der Erniedrigung des Dreißigjährigen Krieges in das nationale Bewusstsein gedrungene Bedientenhaftigkeit auszutilgen. Und diese matte, saft- und kraftlose Predigerdenkweise macht den Anspruch, sich der revolutionärsten Partei aufzudrängen, die die Geschichte kennt?"

Gehen wir zum zweiten Punkt, zum Mangel an Duldsamkeit über. Erforderlich ist „gegenseitiges Verständnis", „volle Aufrichtigkeit" und „weitgehende Duldsamkeit" gegenüber den verschiedenen Richtungen, – belehrt uns Herr Struve salbungsvoll (ebenso wie zahlreiche Sozialrevolutionäre und Vertreter der Leserwelt). Nun, aber was tun – fragen wir ihn –, wenn unsere volle Aufrichtigkeit ihnen als ein Mangel an Duldsamkeit erscheinen wird? Wenn wir z. B. der Meinung sind, dass das „Oswoboschdenije" eine rechte und eine linke Hand hat, eine schädliche verräterische linke Hand, – verpflichtet uns dann die volle Aufrichtigkeit nicht zu einem schonungslosen Kampf gegen diese linke Hand? Verpflichtet sie uns nicht zum Kampf gegen das Abenteurertum (oder Politikantentum) der Sozialrevolutionäre, das bei ihnen sowohl in den Fragen der Theorie des Sozialismus als auch in ihrer Einstellung zum Klassenkampf durch ihre gesamte Taktik zum Ausdruck kommt? Ist auch nur eine Spur von politischem Sinn vorhanden in der Forderung, diesen Kampf dem zuliebe zu schwächen und zu lähmen, was die Leute, gegen die sich dieser Kampf richtet, Duldsamkeit zu nennen belieben?

Es wäre an der Zeit, ihr Herren, Schluss zu machen mit dem Naivtun aus Galanterie! Es wäre an der Zeit, jene einfache Wahrheit zu begreifen, dass eine wirkliche (und nicht nur in Worten bestehende) Kampfgemeinschaft gegen den gemeinsamen Feind nicht durch Politikantentum verbürgt wird, nicht durch das, was der verstorbene Stepnjak einmal Selbstverstümmelung und Sich-vor-sich-selbst-verstecken genannt hat, nicht durch die konventionelle Lüge gegenseitiger diplomatischer Anerkennung, – sondern durch die tatsächliche Beteiligung am Kampfe, durch tatsächliche Einheit des Kampfes. Als der Kampf der deutschen Sozialdemokraten gegen die militaristisch-polizeiliche und die feudal-klerikale Reaktion tatsächlich gemeinsam mit einer wirklichen Partei, die sich auf eine bestimmte Klasse des Volkes (z. B. auf die liberale Bourgeoisie) stützte, ausgefochten werden konnte, da wurde eine Aktionsgemeinschaft ohne Redereien über gegenseitige Anerkennung hergestellt. Von der Anerkennung einer für alle offensichtlichen und greifbaren Tatsache spricht man nicht (bitten wir doch niemanden um die Anerkennung der Arbeiterbewegung!). Nur Leute, die Politik mit Politikantentum verwechseln, können glauben, dass der „Ton" einer Polemik imstande sei, ein wirkliches politisches Bündnis zu verhindern. Aber solange wir an Stelle einer wirklichen Beteiligung an unserem Kampfe nur ausweichende Redensarten, an Stelle einer wirklichen Annäherung irgendeiner andern Gesellschaftsschicht oder Klasse an unseren Kampf nur eine Abenteurertaktik haben, – solange wird kein Schwall drohender oder jammernder Worte die „gegenseitige Anerkennung" auch nur um Haaresbreite näher bringen.

1 Lenin meint hier den Leitartikel in Nr. 142 der Finnländischen Zeitung vom 19. September 1902, unter dem Titel: „Allerhöchste Verfügung über einige Änderungen in der Verfassung des Kaiserlichen Finnländischen Senats".

2 Lenin meint das Gesetz vom 8. Juli 1901 über die Abgabe von staatlichen Ländereien in Sibirien an Privatpersonen, mit dem er sich in dem Artikel „Die Fronherren an der Arbeit" („Iskra" Nr. 8, 10. September 1901) befasst hat.

3 Der offizielle Text der Reden Nikolaus II. im September 1902 in Kursk an die Adligen, die Semstwoleute und Bauern, ferner die Ansprache an die Arbeiter der Baltischen Werke in Petersburg, sind in Nr. 191, 192 und 202 des „Prawitjelstwenny Wjestnik" (Regierungsanzeiger) vom Jahre 1902 veröffentlicht.

4 Zitat aus einer Korrespondenz, die im Leitartikel in Nr. 7 des „Oswoboschdenije" (1. Oktober 1902 n. St.) angeführt war und den Inhalt einer Unterredung Plehwes mit D. N. Schipow wiedergab.

5 Gegen „Zugeständnisse" der Semstwoleute an die Regierung nahm „Oswoboschdenije" in den Leitartikeln der Nr. 5 und Nr. 6 (1. und 15. September 1902 n. St.) Stellung. „Ernste Zugeständnisse – schrieb Struve in Nrr- 6 – will und wird die Regierung nicht machen. Die erste Pflicht des Semstwo und der Semstwoleute ist jetzt – eine feste Position einzunehmen, ohne sich durch Unzufriedenheit, Drohungen oder Gunstbezeugungen beirren zu lassen. Jedes Zugeständnis des Semstwo, jede Politik, die darin bestehen würde, die oberste Gewalt nicht zu reizen und darum die dringendsten Fragen des geschichtlichen Augenblicks zu umgehen, wäre eine unverzeihliche Schwäche."

6 Der von Lenin zitierte Artikel Anton Starizkis (Pseudonym) aus Nr. 7 des „Oswoboschdenije" trägt den Titel „Ein falscher Schritt"; der Artikel des „Semstwoabgeordneten T." – „Friedliche Opposition oder revolutionärer Kampf?"

* In der uns soeben zugegangenen Nr. 8 des „Oswoboschdenije" sehen wir bereits eine entschiedenere Verurteilung des Politikantentums und des Fehlschrittes des Herrn Schipow. {Im Leitartikel der Nr. 8 des „Oswoboschdenije" (v. 15. Oktober 1902) stellte Struve die „großen Fehler" fest, die D. N. Schipow begangen hat, als er es ablehnte, die dringendsten Forderungen der Semstwoleute zu vertreten, insbesondere die Forderung der Teilnahme der gewählten Vertreter der Gouvernements-Semstwos an der besonderen Beratung über die Nöte der landwirtschaftlichen Industrie und am Landwirtschaftsrat beim Ministerium für Ackerbau, und als „er es zuließ, dass Plehwe ihn in seine Netze lockte".} Glück auf! Vielleicht wird der Fall dieses ehrenwerten Politikers die Redaktion veranlassen, die Wurzeln des „Politikantentums" in ihren Grundanschauungen über das Verhältnis des Liberalismus zu den revolutionären Richtungen zu suchen?

7 Ein Urteil über die beiden ersten Nummern des „Oswoboshednije" ist in L. Martows Artikel „Das Programm der russischen Liberalen" enthalten („Iskra" Nr. 23, 1. August 1902).

Kommentare