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Wladimir I. Lenin 19051206 Der sterbende Absolutismus und die neuen Organe der Volksmacht

Wladimir I. Lenin: Der sterbende Absolutismus und die neuen Organe der

Volksmacht

[Nowaja Schisn", Nr. 19, 23. November/6. Dezember 1905. Gezeichnet: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 8, Wien-Berlin 1931, S. 546-551]

Der Aufstand wächst. Es wachsen die Ohnmacht, die Hilflosigkeit, die Zersetzung der absolutistischen Regierung Witte. Es wächst, in die Tiefe und in die Breite, die Organisation der verschiedensten Gruppen, Schichten und Klassen des Volkes, die Organisation der revolutionären und die der gegenrevolutionären Kräfte.

Das ist die gegenwärtige Situation. Sie lässt sich mit den Worten ausdrücken: Organisierung und Mobilisierung der Revolution. Dem Seegefecht von Sewastopol folgen auf dem Fuße die Landgefechte von Woronesch und Kiew. Der bewaffnete Aufstand in Kiew macht offenbar noch einen weiteren Schritt vorwärts, den Schritt zur Verschmelzung der revolutionären Armee mit dem revolutionären Proletariat und der revolutionären Studentenschaft. Das bezeugt wenigstens der Bericht der „Rusj" über das Meeting von 16.000 Menschen in der technischen Hochschule in Kiew unter dem Schutz des Pionierbataillons der aufständischen Soldaten.1

Es ist durchaus natürlich, dass unter diesen Umständen sogar die aus tiefster Seele nach einem Kompromiss mit dem Absolutismus strebende liberale Bourgeoisie anfängt, die Geduld und den Glauben an den „großen" Akrobaten Witte zu verlieren und nach links zu schielen, um eine Kraft zu suchen, die fähig wäre, den zu einer unabweisbaren Notwendigkeit gewordenen Umsturz durchzuführen.

Sehr lehrreich ist in dieser Hinsicht die Stellung der „Rusj". Die Zeitung sieht klar, dass die „Ereignisse anfangen zu einer ebensolchen Lawine anzuwachsen wie vor dem 17. Oktober". Und nun wendet sie sich einerseits an dieselben Semstwo-Männer, die nicht weniger Ratlosigkeit, Ohnmacht, Hilflosigkeit gezeigt haben als die absolutistische Regierung. Die „Rusj" fordert die Semstwo-Männer auf, „nicht zu zögern" und „an den heraufziehenden Ereignissen Anteil" zu nehmen, um „dem Ausgang dieser Ereignisse eine milde, möglichst wenig verlustreiche, für das Land möglichst günstige Form zu geben". Anderseits polemisiert dieselbe „Rusj" mit dem „Slowo"2 und erklärt, dass „niemand daran glaubt, dass die gegenwärtige Regierung unter den gegenwärtigen Verhältnissen imstande sei, die Reichsduma einzuberufen". „Jetzt", sagt die „Rusj", „muss man an die Schaffung einer Regierung denken, die imstande wäre, die Duma einzuberufen."

Die liberale Bourgeoisie macht also unter dem Druck des revolutionären Proletariats noch einen Schritt nach links. Gestern sprach sie die Absicht aus, mit Witte zu feilschen, und votierte ihm (auf dem Semstwokongress) ein bedingtes Vertrauen. Heute versiegt das Vertrauen zu Witte, und das Kapital fordert eine neue Regierung. Die „Rusj" macht allen freiheitlichen Parteien den Vorschlag, einen besonderen allgemeinen Volksdeputiertenrat zu schaffen, der zu „einem mächtigen Werkzeug des Drucks auf die Regierung" würde, „wenn diese sich noch (!!) arbeitsfähig zeigen sollte, und schon ein fertiges Organ der Volksmacht wäre, das im Falle der vollen Unfähigkeit und des Zusammenbruchs der Regierung ihre Funktion provisorisch übernehmen könnte".

Das Organ der Volksmacht, das die Funktionen der zusammengebrochenen Regierung vorübergehend übernimmt, nennt man in schlichter und klarer Sprache eine provisorische revolutionäre Regierung. Eine solche Regierung muss eine provisorische sein, denn ihre Vollmachten laufen im Augenblick der Einberufung der das ganze Volk vertretenden konstituierenden Versammlung ab. Eine solche Regierung muss eine revolutionäre sein, denn sie löst die zusammengebrochene Regierung ab; sie löst sie ab, indem sie sich auf die Revolution stützt. Dieser Wechsel selbst kann ausschließlich auf revolutionärem Wege zustande kommen. Eine solche Regierung muss zum „Organ der Volksmacht" werden, die durch das Volk aufgestellten Forderungen überall verwirklichen und die alten „Machtorgane" des Absolutismus und der Schwarzen Hunderte sofort, unverzüglich und allenthalben durch die Organe der Volksmacht ersetzen, d. h. entweder durch die Bevollmächtigten der provisorischen revolutionären Regierung oder durch gewählte Vertreter in allen jenen Fällen, wo Wahlen, natürlich auf der Grundlage der allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Abstimmung, möglich sind.

Wir freuen uns sehr darüber, dass die liberale, monarchistische Bourgeoisie auf die Idee der provisorischen revolutionären Regierung gekommen ist. Wir freuen uns nicht deshalb darüber, weil wir der Meinung sind, die Liberalen seien auf die Seite der Revolution getreten, weil wir plötzlich an ihre Aufrichtigkeit, Standhaftigkeit und Konsequenz glauben. Nein, wir freuen uns deshalb darüber, weil dies ein greifbares und zweifelloses Symptom der Kraft der Revolution ist. Die Revolution ist also eine Macht geworden, wenn sogar die liberale, monarchistische Bourgeoisie die Notwendigkeit erkannt hat, eine provisorische revolutionäre Regierung zu schaffen.

Wir vergessen natürlich nicht, dass es den Liberalen nicht so sehr auf die Errichtung einer solchen Regierung als vielmehr darauf ankommt, dem Absolutismus damit zu drohen, so wie ein Käufer dem Verkäufer droht, in einen anderen Laden zu gehen. Machen sie es billiger, Herr Witte, oder wir gehen zur provisorischen revolutionären Regierung, die, „milde" ausgedrückt, „allgemeiner Deputiertenrat" oder „Volksdeputiertenrat" genannt wird! Nur durch den Wunsch, immer und immer wieder zu handeln, erklärt sich die scheinbare Absurdität und Sinnlosigkeit, dass die „Rusj" die Regierung Witte für unfähig erklärt, die Volksvertreter einzuberufen, und gleichzeitig, in demselben Atemzuge, die Möglichkeit zugibt, dass diese Regierung „sich noch arbeitsfähig erweisen wird".

Nein, ihr Herren Liberalen, die Zeiten sind vorüber, wo eine solche List noch möglich war, wo eine solche Zweideutigkeit noch durchgehen konnte! Das Volk kämpft gegen den Absolutismus, der am 17./30. Oktober die Freiheit versprochen hat, um die Freiheit zu verhöhnen, um die Freiheit zu beschimpfen. Die provisorische revolutionäre Regierung ist das Organ des für seine Freiheit kämpfenden Volkes. Der Freiheitskampf gegen die die Freiheit missachtende Regierung ist (auf einer gewissen Entwicklungsstufe dieses Kampfes) der bewaffnete Aufstand, der auch jetzt in Russland auf der ganzen Linie im Gange ist. Die provisorische revolutionäre Regierung ist ein Organ des Aufstandes, das alle Aufständischen vereinigt und den Aufstand politisch leitet. Wenn man daher von der Möglichkeit und Notwendigkeit einer provisorischen revolutionären Regierung spricht und gleichzeitig die Möglichkeit eines Paktierens mit der alten, abzulösenden Regierung zulässt, so ist man entweder vollkommen konfus oder ein Verräter. Überlegt euch doch die Sache, ihr Herren Publizisten von der „Rusj": sollten sich unter den Anhängern der Revolution wirklich solche Narren finden, die in die provisorische revolutionäre Regierung freiwillig Menschen oder Parteivertreter aufnehmen, die eine „Arbeitsfähigkeit" der alten Regierung in Betracht ziehen und fortfahren, sie über Hintertreppen aufzusuchen und mit ihr zu schachern? Was glaubt ihr wohl: würde die russische Armee dadurch gewonnen oder verloren haben, wenn sie die patriotische Jugend der Mandschurei in ihre Reihen aufgenommen hätte? Sie hätte vermutlich verloren, denn die mandschurischen Patrioten hätten die Russen an die Japaner verraten. Auch das revolutionäre Volk Russlands wird verlieren, wenn die „Patrioten", die monarchistisch gesinnten Patrioten des Geldsacks (d. h. die liberalen Bourgeois), das Volk an Wittes Absolutismus verraten.

Mag für die liberale Bourgeoisie die provisorische revolutionäre Regierung nur eine einfache Drohung gegen den Absolutismus sein. Dem sozialistischen Proletariat, der revolutionären Bauernschaft und allen jenen, die im Kampfe für die Freiheit entschlossen und unwiderruflich auf ihre Seite treten, bedeutet sie eine große, sehr ernste Aufgabe, die mit jedem Tage dringender wird. Die Revolution vom Oktober hat, in Verbindung mit den nachfolgenden militärischen Aufständen, den Absolutismus so sehr geschwächt, dass die Organe der neuen Volksmacht auf dem durch den politischen Streik gelockerten und mit dem Blute der Freiheitskämpfer gedüngten Boden ganz von selbst zu wachsen begannen. Diese Organe sind die revolutionären Parteien und die Kampforganisationen der Arbeiter, der Bauern und der anderen, den revolutionären Kampf wirklich führenden Volkselemente. Diese Organe verwirklichen durch die Tat das Bündnis des sozialistischen Proletariats mit dem revolutionären Kleinbürgertum. Wir müssen jetzt dieses Kampfbündnis erweitern und festigen, formen und zusammenschweißen, damit die Organe der neuen Macht für die herannahende Wiederholung des 17. Oktober gerüstet seien, damit dann alle Freiheitskämpfer in ganz Russland mit einem gemeinsamen Programm der sofortigen politischen Umgestaltung auftreten, damit diese Freiheitskämpfer organisiert, diszipliniert, sich des Zieles klar bewusst seien und alle Verräter, alle Schwankenden, alle Schwätzer von sich fernhalten. Für uns, die Vertreter des sozialistischen Proletariats, ist der bevorstehende demokratische Umsturz nur ein Schritt zu dem großen Ziele des sozialistischen Umsturzes. Dessen eingedenk, werden wir uns niemals mit kleinbürgerlichen Parteien oder Gruppen verschmelzen, auch wenn sie noch so aufrichtig, noch so revolutionär und stark sind. Wir wissen ganz genau, dass der Arbeiter und der kleine Unternehmer auf dem Wege zum Sozialismus unvermeidlich und wiederholt auseinandergehen werden. Aber jetzt werden wir gerade im Interesse des Sozialismus alle Kräfte anwenden, damit sich der demokratische Umsturz schneller, durchschlagender und entschlossener verwirkliche. Zu diesem Zwecke schließen wir ein provisorisches Kampfbündnis mit der ganzen revolutionären Demokratie zur Erringung unseres gemeinsamen nächsten politischen Zieles. Zu diesem Zweck gehen wir, unter strenger Wahrung der Eigenart und Selbständigkeit der Partei, in die Arbeiterdeputiertenräte und in die anderen revolutionären Verbände. Es leben die neuen Organe der Volksmacht! Es lebe das einheitliche, oberste und siegreiche Organ der Volksmacht!

Den radikalen Bourgeois aber werden wir zum Abschied sagen: Ihr Herren schwatzt von Organen der Volksmacht. Die Macht kann nur in der Kraft liegen. In der gegenwärtigen Gesellschaft kann die Kraft nur das bewaffnete Volk mit dem bewaffneten Proletariat an seiner Spitze sein. Wenn die Sympathien für die Freiheit mit Worten bewiesen werden könnten, dann würde man vermutlich sogar die Verfasser des Manifestes vom 17. Oktober für Anhänger der Freiheit halten müssen. Wenn sie aber durch die Tat zu beweisen sind, so kann diese Tat jetzt einzig und allein in der Förderung der Bewaffnung der Arbeiter, in der Mitwirkung an der Organisierung und Festigung einer wahrhaft revolutionären Armee bestehen. Also wählt, ihr Herren: entweder in das Vorzimmer des Herrn Witte, um dort Brosamen der Freiheit zu erbetteln, um gegen Einschränkungen der Freiheit etwas einzutauschen – oder in die „Organe der Volksmacht", in die provisorische revolutionäre Regierung, um rückhaltlos für die ganze Freiheit zu kämpfen. Wählet!

1 Die Mitteilung über das Meeting in Kiew war unter der Überschrift „Zur Verhängung des Belagerungszustandes in Kiew (Aus einem Kiewer Privatbrief)" in Nr. 27 der „Rusj" vom 22. November/5. Dezember 1905 enthalten.

2 Die Polemik der „Rusj", die in Nr. 27 vom 22. November/5. Dezember 1905 erschien, richtete sich gegen einen Artikel Prof. Latkins „Wann denn endlich?" im „Slowo" (Das Wort). Die Zitate auf S. 547 des vorliegenden Bandes sind dem Artikel „Der Allgemeine Deputiertenrat" in Nr. 26 der „Rusj" vom 21. November/4. Dezember 1905 entnommen.

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