Lenin‎ > ‎1904‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19040220 Über die Umstände, die den Austritt aus der Redaktion der „Iskra" hervorgerufen haben

Wladimir I. Lenin: Über die Umstände, die den Austritt aus der Redaktion der „Iskra" hervorgerufen haben1

[Veröffentlicht im Jahre 1904. in der Broschüre „Kommentare zu den Protokollen des 2. Kongresses der Auslandsliga der Russischen Revolutionären Sozialdemokratie", Genf. Nach Sämtliche Werke, Band 6, Wien-Berlin, S. 188-194]

Genf, 20. Februar 1904

Werte Genossen!

Da Ihr in Eurer Broschüre über die Umstände sprecht, die meinen Austritt aus der Redaktion der „Iskra" hervorgerufen haben, so bitte ich Euch, im Anhang zu Eurer Broschüre meine Antwort auf den Brief des Genossen Plechanow an den Genossen Martow vom 29. Januar 1904, der in der Broschüre Martows über den Kampf gegen den „Belagerungszustand" veröffentlicht ist, abzudrucken.

Genosse Plechanow ist der Ansicht, ich hätte in meinem Brief an die Redaktion die Sache ungenau dargestellt. Doch hat er keine einzige tatsächliche Verbesserung vorgenommen oder vornehmen können. Er hat meine Darlegung nur ergänzt durch die ungenaue Wiedergabe eines Privatgespräches zwischen mir und ihm.

Im Allgemeinen betrachte ich die Berufung auf Privatgespräche als sicheres Zeichen für das Fehlen ernster Argumente. Ich bin auch jetzt der Meinung, die noch vor kurzem, als Genosse Martow sich auf Privatgespräche berief, Genosse Plechanow vertrat (Protokolle der Liga, S. 134), nämlich, dass es kaum möglich sei, solche Unterhaltungen „genau wiederzugeben", und dass eine „Polemik" über sie„zu nichts führen wird".

Aber wenn Genosse Plechanow schon einmal unsere Privatgespräche angeführt hat, so glaube ich das Recht zu haben, sie zu erläutern und zu ergänzen, um so mehr als die Gespräche in Gegenwart dritter Personen stattgefunden haben.

Die erste Unterhaltung, während der Genosse Plechanow von seinem Entschluss sprach*, sein Amt niederzulegen für den Fall, dass ich unbedingt gegen die Kooptation sein sollte, fand am Abend des letzten Tages des Liga-Kongresses und am nächsten Morgen in Gegenwart von zwei Mitgliedern des Parteirats statt. Das Gespräch drehte sich um die Frage der Zugeständnisse an die Opposition. Plechanow bestand auf der Notwendigkeit, nachzugeben, denn er war davon überzeugt, dass die Opposition sich keinem Beschluss des Parteirats fügen wird, und dass die vollständige Spaltung der Partei sofort zur Tatsache werden kann. Ich bestand darauf, dass es unmöglich sei – nach all dem, was in der Liga vorgefallen war, nach den auf dem Liga-Kongress von dem Vertreter des Zentralkomitees getroffenen Maßnahmen (Genosse Plechanow hat aber an der Besprechung über jede dieser Maßnahmen teilgenommen und sie vollkommen gebilligt) – dem anarchistischen Individualismus nachzugeben, und dass das Auftreten einer besonderen literarischen Gruppe (die ich mehrfach in Gesprächen mit Plechanow und gegen seine Ansicht für vollkommen zulässig hielt) vielleicht noch nicht unbedingt die Spaltung bedeute. Als das Gespräch auf die Frage hinauszulaufen begann, dass einer von uns sein Amt niederlegen müsse, da sagte ich sofort, dass ich zurücktreten würde, weil ich Plechanow nicht hindern wollte, den Versuch zu machen, dem aus dem Wege zu gehen, was er als Spaltung betrachtete.

Genosse Plechanow ist jetzt so liebenswürdig mir gegenüber, dass er für meinen Schritt keine anderen Beweggründe findet als feigste Verschlagenheit. Um diese meine Eigenschaft in den lebhaftesten Farben zu schildern, schreibt mir Genosse Plechanow die Worte zu: „Jeder wird sagen: offensichtlich ist Lenin im Unrecht, wenn sich sogar Plechanow von ihm getrennt hat".

Die Farben sind dick aufgetragen, das muss man sagen! So dick, dass sich sogar eine von Genossen Plechanow nicht bemerkte offensichtliche Unsinnigkeit ergibt. Wenn ich davon überzeugt wäre, dass „jeder" der Meinung sein wird, Plechanow habe recht (wie Plechanow bescheiden von sich denkt), und wenn ich es für notwendig hielte, auf die Meinung dieses „jeden" Rücksicht zu nehmen, so würde ich wohl kaum je gewagt haben, mich von Plechanow zu trennen, sondern ich wäre ihm auch in diesem Falle gefolgt. Von dem Wunsch getragen, mein Verhalten möglichst schlimm und durch die niedrigsten Beweggründe veranlasst darzustellen, hat mir Plechanow Beweggründe zugeschrieben, die vollkommen sinnlos sind. Ich soll so sehr Angst gehabt haben, mich in irgendeiner Frage von Plechanow zu trennen, dass ich – mich von ihm getrennt habe! Da stimmt etwas bei Genossen Plechanow nicht.

In Wirklichkeit war mein Gedanke folgender: besser ist es, ich trete aus, sonst wird meine besondere Meinung Plechanows Versuche, Frieden zu schließen, stören. Versuche will ich nicht stören; vielleicht werden wir uns über die Friedensbedingungen einigen, aber ich halte es nicht für möglich, für eine Redaktion verantwortlich zu sein, der auf diese Weise vom Zirkelwesen im Ausland ihre Mitglieder aufgezwungen werden.

Mehrere Tage später suchte ich tatsächlich zusammen mit einem Mitglied des Parteirats Plechanow auf. Unser Gespräch mit ihm nahm folgenden Verlauf:

Wissen Sie – sagte Plechanow – es gibt manchmal so zanksüchtige Frauen, dass man ihnen nachgeben muss, um hysterische Anfälle und laute Skandalgeschichten vor aller Welt zu vermeiden.

Vielleicht – antwortete ich – aber man muss so nachgeben, dass man die Macht behält, noch schlimmere „Skandalgeschichten" nicht zuzulassen.

Nun, weggehen heißt in allem nachgeben – antwortete Plechanow.

Nicht immer – erwiderte ich und berief mich auf das Beispiel Chamberlains. Mein Gedanke war nämlich der, den ich auch in der Presse zum Ausdruck gebracht hatte: wenn es Plechanow gelingt, einen auch für die Mehrheit, in deren Reihen Plechanow so lange und so energisch gekämpft hat, annehmbaren Frieden zu erzielen, so werde ich auch keinen Krieg eröffnen; wenn ihm das nicht gelingt, so behalte ich mir Handlungsfreiheit vor, um die „zanksüchtige Frau" zu entlarven, wenn selbst Plechanow nicht imstande sein sollte, sie zur Ruhe zu bringen.

In demselben Gespräch erzählte ich Plechanow (der die Bedingungen der Opposition noch nicht kannte) von meinem „Entschluss", dem Zentralkomitee als Mitglied beizutreten (ich konnte das „beschließen", aber selbstverständlich mussten alle Mitglieder des Zentralkomitees ihre Zustimmung dazu geben). Plechanow brachte diesem Plan die vollste Sympathie entgegen, er betrachtete das als letzten Versuch, auf irgendeiner Grundlage mit der „zanksüchtigen Frau" auszukommen. Als ich im Brief an Plechanow vom 6. November 1903 die Meinung äußerte, dass er vielleicht ganz einfach die Redaktion den Martowleuten ausliefern werde, da antwortete Plechanow (8. November) … „Sie haben, wie mir scheint, meine Absichten falsch verstanden. Ich habe sie gestern Genossen Wassiljew (einem Mitglied des Zentralkomitees, der an dem Kongress der Liga teilgenommen hat) noch einmal auseinandergesetzt". Demselben Genossen Wassiljew hatte Plechanow in einem Brief vom 10. November über die Frage, ob das Erscheinen der Nr. 52 der „Iskra" mit der Mitteilung über den Parteitag beschleunigt oder verzögert werden soll, folgendes geschrieben: … „Die Mitteilung über den Parteitag veröffentlichen heißt: 1. entweder veröffentlichen, dass Martow und die andern an der „Iskra" nicht mitarbeiten, oder 2. dieses Verlangen Martows nicht erfüllen, und dann wird Martow in einem besonderen Flugblatt davon Mitteilung machen. In beiden Fällen wird die Öffentlichkeit von der Spaltung in Kenntnis gesetzt, gerade das aber müssen wir jetzt vermeiden" (von mir gesperrt. N. L.). Am 17. November schreibt Plechanow an denselben Genossen: „ … Was denken Sie über eine sofortige Kooptation Martows u. a.? Ich beginne zu glauben, dass das ein Mittel wäre, die Angelegenheit mit den geringsten Schwierigkeiten beizulegen. Ohne Sie möchte ich nicht handeln…" (gesperrt von Plechanow)

Aus diesen Sätzen geht klar hervor, dass Plechanow sich bemühte, im Einverständnis mit der Mehrheit zu handeln, er wollte die Redaktion nur um des Friedens willen und unter der Bedingung des Friedens kooptieren, keineswegs um gegen die Mehrheit Krieg zu führen. Wenn das Gegenteil eingetreten ist, so hat das nur gezeigt, dass die Karre des anarchistischen Individualismus in der Taktik des Boykotts und der Desorganisation zu rasch gefahren ist und dass die stärkste Bremse versagt hat. Das ist natürlich sehr schade, und Plechanow, der aufrichtig den Frieden wollte, ist in eine unangenehme Lage geraten; doch die Schuld dafür auf mich allein abzuwälzen, das geht nicht an.

Was die Worte Plechanows über mein Zugeständnis, gegen ein entsprechendes „Äquivalent" zu schweigen, anbelangt und die stolze Behauptung: „Ich hielt es nicht für notwendig, sein Schweigen zu erkaufen", so macht dieses polemische Verfahren nur einen lächerlichen Eindruck, wenn man sie mit den von mir oben angeführten Worten aus dem Brief vom 10. November vergleicht. Gerade Plechanow war es, der der Frage des Schweigens ungeheure Bedeutung beimaß, dem es darauf ankam, dass die Öffentlichkeit nichts von der Spaltung erfahre**. Was war also natürlicher, als dass ich ihm mitteilte, auch damit unter der Bedingung des Friedens einverstanden zu sein? Das Gerede über ein Zugeständnis „gegen ein Äquivalent" und über das „Erkaufen" zwingt nur zu der Annahme, dass Plechanow ein nächstes Mal der Öffentlichkeit mitteilt, Lenin stelle für solche „Käufe" falsches Papiergeld her. So etwas hat es doch bei Streitigkeiten unter Emigranten gegeben – die entsprechende Atmosphäre ist vorhanden.

Der Brief des Genossen Plechanow bringt unwillkürlich auf den Gedanken: muss er sich vielleicht jetzt das Recht, in der Minderheit zu sein, erkaufen? Die Taktik der Minderheit in unserm sogenannten Parteiorgan hat bereits feste Form angenommen. Sie muss sich bemühen, die Streitfragen und Tatsachen, die faktisch zu unserer Trennung geführt haben, zu verschleiern.

Sie muss sich bemühen nachzuweisen, dass Martynow der „Iskra" viel näher gestanden habe als Lenin, – wie, worin und wie weit, das wird die in Verwirrung geratene Redaktion der neuen „Iskra" noch lange analysieren. Sie muss sich bemühen, Genossen in der Polemik heuchlerisch zu verurteilen – und in Wirklichkeit den ganzen Kampf auf einen Feldzug gegen diese Genossen zu beschränken, ohne selbst davor haltzumachen, dem „Feind" ganz unsinnige bösartige Eigenschaften zuzuschreiben – von der skrupellosesten Gradlinigkeit bis zur feigsten Verschlagenheit. Nur möglichst starke Worte müssen es sein. Und unsere neuen Verbündeten, Genosse Plechanow und Genosse Martow, finden so starke Worte, dass sie bald den berühmten Bundisten mit ihrem berühmten „Pack" in nichts mehr nachstehen werden. Die Verbündeten bombardieren mich von ihren Panzerkreuzern aus so eifrig, dass sich mir der Gedanke aufdrängt: ist das nicht eine Verschwörung von zwei Dritteln des schrecklichen Dreierkollegiums? Sollte ich nicht auch so tun, als fühlte ich mich beleidigt? Sollte ich nicht auch über „Belagerungszustand" schreiben? Das ist doch manchmal so bequem und so vorteilhaft …

Übrigens, um ein wirklicher Anhänger der Minderheit zu werden, wird Genosse Plechanow wohl noch zwei kleine Schritte zu machen haben: erstens wird er zugeben müssen, dass die von den Genossen Axelrod und Martow auf dem Parteitag verteidigte (und jetzt von ihnen eifrig verschwiegene) Fassung des ersten Paragraphen des Statuts nicht einen Schritt zum Opportunismus ausdrücke, nicht das Strecken der Waffen vor dem bürgerlichen Individualismus, sondern der Keim sei der neuen, wahrhaft sozialdemokratischen Akimow-Martowschen und Martynow-Axelrodschen organisatorischen Auffassungen. Zweitens wird er anerkennen müssen, dass der Kampf gegen die Minderheit nach dem Parteitag nicht ein Kampf gewesen sei gegen die groben Verletzungen der Parteidisziplin, gegen die Agitationsmethoden, die nur Empörung hervorrufen, nicht ein Kampf gegen den Anarchismus und die anarchistische Phrase (siehe S. 17, 96, 97, 98, 101, 102, 104 und viele andere der Liga-Protokolle), sondern ein Kampf gegen den „Belagerungszustand", den Bürokratismus, den Formalismus usw.

Mit den Streitfragen dieser Art werde ich mich eingehender in einer Broschüre zu befassen haben, die jetzt für den Druck vorbereitet wird. Vorläufig aber … vorläufig wollen wir uns die Galerie der Gogolschen Typen ansehen, die unser führendes Blatt eröffnet hat, das sich zur Regel gemacht hat, dem Leser Rätsel aufzugeben. Wer sieht dem gradlinigen Sobakewitsch ähnlich, der jedem auf die Eigenliebe, d. h. auf die Hühneraugen tritt? Wer dem pfiffigen Tschitschikow, der mit den toten Seelen auch das Schweigen kauft? Wer den Nosdrew und Chlestakow? Den Manilow und Skwosnik-Damuchanowski? Interessante und lehrreiche Rätsel … Eine „grundsätzliche Polemik" …


1 Der Titel des Briefes „Über die Umstände, die den Austritt aus der Redaktion der ,Iskra' hervorgerufen haben" stammt von der russischen Redaktion der Werke. Der Brief war an eine Gruppe von Bolschewiki gerichtet (Bontsch-Brujewitsch, Welitschkina, Krupskaja, Korenewski, Litwinow, Baumann, Bobrowski, Pjatnizki, Lalajanz, Kulabko-Lalajanz), die als Gegengewicht zu dem menschewistischen „Protokoll des 2. Kongresses der Auslandsliga der Revolutionären Sozialdemokratie" die „Kommentare" zu diesem Protokoll herausgegeben hatten.

* In seinem Bestreben, genau zu sein, legt Genosse Plechanow einen gewissen Übereifer an den Tag, wenn er sagt: Plechanow hatte kein Recht, die Kooptation zu beschließen, denn laut Statut muss die Kooptation einstimmig beschlossen werden. Das ist keine Verbesserung, sondern ein Vorwand, denn das Statut verbietet, bei fehlender Einstimmigkeit, bestimmte organisatorische Handlungen, nicht aber Beschlüsse, die von vielen Leuten oft nur pro forma angenommen, aber in die Tat nicht umgesetzt werden.

** Apropos. Gerade Plechanow bestand besonders entschieden auf die Nichtveröffentlichung der Ligakongressprotokolle und des letzten Teiles der Parteitagsprotokolle, – jenes Teiles, in dem Plechanow erklärt, dass er die ganze moralische Verantwortung für eine offene Abstimmung gegen die alte sogenannte Redaktion auf sich nehme, jenes Teiles, in dem er die Hoffnung zum Ausdruck bringt, dass die Partei an literarischen Kräften nicht arm geworden ist, – eine Erklärung, die von einem Vertreter der Minderheit eine Paradephrase im pseudoklassischen Stil genannt worden ist. {Die Worte „Paradephrase im pseudoklassischen Stil" stammen von Trotzki. Plechanow konnte Trotzki dieses Wort lange nicht verreiben, das er als eine Frechheit von Trotzki betrachtete. Die Bolschewiki wussten das und nutzten die Worte Trotzkis für eine der bekannten bolschewistischen Karikaturen aus jener Zeit aus („Wie die Mäuse die Katze begruben". Siehe das Sammelbuch „Wie die Partei der Bolschewiki entstand", 1925).}

Kommentare