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Wladimir I. Lenin 19050211 Brief an A. A. Bogdanow und S. J. Gussew

Wladimir I. Lenin: Brief an A. A. Bogdanow und S. J. Gussew1

[Zuerst veröffentlicht 1925 in der Zeitschrift „Proletarskaja Rewoluzija" Nr. 4 (39). Nach dem Manuskript. Nach Werke, Band 8, Berlin 1958, S. 131-135]

11. II. 1905

Gestern sandte ich ein Telegramm, dass ich mit Ihren Abänderungen einverstanden bin, obwohl ich gar nicht einverstanden bin mit dem, was ich aus Ihrem Briefe herauslesen konnte. Aber dieses Hinziehen hängt mir schon so zum Halse heraus und Ihre Fragen klangen mir so höhnisch, dass ich es aufgab: wenn nur wenigstens etwas getan wird! Mag man eine x-beliebige Ankündigung über den Parteitag herausbringen, aber man soll sie herausbringen und nicht darüber reden! Sie werden sich über das Wort höhnisch wundern. Aber in der Tat, überlegen Sie doch: vor zwei Monaten sandte ich meinen Entwurf an alle Mitglieder des Büros. Nicht ein einziger interessierte sich dafür und hielt einen Meinungsaustausch für notwendig!! Und jetzt: telegraphisch … о je, wir reden von Organisation, von Zentralismus, und in Wirklichkeit ist selbst unter den engsten Genossen des Zentrums eine solche Zerfahrenheit, eine solche Eigenbrötelei, dass man ausspucken möchte. Die Bundisten, die schwätzen nicht vom Zentralismus, aber bei ihnen schreibt jeder einmal wöchentlich an das Zentrum und die Verbindung besteht faktisch. Und man braucht nur ihre „Pоslednije Iswestija" („Letzte Nachrichten") in die Hand zu nehmen, um diese Verbindung zu sehen. Bei uns aber erscheint die sechste Nummer des „Wperjod" und von einem Redaktionsmitglied (Rachmetjew) ist keine Zeile da, weder über den „Wperjod" noch für den „Wperjod". Bei uns „redet" man von zahlreichen literarischen Verbindungen in Petersburg sowohl wie in Moskau, von den jungen Kräften der Mehrheit, während wir hier, zwei Monate nach der Aufforderung zur Mitarbeit (Ankündigung über den „Wperjod" und ein Brief darüber) nichts zu hören und nichts zu sehen bekommen. Die russischen Komitees (Kaukasus, Nischni, vom Wolgagebiet und dem Süden schon ganz zu schweigen) halten das Büro für eine „Sage", und das mit vollem Recht. Wir haben von fremden Leuten über irgendein Bündnis des Petersburger Komitees der Mehrheit mit einer Gruppe Menschewiki „gehört" – und kein Wort von unseren eigenen Leuten. Wir können nicht glauben, dass die Bolschewiki einen derartigen selbstmörderischen und dummen Schritt machen konnten. Wir haben von Fremden über eine Konferenz der Sozialdemokraten und über einen „Block" „gehört", aber von unseren eigenen Leuten keinen Ton, obwohl es heißt, dass dies ein fait accompli2 sei. Offenbar bekamen die Bolschewiki wieder einmal Lust, sich an der Nase herumführen zu lassen.

Unsere einzige Stärke ist die offene Geradheit und Geschlossenheit, die Energie des Ansturms. Die Leute scheinen aber aus Anlass der „Revolution" mürbe geworden zu sein!! Zu einer Zeit, wo die Organisation hundertmal notwendiger ist denn je, verkaufen sie sich an die Desorganisatoren. Aus den Abänderungsvorschlägen zu dem Entwurf der Deklaration und des Parteitages (die in dem Brief höchst unklar dargelegt sind) ist zu ersehen, dass man „Loyalität" üben möchte: Papachen schreibt direkt dieses Wort und fügt hinzu: wenn man die Zentralinstanzen nicht erwähnt, würde niemand zum Parteitag kommen! Nun, Herrschaften, ich wette, dass wenn ihr sо handelt, ihr niemals einen Parteitag bekommen und euch niemals von dem Pantoffel der Bonapartisten des ZO und ZK befreien werdet. Einen Parteitag gegen die Zentralinstanzen, denen man das Misstrauen ausgesprochen hat, einberufen, einen Parteitag im Namen eines revolutionären Büros (eines nicht bestehenden und fiktiven, wenn man vor dem loyalen Statut kapituliert) einberufen und auch den 9 Bonapartisten und der Liga (hahaha!) und den bonapartistischen Kreaturen (den neu gebackenen Komitees) das unbedingte Recht auf Teilnahme am Parteitag zugestehen, heißt sich lächerlich machen und sich um jede Achtung bringen. Man kann und soll die Zentralinstanzen einladen, aber ihnen eine beschließende Stimme zuzuerkennen, das ist, ich wiederhole es, Wahnsinn. Natürlich werden die Zentralinstanzen zu unserem Parteitag sowieso nicht kommen, aber wozu soll man ein übriges Mal Anlass geben, angespuckt zu werden? Wozu heucheln und sich verstecken? Das ist geradezu eine Schmach. Wir haben die Spaltung verkündet, wir rufen zu einem Parteitag der Wperjod-Anhänger, wir wollen eine Wperjod-Partei organisieren und brechen, brechen sofort sämtliche Beziehungen mit den Desorganisatoren ab – und uns redet man da von Loyalität, tut so, als ob ein gemeinsamer Parteitag der „Iskra" und des „Wperjod" möglich wäre. Welch eine Komödie! Selbstverständlich wird der erste Tag, die erste Stunde des Parteitages (wenn er stattfindet) diese Komödie zerstreuen, aber bis zum Parteitag wird uns eine derartige Falschheit noch dutzend- und hundertmal Schaden bringen.

Wahrhaftig, ich denke oft, dass neun Zehntel der Bolschewiki wirklich Formalisten sind. Entweder wir werden diejenigen durch eine eiserne Organisation zusammenschließen, die kämpfen wollen, und mit dieser kleinen aber starken Partei werden wir das morsche Monstrum der bunten Elemente der neuen „Iskra" schlagen oder wir werden durch unser Benehmen beweisen, dass wir als jämmerliche Formalisten verdienen, zugrunde zu gehen. Wie Menschen es nicht verstehen können, dass wir vor dem Büro und vor dem „Wperjod" alles getan haben, um die Loyalität zu retten, um die Einheit zu retten, um die formalen, d. h. höheren Methoden zur Beilegung des Konflikts zu retten!?!? Jetzt aber, nach dem Büro, nach dem „Wperjod", ist die Spaltung eine Tatsache. Und nachdem die Spaltung eine Tatsache geworden ist, wurde sichtbar, dass wir materiell um Vieles schwächer sind. Wir müssen noch erst unsere moralische Kraft in eine materielle verwandeln. Die Menschewiki haben mehr Geld, mehr Literatur, mehr Transportmöglichkeit, mehr Agenten, mehr „Namen", mehr Mitarbeiter. Es wäre eine unverzeihliche Kinderei, dies nicht sehen zu wollen. Und wenn wir der Welt nicht das widerwärtige Bild einer vertrockneten und blutarmen alten Jungfer bieten wollen, die auf ihre unfruchtbare moralische Reinheit stolz ist, so müssen wir begreifen, dass wir den Kampf und eine Kampforganisation brauchen. Nur nach langem Kampf und nur unter der Bedingung einer vorzüglichen Organisation kann unsere moralische Kraft sich in eine materielle verwandeln.

Man braucht Geld. Der Plan, den Parteitag in London abzuhalten, ist höchst unsinnig, denn das wird doppelt so viel kosten. Wir können das Erscheinen des „Wperjod" nicht unterbrechen, eine lange Abwesenheit aber wird dazu führen. Der Parteitag muss einfach, kurz, zahlenmäßig nicht groß sein. Es ist ein Parteitag zur Organisierung des Kampfes. Aus allem ist zu ersehen, dass Sie sich in dieser Hinsicht Illusionen machen.

Man braucht Mitarbeiter für den „Wperjod". Wir sind zu wenig. Wenn man nicht zwei, drei ständige Mitarbeiter aus Russland heranzieht, dann hat es auch keinen Zweck, von einem Kampf gegen die „Iskra" zu schwätzen. Man braucht Broschüren und Flugblätter, man braucht sie unumgänglich.

Man braucht junge Kräfte. Ich würde empfehlen, jeden, der sich erlaubt, zu behaupten, dass keine Leute da seien, direkt an die Wand zu stellen. In Russland gibt es eine Unmasse von Leuten, man muss nur weitherziger und kühner, kühner und weitherziger und noch einmal weitherziger und noch einmal kühner unter der Jugend werben, оhne sie zu fürchten. Es ist Kriegszeit. Die Jugend wird den Ausgang des ganzen Kampfes entscheiden, die Studentenjugend und noch mehr die Arbeiterjugend. Lasst alle alten Gewohnheiten der Schwerfälligkeit, des Respekts vor den Titeln usw. Gründet aus der Jugend Hunderte Zirkel von „Wperjod"-Anhängern und spornt sie an, mit aller Kraft zu arbeiten. Erweitert das Komitee um das Dreifache durch die Aufnahme der Jugend, schafft fünf oder zehn Unterkomitees, „kooptiert" jeden ehrlichen und energischen Menschen. Gebt jedem Unterkomitee das Recht, ohne viele Umstände Flugblätter zu schreiben und herauszugeben (kein Unglück, wenn es sich verhaut: wir werden es im „Wperjod" „sanft" korrigieren). Man muss mit ungeheurer Schnelligkeit alle Leute mit revolutionärer Initiative vereinigen und in Bewegung setzen. Habt keine Angst vor ihrem Unvorbereitetsein, zittert nicht wegen ihrer Unerfahrenheit und Unreife. Erstens, wenn ihr es nicht versteht, sie zu organisieren und ihnen einen Anstoß zu geben, werden sie den Menschewiki und den Gapons folgen und durch ihre selbe Unerfahrenheit noch fünfmal mehr Schaden anrichten. Zweitens werden die Ereignisse jetzt in unserem Geiste lehren. Die Ereignisse lehren bereits alle und jeden gerade im Geiste des „Wperjod".

Nur unbedingt organisieren, organisieren und noch einmal organisieren, Hunderte von Zirkeln, die gewöhnlichen (hierarchischen) Komiteetorheiten ganz in den Hintergrund schieben. Es ist Kriegszeit. Entweder überall neue, junge, frische, energische Kampforganisationen für die revolutionäre, sozialdemokratische Arbeit aller Formen, aller Arten und in allen Schichten, oder ihr werdet zugrunde gehen mit dem Ruhm von „Komitee"leuten mit Stempeln.

Ich werde darüber im „Wperjod" schreiben und auf dem Parteitag sprechen. Ich schreibe Ihnen, um wieder und wieder einmal zu versuchen, einen Meinungsaustausch herbeizuführen, um zu erreichen, dass man ein Dutzend junger, frischer Arbeiter- (und anderer) Zirkel mit der Redaktion unmittelbar verbindet, obwohl … obwohl, unter uns sei es gesagt, ich keine Hoffnung auf die Verwirklichung dieser dreisten Wünsche hege. Vielleicht werdet ihr nach zwei Monaten anfragen, damit ich telegraphisch antworte, ob ich mit den und den Änderungen des „Planes" einverstanden sei Ich antworte im Vorhinein, dass ich mit allem einverstanden bin. Auf Wiedersehen auf dem Parteitag.

Lenin

P. S. Man muss sich zur Aufgabe machen, die Zustellung des „Wperjod" nach Russland zu revolutionieren. Propagiert in weitestgehendem Maße Abonnements aus Petersburg. Mögen die Studenten und insbesondere die Аrbeiter zu Dutzenden und Hunderten auf ihre eigenen Adressen abonnieren. Sich heutzutage davor fürchten, ist lächerlich. Alles kann die Polizei niemals abfangen. Die Hälfte oder ein Drittel wird den Bestimmungsort erreichen, und das ist schon sehr viel. Regt diesen Gedanken im erstbesten Zirkel der Jugend an, die wird schon Hunderte eigener Wege nach dem Auslande finden. Gebt mehr Adressen für die Übersendung von Briefen an den „Wperjod", so viel wie möglich.

1 Den Brief an Bogdanow und Gussew schrieb Lenin, nachdem er tags zuvor einen Brief von Litwinоw erhalten hatte. In Litwinows Brief hieß es: „Ich schreibe Ihnen im Auftrage des Büros. Die Deklaration (d. h. die Ankündigung der Einberufung des Parteitages. Die Red.) ist fertiggestellt. Grundsätzlich unterscheidet sie sich nicht von dem Entwurf. Gestritten wurde über die Frage, ob eine Zentrale … Größere Änderungen sind im Entwurf des Parteitagsstatuts vorgenommen. In Punkt 1 sind als vom Parteitag geschaffene Organisationen aufgenommen: der Parteirat, das Zentralkomitee, das Zentralorgan und die Liga; in Punkt 2 sind 8 neue Komitees mit beschließender Stimme aufgezählt. Die Punkte 3 und 4 bleiben unverändert, Punkt 5 ist gestrichen. Punkt 6 und 7 bleiben unverändert. Überall ist das Wort ,ordentlicher' gestrichen. Begründung – man müsse möglichst loyal sein. Loyal gegenüber denen, gegen die gleichzeitig die Fahne der Rebellion (die Deklaration) erhoben wird. Da die Änderungen erheblich sind, so wurde beschlossen, bei Ihnen anzufragen. Wenn Sie einverstanden sind, telegraphieren Sie: Wohlauf, gesund …" (siehe „Proletarskaja Rewoluzija" Nr. 4, Jahrgang 1925). Der „Entwurf des Parteitagsstatuts", von dem in Litwinows Brief die Rede ist, bezieht sich auf die Punkte 1 bis 7 in Lenins Entwurf. Dasselbe meint Lenin, wo er von den Abänderungsvorschlägen zu seinem „Entwurf der Deklaration und des Parteitages" spricht. – Der Plan, den Parteitag in London abzuhalten, gegen den Lenin in diesem Brief polemisiert, stammte von A. Bogdanow. Der Plan ist aber trotzdem angenommen worden, und der Parteitag fand tatsächlich in London statt.

2 Vollendete Tatsache. Die Red.

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