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Wladimir I. Lenin 19051010 Die Grundherren über den Boykott der Duma

Wladimir I. Lenin: Die Grundherren über den Boykott der Duma

Proletarij", Nr. 20, 27. September/10. Oktober 1905. Nach Lenin, Sämtliche Werke, Band 8, Wien-Berlin 1931, S. 364-367]

In Nr. 76 des „Oswoboschdjenije" sind kurze Protokolle des Julikongresses der Semstwo-Männer zum Abdruck gebracht. Jetzt, wo die Frage der Taktik gegenüber der Reichsduma die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich lenkt, ist es höchst wichtig, dieses in seiner Art einzigartige Material zu erwähnen, das zeigt, wie gerade die Semstwo-Vertreter und die Oswoboschdjenije-Leute den Boykott beurteilt haben. Niemand zweifelt natürlich daran, dass sie vor dem Friedensschluss, vor dem Erscheinen des Gesetzes über die Duma revolutionärer als heute waren beziehungsweise zu scheinen sich bemühten. Trotzdem ist der Charakter ihrer Argumente für die Prüfung unserer Einschätzung der Frage außerordentlich lehrreich. Denn das ist ja wohl die erste Frage in der politischen Geschichte Russlands, wo die konkreten politischen Schritte sowohl von den oppositionellen als auch den revolutionären Parteien zusammen behandelt werden.

Es ist ganz natürlich, dass die bürgerlichen Demokraten nicht durch das allgemeine Programm ihres Kampfes und auch nicht durch die Interessen bestimmter Klassen dazu gedrängt wurden, die Frage des Boykotts zu stellen, sondern vor allem durch ein unbestimmtes Gefühl der Unbeholfenheit, der Scham angesichts der widerspruchsvollen, schiefen Lage, in die sie geraten. „Wie können wir uns denn an einem Werke beteiligen, das wir heruntergerissen haben?" fragt Herr Schischkow. „Das Volk wird doch denken, wir seien mit dem Projekt solidarisch." Wie man sieht, verknüpfen sich bei diesem Liberalen gleich die ersten Gedanken über den Boykott mit der Frage nach dem Volke; er fühlt instinktiv: in die Duma gehen, heißt gerade im Hinblick auf das Volk etwas nicht ganz Geheures tun. Er kann sich vom Scheine des guten Wunsches, mit dem Volke zusammenzugehen, nicht trennen. Ein anderer Redner, Herr Rajewski, stellt die Frage abstrakter:

Wir standen stets auf prinzipiellem Boden, in der Taktik aber gehen wir auf Kompromisse ein. Es wird so aussehen, als hätten wir zwar das Bulyginsche Projekt verurteilt, aber als wollten wir doch sehr gerne Volksvertreter werden. Wir werden diesen schlüpfrigen Weg nicht betreten."

Das ist natürlich eine kleine Übertreibung des Herrn Rajewski, denn die Oswoboschdjenije-Leute standen nie auf prinzipiellem Boden. Unrichtig ist es auch, die Frage auf die nackte Verneinung des Kompromisses zu reduzieren: revolutionäre Sozialdemokraten, die sich den Geist des Marxismus angeeignet haben, würden natürlich nicht verfehlen, den Redner darauf zu verweisen, dass es lächerlich ist, die vom Leben aufgezwungenen Kompromisse absolut zu verneinen, und dass das Wesen der Sache nicht darin besteht, sondern in der klaren Erkenntnis und der konsequenten Verfolgung der Kampfziele unter allen Umständen. Doch, wir wiederholen, einem bürgerlichen Demokraten ist die materialistische Fragestellung im Innersten fremd. Seine Zweifel sind nur ein Symptom des tiefen Zwiespalts innerhalb der verschiedenen Schichten der bürgerlichen Demokratie.

Der Schönredner, Herr Roditschew, der nach Herrn Rajewski sprach, löst die Frage leicht:

Wir haben seinerzeit gegen die neue Semstwoordnung protestiert, sind aber in die Semstwos gegangen… Wenn wir die Kräfte zur Verwirklichung des Boykotts hätten, würden wir ihn erklären müssen" („fehlen die Kräfte" nicht eben deshalb, Verehrtester, weil die Interessen der Eigentümer dem unwiderruflichen Kampfe gegen den Absolutismus wie den Arbeitern und der Bauernschaft feindlich sind?") … „Die erste Regel der Kriegskunst ist: beizeiten zu fliehen…" (Bei Gott! gerade so sprach der Held des Twerer Liberalismus! Und die Liberalen machen sich noch über Kuropatkin lustig.) „Der Boykott wird dann kommen, wenn wir nach Eintritt in die Duma folgenden ersten Beschluss fassen: ,Wir entfernen uns. Das ist keine wirkliche Regierung, ohne die ihr immerhin schon nicht mehr auskommen könnt. Gebt uns eine wirkliche.' Das wird ein tatsächlicher ,Boykott' sein." (Aber natürlich! zu sagen „gebt!" – kann ,es denn für die Semstwo-Balalaikins1 irgend etwas „wirklicheres" geben? Nicht umsonst lachten sie so fröhlich, als Herr Golowin ihnen erzählte, wie er den Moskauer Gouverneur in seinen Befürchtungen, der Semstwokongress werde sich als konstituierende Versammlung ausrufen, „mühelos umgestimmt" habe.)

Herr Koljubakin sagte:

Die Vorredner haben die Frage so gestellt: ,Entweder in die Bulyginsche Duma gehen oder überhaupt nichts tun'“ (die ,Iskra" stellt die Frage genau so wie diese „Vorredner" des rechten Flügels der monarchistischen Bourgeoisie). „Man muss sich an die Bevölkerung wenden, die in ihrer Gesamtheit gegen die Bulyginsche Duma sein wird… Wendet euch an das Volk, verwirklicht die Rede- und Versammlungsfreiheit in die Tat. Wenn ihr aber in die nutzlose Institution geht, richtet ihr euch zugrunde. Ihr werdet dort eine Minderheit sein, und diese wird in den Augen der Bevölkerung vollkommen abwirtschaften."

In dieser Rede fühlt man wieder den Zusammenhang der Idee des Boykotts mit dem Appell an die Bauernschaft und die Bedeutung dieser Idee als ein Abschwenken vom Zaren zum Volke. Und Herr Schtschepkin beeilt sich, auf die von ihm sehr gut verstandene Rede des Herrn Koljubakin mit großartiger Offenherzigkeit zu erwidern:

Es tut nichts, wenn wir in den Augen des Volkes einen Fehler begehen, wenn wir nur die Sache retten." (…die Sache der Bourgeoisie – hätten dem Redner wahrscheinlich die Arbeiter zugerufen, wenn sie an dieser hohen Versammlung teilgenommen hätten). „Ich bestreite nicht, dass wir vielleicht bald den revolutionären Weg werden betreten müssen. Doch der Entwurf des Büros (der Resolutionsentwurf gegen den Boykott) will das vermeiden, da wir sowohl unserer Erziehung nach als auch in unseren Sympathien" (der Klassenerziehung und den Klassensympathien) „nicht revolutionär sind."

Weise urteilt Herr Schtschepkin! Er versteht besser als alle Neu-Iskristen zusammengenommen, dass hier das Wesentliche nicht in der Wahl der Mittel, sondern in der Verschiedenheit des Ziels liegt. Man muss „die Sache retten", d.h. die Sache der Ordnung; das ist der Kern. Man darf den revolutionären Weg nicht riskieren, denn der kann die Arbeiter und die Bauernschaft zum Siege führen.

Dafür äußert sich der Schönredner und Kannegießer Herr de Roberti ganz, ganz wie ein Neu-Iskrist.

Was tun, wenn der Entwurf dank seiner Untauglichkeit zum Gesetz wird? Einen Aufstand mit der Waffe in der Hand?" (Wie kann man den „Aufstand mit der Duma in Zusammenhang bringen," was fällt Ihnen ein, Herr Roberti!? Wie schade, dass Sie nicht mit unserem Bund bekannt sind, er würde Ihnen erklären, dass man das nicht miteinander in Zusammenhang bringen dürfe.) „Er wird, glaube ich, mit der Zeit unbedingt kommen. Heute aber kann die Gegenwehr entweder einfach passiv sein oder so passiv, dass sie stets bereit ist, in eine aktive überzugehen."

Oh, welch netter Radikaler! Gerade er könnte von der Losung der neuen „Iskra", „revolutionäre Selbstverwaltung", Gebrauch machen, er würde es gewiss verstehen, hier solche Arien zu singen, solche Arien!!!) „…Mandate sind nur jenen zu geben, die entschlossen sind, um jeden Preis den Umsturz zu vollziehen."

Sie werden's euch schon zeigen! Hatten wir etwa Unrecht, als wir sagten. Parvus habe sich mit genau so einem Oswoboschdjenije-Mann gefunden und ihn umarmt? Und die neue „Iskra" habe sich von den schönen Worten der schönrednerischen Grundherren einfangen lassen?

1Schönredner. D. Red.

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