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Wladimir I. Lenin 19050603 Ratschläge der konservativen Bourgeoisie

Wladimir I. Lenin: Ratschläge der konservativen Bourgeoisie

[Proletarij" Nr. 2, 21. Mai/3. Juni 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 420-424]

Vor einigen Wochen fand in Moskau ein zweiter Kongress der Semstwoleute statt. Die russischen Zeitungen dürfen kein Wort über diesen Kongress bringen. Die englischen Blätter wissen eine ganze Reihe von Details mitzuteilen auf Grund der Berichte von Ohrenzeugen, die auf dem Kongress anwesend waren und telegraphisch nicht nur die Beschlüsse des Kongresses, sondern auch den Inhalt der Reden der Vertreter verschiedener Schattierungen melden. Die Quintessenz der Beschlüsse der 132 Semstwovertreter läuft auf die Annahme gerade jenes Entwurfs einer Verfassung hinaus, den Herr Struve veröffentlicht hat, und den wir in Nr. 18 des „Wperjod" („Politische Sophistereien") besprochen haben. Dieser Entwurf sieht ein Zweikammersystem der Volksvertretung unter Beibehaltung der Monarchie vor. Das Oberhaus soll aus Delegierten der Semstwos und der Stadtdumas bestehen, das Unterhaus durch das allgemeine, direkte, gleiche und geheime Wahlrecht gewählt werden. Unsere legalen Zeitungen, die gezwungen sind, über den Kongress Stillschweigen zu bewahren, haben bereits begonnen, ausführliche Angaben über diesen Entwurf zu veröffentlichen, und seine Prüfung gewinnt darum jetzt eine ganz erhebliche Bedeutung.

Was den Semstwokongress selbst anbelangt, so werden wir wahrscheinlich noch mehr als einmal Gelegenheit haben, auf ihn zurückzukommen. Vorläufig wollen wir nur, auf Grund der englischen Zeitungen, ein besonders interessantes Ereignis von diesem Kongress mitteilen: Differenzen oder Spaltung zwischen der „liberalen" oder opportunistischen oder Schipowschen Partei und der „radikalen" Partei. Die Differenzen entstanden wegen des allgemeinen Wahlrechts, von dem die erstgenannte Partei nichts wissen will. Am Sonntag, den 24. April/7. Mai, zeigte sich, dass 52 Mitglieder des Kongresses mit Schipow gingen und bereit waren, im Falle der Anerkennung des allgemeinen Wahlrechts, den Kongress zu verlassen. Am Montag stimmten etwa zwanzig von ihnen zusammen mit der Mehrheit für das allgemeine Wahlrecht. Dann wurde einstimmig eine Resolution über die Einberufung einer konstituierenden Versammlung auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts angenommen, wobei außerdem eine große Mehrheit sich für das direkte Wahlrecht aussprach und dafür, dass (in der konstituierenden Versammlung) die Vertreter der Stadtdumas und der Semstwos ausgeschaltet werden. Also, einstweilen wurden die Schipow-Leute auf dem Semstwokongress besiegt. Die Mehrheit gelangte zu dem Schluss, dass die Beibehaltung der Monarchie und die Abwendung der Revolution nur möglich sei durch die Gewährung des allgemeinen, direkten, gleichen und geheimen Wahlrechts, das durch die indirekten und ungleichen Wahlen in die eine der zwei Kammern unschädlich gemacht wird.

Äußerst lehrreich ist die Bewertung dieses Kongresses und dieses Beschlusses durch die englische konservative Bourgeoisie.

Für uns Ausländer – schreiben die „Times" – ist es ganz unmöglich, die politische Bedeutung dieses bemerkenswerten Kongresses abzuschätzen, bevor wir nicht aus sicheren Quellen wissen, in welchem Maße er auf die Unterstützung der breiten Masse des russischen Volkes rechnen kann. Dieser Kongress kann den Beginn einer wahrhaft konstitutionellen Reform bedeuten; er kann die erste Stufe auf dem Wege zur Revolution sein; er kann ein bloßes Feuerwerk sein, dem gegenüber die Bürokratie sich tolerant verhielt, weil sie weiß, dass es ohne jeden Schaden für sie abbrennen wird."

Eine sehr treffende Charakteristik! In der Tat, der weitere Verlauf der russischen Revolution wird durch ein solches Ereignis, wie dieser Kongress, noch lange nicht bestimmt. Die „Unterstützung der breiten Masse des Volkes" steht noch unter einem Fragezeichen, nicht im Sinne der Tatsache der Unterstützung durch das Volk selbst (seine Unterstützung steht außer Zweifel), als vielmehr im Sinne der Stärke dieser Unterstützung. Sollte die Regierung den Aufstand besiegen, dann wird sich der liberale Kongress eben als bloßes Feuerwerk erweisen. Und die gemäßigten europäischen Liberalen raten selbstverständlich den goldenen Mittelweg an: eine gemäßigte Verfassung, um die Revolution abzuwenden. Allein die Kopflosigkeit der Regierung flößt ihnen Bedenken und Missvergnügen ein. Das Verbot, die Beschlüsse des Kongresses zu publizieren, erscheint den „Times" befremdlich, da ja doch die in ihre Kreise abgereisten Delegierten alle Mittel besäßen, um die ganze russische Gesellschaft von ihren Beschlüssen zu benachrichtigen.

Den Kongress ganz verbieten, die zusammengekommenen Semstwoleute verhaften, ihren Kongress zum Vorwand für eine scheinbare Reform nehmen, alle derartigen Maßnahmen der Regierung wären verständlich. Aber den Semstwoleuten erlauben, zusammenzukommen und auseinanderzugehen, und dann versuchen, ihre Beschlüsse zu verschweigen – das ist schon einfach dumm."

Die Dummheit der zaristischen Regierung, die von ihrer Kopflosigkeit und ihrer Ohnmacht zeugt (denn Kopflosigkeit in einem revolutionären Augenblick ist gerade das untrüglichste Zeichen der Ohnmacht) bereitet dem europäischen Kapital ernsten Kummer (die „Times" sind ein Organ der City, der soliden Finanzmagnaten der reichsten Stadt der Welt). Diese Kopflosigkeit vergrößert die Wahrscheinlichkeit einer wirklichen, siegreichen, alles auf ihrem Wege hinwegfegenden Revolution, die der europäischen Bourgeoisie Schrecken einjagt. Sie schimpft auf den Absolutismus wegen seiner Kopflosigkeit und auf die Liberalen wegen der „Maßlosigkeit" ihrer Forderungen!

Im Verlaufe von fünf Tagen“ – entrüsten sich die „Times – „die Ansichten zu wechseln und extreme Beschlüsse (das allgemeine Wahlrecht) zu fassen und obendrein in einer solchen Frage, über die die erfahrensten gesetzgebenden Versammlungen Europas Bedenken getragen hätten, sich im Verlauf einer ganzen Session zu entscheiden!"

Das europäische Kapital gibt dem russischen den Rat, sich an ihm ein Beispiel zu nehmen. Wir zweifeln nicht, dass dieser Rat willige Ohren finden wird – doch schwerlich früher als nach der Beschränkung des Absolutismus. Gegen den Absolutismus hat sich die europäische Bourgeoisie seinerzeit noch viel „maßloser“, noch viel revolutionärer gewandt als die russische. Die „Nachgiebigkeit" des russischen Absolutismus und die „Maßlosigkeit" des russischen Liberalismus hängt nicht von ihrer Unerfahrenheit ab, wie man das aus der Fragestellung der „Times" folgern könnte, sondern von Bedingungen, die außerhalb ihres Willens liegen, von der internationalen Situation, von der Außenpolitik, und am meisten von jenem Erbstück der russischen Geschichte, das den Absolutismus an die Wand gedrückt und in seinem Schatten Gegensätze und Konflikte angehäuft hat, wie sie in Westeuropa noch nicht dagewesen sind. Die berühmte Festigkeit und Stärke des russischen Zarismus in der Vergangenheit bedingt notwendigerweise die Stärke des revolutionären Ansturmes gegen ihn. Das ist allen Anhängern der allmählichen Entwicklung und allen Opportunisten sehr unangenehm, das jagt selbst vielen Sozialdemokraten aus dem Lager der Chwostisten Schrecken ein, aber – es ist eine Tatsache.

Die „Times" trauern über die Niederlage Schipows. Erst im November sei er das anerkannte Haupt der Reformpartei gewesen! Und jetzt … „so schnell frisst die Revolution ihre eigenen Kinder". Armer Schipow! Eine Niederlage erleiden und sich dazu den Ruf einer Ausgeburt der Revolution zuziehen – wie ungerecht das Schicksal doch ist! Die „Radikalen", die Schipow auf dem Semstwokongress durchfallen ließen, rufen bei den „Times" Entrüstung hervor. Sie halten – zetern entsetzt die „Times" – an den theoretischen Prinzipien des französischen Konvents fest. Die Doktrin der Gleichheit und der Gleichberechtigung aller Bürger, der Souveränität des Volkes usw. – habe sich, „wie die Ereignisse bereits gezeigt haben, als eine der vielleicht verderblichsten erwiesen unter allen Erfindungen der verderblichen Sophistik, die Jean Jacques Rousseau der Menschheit hinterlassen hat". Das sei „der wichtigste Eckstein, die Wurzel des Jakobinismus, dessen Vorhandensein allein schon für das Gedeihen einer gerechten und heilsamen Reform von verhängnisvoller Bedeutung ist".

Die Opportunisten des Liberalismus in rührender Umarmung mit den Opportunisten der Sozialdemokratie in ihrer Vorliebe für die Anwendung dieses Popanzes des „Jakobinismus". In der Epoche der demokratischen Revolution mit dem Jakobinismus schrecken können nur entweder hoffnungslose Reaktionäre oder hoffnungslose Philister.

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