Lenin‎ > ‎1905‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19050816 Der Boykott der Bulyginschen Duma und der Aufstand

Wladimir I. Lenin: Der Boykott der Bulyginschen Duma und der Aufstand

[Proletarij", N. 12, 3./16. August 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 8, 1931, S. 191-200]

Die gegenwärtige politische Lage in Russland sieht so aus: es ist eine baldige Einberufung der Bulyginschen Duma möglich, d.h. einer beratenden Versammlung der Vertreter der Grundherren und der Großbourgeoisie, die gewählt worden sind unter Aufsicht und Mithilfe der Diener der absolutistischen Regierung und auf Grund eines so ausgesprochenen Zensus-, ständischen und indirekten Wahlrechtes, dass es geradezu eine Verhöhnung des Gedankens der Volksvertretung ist. Welche Haltung soll man gegenüber dieser Duma einnehmen? Die liberale Demokratie gibt auf diese Frage zwei Antworten: ihr linker Flügel in Gestalt des „Verbandes der Verbände", d.h. hauptsächlich der Vertreter der bürgerlichen Intellektuellen, ist für einen Boykott dieser Duma, ist dafür, dass man an den Wahlen nicht teilnehme und den Moment zu einer intensiven Agitation für eine demokratische Verfassung auf Grund des allgemeinen Wahlrechts ausnütze. Ihr rechter Flügel in Gestalt des Julikongresses der Semstwo-Männer und der städtischen Funktionäre, oder richtiger: in Gestalt eines bekannten Teiles dieses Kongresses, ist gegen den Boykott, für die Wahlbeteiligung, für das Durchbringen einer möglichst großen Anzahl von Kandidaten in die Duma. Es ist wahr, dass der Kongress in dieser Frage noch keinen Beschluss gefasst und die Angelegenheit bis zum nächsten Kongress verschoben hat, der nach Bekanntwerden der Bulyginschen „Verfassung" telegraphisch einberufen werden soll. Doch hat sich die Meinung des rechten Flügels der liberalen Demokratie schon zur Genüge herausgebildet.

Die revolutionäre Demokratie, d.h. hauptsächlich das Proletariat und seine klassenbewusste Wortführerin, die Sozialdemokratie, ist im Großen und Ganzen unbedingt für den Aufstand. Dieser Unterschied in der Taktik wird vom Organ der liberal-monarchistischen Bourgeoisie, dem „Oswoboschdjenije"1, richtig erfasst, in dessen letzter Nummer (74) einerseits die „offene Propagierung des bewaffneten Aufstands" als „wahnsinnig und verbrecherisch" entschieden verurteilt, anderseits aber der Gedanke des Boykotts als „praktisch fruchtlos" kritisiert und die Überzeugung ausgedrückt wird, dass nicht allein die Semstwo-Fraktion der konstitutionell-„demokratischen“ (lies monarchistischen) Partei, sondern auch der Verband der Verbände „ihre Staatsprüfung bestehen", d.h. den Gedanken des Boykotts aufgeben werden.

Es fragt sich, wie sich die Partei des klassenbewussten Proletariats zur Boykottidee stellen muss und welche taktische Losung sie vor den Volksmassen in den Vordergrund zu rücken hat. Um diese Frage zu beantworten, muss man sich vor allem erinnern, worin das Wesen und die Grundbedeutung der Bulyginschen „Verfassung" besteht: in einer Abmachung des Zarismus mit den Grundherren und den Großbourgeois, die mit Hilfe eines harmlosen, für den Absolutismus ganz unschädlichen schein-konstitutionellen Almosens nach und nach von der Revolution, d.h. von dem kämpfenden Volke abgetrennt und mit dem Absolutismus ausgesöhnt werden sollen. Da unsere ganze konstitutionell-„demokratische" Partei die Erhaltung der Monarchie und ein Oberhaus ersehnt (d.h. sich danach sehnt, dass in der staatlichen Struktur des Landes die politischen Privilegien und die politische Herrschaft der „oberen Zehntausend" von vornherein gesichert bleiben), so unterliegt die Möglichkeit einer solchen Abmachung keinem Zweifel. Ja noch mehr: in dieser oder jener Form ist eine solche Abmachung früher oder später, wenigstens mit einem Teil der Bourgeoisie unvermeidlich, denn sie wird durch die ganze Klassenlage der Bourgeoisie in der kapitalistischen Ordnung bedingt. Die Frage ist nur, wann und wie diese Abmachung zustande kommen wird, und die ganze Aufgabe der Partei des Proletariats besteht darin, den Moment des Abschlusses möglichst hinauszuschieben, die Bourgeoisie möglichst zu spalten, aus den vorübergehenden Appellen der Bourgeoisie an das Volk einen möglichst großen Nutzen für die Revolution zu ziehen und in dieser Periode die Kräfte des revolutionären Volkes (des Proletariats und der Bauern) zum gewaltsamen Sturz des Absolutismus und zur Beiseiteschiebung, zur Neutralisierung der verräterischen Bourgeoisie zu sammeln.

Das Wesen der politischen Lage der Bourgeoisie besteht eben, wie wir bereits wiederholt nachgewiesen haben, in Wirklichkeit darin, dass sie zwischen dem Zaren und dem Volke steht, in dem Bestreben, die Rolle des ehrlichen Maklers zu spielen und hinter dem Rücken des kämpfenden Volkes zur Macht zu schleichen. Deshalb wendet sich die Bourgeoisie heute an den Zaren, morgen an das Volk; an jenen mit dem „ernstgemeinten, sachlichen" Vorschlag eines politischen Schachers, an dieses mit leeren Phrasen über die Freiheit (die Reden des Herrn I. Petrunkjewitsch auf dem Julikongress). Für uns ist es von Vorteil, wenn sich die Bourgeoisie an das Volk wendet, denn dadurch liefert sie Material für die politische Aufrüttelung und politische Aufklärung so rückständiger und so breiter Massen, dass es einstweilen die reinste Utopie wäre, sie durch die sozialdemokratische Agitation erfassen zu wollen. Mag die Bourgeoisie die Rückständigsten aufrütteln, mag sie den Boden allenthalben auflockern – wir werden in diesen Boden unermüdlich den sozialdemokratischen Samen säen. Überall im Westen war die Bourgeoisie durch den Kampf gegen den Absolutismus gezwungen, das politische Selbstbewusstsein des Volkes zu wecken, wobei sie zugleich bestrebt war, den Samen der bürgerlichen Theorien in der Arbeiterklasse auszustreuen. Unsere Sache ist es, die Zerstörungsarbeit der Bourgeoisie gegenüber dem Absolutismus auszunutzen und die Arbeiterklasse unermüdlich über ihre sozialistischen Aufgaben, über die Unversöhnlichkeit ihrer Interessen mit den Interessen der Bourgeoisie aufzuklären.

Daraus geht klar hervor, dass unsere Taktik im gegenwärtigen Moment in erster Linie in der Unterstützung der Idee des Boykotts bestehen muss. Die Boykottfrage selbst ist eine innere Angelegenheit der bürgerlichen Demokratie. Die Arbeiterklasse ist daran nicht unmittelbar interessiert, aber unbedingt interessiert ist sie an der Unterstützung jenes Teiles der bürgerlichen Demokratie, der revolutionärer ist, und interessiert ist sie an der Erweiterung und Zuspitzung der politischen Agitation. Der Boykott der Duma ist ein verstärkter Appell der Bourgeoisie an das Volk, bedeutet die Entfaltung ihrer Agitation, die Vermehrung der Gelegenheiten für unsere Agitation und die Vertiefung der politischen Krise, d.h. der Quelle der revolutionären Bewegung. Die Beteiligung der liberalen Bourgeoisie an der Duma bedeutet eine Schwächung ihrer augenblicklichen Agitation, bedeutet, dass sie sich mehr an den Zaren als an das Volk wendet und dass ein konterrevolutionärer Pakt zwischen dem Zaren und der Bourgeoisie auf dem Wege ist.

Unstreitig wird die Bulyginsche Duma selbst, auch wenn sie nicht „gesprengt" wird, in der Zukunft unvermeidlich politische Konflikte herbeiführen, die das Proletariat unbedingt wird ausnutzen müssen. Aber das ist eine Frage der Zukunft. Es wäre lächerlich, sich zu „verreden", diese Duma der Bourgeoisie und der Bürokratie jemals zu Zwecken der Agitation und des Kampfes auszunutzen; aber darum handelt es sich jetzt nicht. Jetzt hat der linke Flügel der bürgerlichen Demokratie selbst die Frage des offenen und unmittelbaren Kampfes gegen die Duma durch den Boykott aufgeworfen, und wir müssen alle Kräfte daransetzen, um bei diesem entschiedeneren Angriff nachzuhelfen. Wir müssen die bürgerlichen Demokraten, die Leute vom Oswoboschdjenije, beim Worte fassen: wir müssen ihre Phrasen „à la Petrunkjewitsch“ über den Appell an das Volk so weit wie möglich verbreiten und sie vor dem Volke enthüllen, indem wir ihm zeigen, dass die erste und allergeringste Erprobung dieser Phrasen gerade in der Frage liegt, ob die Duma boykottiert werden, d.h. ob man sich mit dem Protest an das Volk wenden soll, oder ob die Duma hingenommen werden, d.h. ob man auf den Protest verzichten, noch einmal zum Zaren gehen und sich diesen Hohn auf eine Volksvertretung gefallen lassen soll.

Wir müssen dann, zweitens, alles daran setzen, damit der Boykott einen realen Nutzen im Sinne der Erweiterung und Vertiefung der Agitation bringe und nicht auf eine einfache, passive Wahlenthaltung beschränkt bleibe. Dieser Gedanke ist, wenn wir nicht irren, unter den in Russland wirkenden Genossen ziemlich verbreitet; diese fassen ihre Gedanken in die Worte zusammen: aktiver Boykott. Im Gegensatz zum passiven Fernbleiben muss der aktive Boykott bedeuten: eine Verzehnfachung der Agitation, die Abhaltung von Versammlungen überall und allerorts, die Ausnutzung der Wählerversammlungen, sei es auch durch gewaltsames Eindringen in dieselben, das Veranstalten von Demonstrationen, politischen Streiks usw. usw. Es versteht sich von selbst, dass zum Zwecke der Agitation und des Kampfes vorübergehende Abmachungen mit diesen oder jenen Gruppen der revolutionären bürgerlichen Demokratie, wie sie auf Grund einer Reihe von Beschlüssen unserer Partei allgemein zulässig sind, aus diesem Anlass besonders zweckmäßig sind. Dabei müssen wir einerseits unverwandt den Klassencharakter der Partei des Proletariats wahren und dürfen keinen Augenblick die sozialdemokratische Kritik an unseren bürgerlichen Verbündeten unterlassen. Anderseits würden wir unsere Aufgabe als Partei der fortgeschrittensten Klasse nicht erfüllen, wenn wir es nicht verstünden, in der Agitation die im gegebenen Augenblick revolutionärste Losung der demokratischen Revolution in den Vordergrund zu rücken.

Darin besteht unsere dritte unmittelbare und nächstliegende politische Aufgabe. „Aktiver Dumaboykott" bedeutet, wie gesagt, Agitation, Werbung, Organisation der revolutionären Kräfte in vergrößertem Maßstab, mit doppelter Energie, unter dreifachem Druck. Aber eine solche Arbeit ist ohne eine klare, genaue, unumwundene Losung undenkbar. Diese Losung kann bloß der bewaffnete Aufstand sein. Die Einberufung einer grob verfälschten „Volksvertretung" durch die Regierung gibt ausgezeichnete Anlässe zur Agitation für eine wirkliche Volksvertretung, zur Aufklärung der breitesten Massen darüber, dass diese wirkliche Vertretung jetzt (nach diesem Betrug und dieser Verhöhnung des Volkes durch den Zaren) nur von einer provisorischen revolutionären Regierung einberufen werden kann, zu deren Einsetzung der Sieg des bewaffneten Aufstands, der faktische Sturz der zaristischen Regierungsmacht erforderlich ist. Einen besseren Moment für eine breite Agitation für den Aufstand kann man sich nicht denken, und eine solche Agitation erfordert unbedingt auch eine vollkommene Klarheit über das Programm der provisorischen revolutionären Regierung. Dieses Programm müssen die von uns schon früher (Proletarij", Nr. 7, „Revolutionäre Armee und revolutionäre Regierung") aufgezeichneten sechs Punkte sein: 1. Einberufung einer vom ganzen Volke gewählten konstituierenden Versammlung; 2. Bewaffnung des Volkes; 3. politische Freiheit und sofortige Abschaffung aller Gesetze, die in Widerspruch zu ihr stehen; 4. vollkommene kulturelle und politische Freiheit für alle unterdrückten und nicht voll berechtigten Völkerschaften; das russische Volk kann sich nicht die Freiheit erobern, wenn es nicht für die Freiheit der anderen Völkerschaften kämpft; 5. Achtstundentag; 6. Gründung von Bauernkomitees zur Unterstützung und Durchführung aller demokratischen Reformen, auch der Agrarreformen, einschließlich der Beschlagnahme des Großgrundbesitzes.

Also: tatkräftigste Unterstützung der Boykottidee; Entlarvung des Verrates des rechten Flügels der bürgerlichen Demokratie, der den Boykott ablehnt; Verwandlung dieses Boykotts in einen aktiven, d.h. Entfaltung der breitesten Agitation; Propaganda des bewaffneten Aufstandes; Aufruf zur sofortigen Organisation von Gruppen und Abteilungen einer revolutionären Armee zum Sturz des Absolutismus und zur Bildung einer provisorischen revolutionären Regierung; Verbreitung und Erläuterung des grundlegenden und unbedingt verbindlichen Programms dieser provisorischen revolutionären Regierung, das das Banner des Aufstandes und ein Beispiel für alle bevorstehenden Wiederholungen der Odessaer Ereignisse sein muss.

Das muss die Taktik der Partei des klassenbewussten Proletariats sein. Um diese Taktik ganz zu erfassen und ihre Einheitlichkeit zu erzielen, müssen wir noch bei der Taktik der „Iskra" verweilen. Sie ist in Nr. 106 in dem Aufsatz „Verteidigung oder Angriff?" dargestellt. Ohne uns bei den geringfügigen und teilweisen Meinungsverschiedenheiten aufzuhalten, die bei dem ersten Versuch, zur Tat überzugehen, von selbst fortfallen werden, wollen wir die grundsätzliche Meinungsverschiedenheit vermerken. Indem die „Iskra" den passiven Boykott mit Recht verurteilt, stellt sie ihm den Gedanken der sofortigen „Organisierung einer revolutionären Selbstverwaltung" als „eventuellen Prolog des Aufstandes" gegenüber. Wir müssen, nach der Meinung der „Iskra", „uns das Recht der Wahlagitation durch Gründung von Agitationskomitees der Arbeiter erobern". Diese Komitees „müssen es sich zum Ziele setzen, die Wahl revolutionärer Volksbeauftragter durch das Volk außerhalb jenes gesetzlichen Rahmens zu organisieren, der durch die Bestimmung der Regierungsvorlagen festgesetzt sein wird", wir müssen „das ganze Land mit einem Netz von Organen der revolutionären Selbstverwaltung überziehen".

Eine solche Losung ist nichts wert. Vom Standpunkt der politischen Aufgaben überhaupt ist sie an sich ein Mischmasch, und vom Standpunkt der gegebenen politischen Lage gießt sie Wasser auf die Mühle der Oswoboschdjenije-Richtung. Die Organisierung der revolutionären Selbstverwaltung und der Wahl von Volksbeauftragten ist nicht der Prolog, sondern der Epilog des Aufstandes. Sich die Verwirklichung dieser Organisation jetzt vor dem Aufstande und ohne Zusammenhang mit dem Aufstande zum Ziele setzen, heißt sich ein sinnloses Ziel setzen und in das Bewusstsein des revolutionären Proletariats Verwirrung hinein tragen Es gilt zunächst, im Aufstand (wenn auch nur in einer einzelnen Stadt) zu siegen und eine provisorische revolutionäre Regierung zu errichten, damit diese als Organ des Aufstandes, als anerkannte Führerin des revolutionären Volkes die Organisierung der revolutionären Selbstverwaltung in Angriff nehmen kann. Die Losung des Aufstandes durch die Losung der Organisierung einer revolutionären Selbstverwaltung zu eskamotieren oder auch nur hinauszuschieben, ist etwas Ähnliches, wie der Ratschlag, eine Fliege zu fangen und sie dann aufs Fliegenpapier zu setzen. Hätte man den Odessaer Genossen in den denkwürdigen Odessaer Tagen geraten, als Prolog zum Aufstand nicht eine revolutionäre Armee, sondern die Wahl von Volksbeauftragten durch das Odessaer Volk zu organisieren, so hätten die Odessaer Genossen einen solchen Vorschlag natürlich ausgelacht. Die „Iskra" wiederholt den Irrtum der Ökonomisten, die „im Kampfe für die Rechte" einen Prolog zum Kampfe gegen den Absolutismus sehen wollten. Die „Iskra" kehrt zu den Fehlschlüssen des unglückseligen „Planes der Semstwokampagne" zurück, der die Losung des Aufstandes durch die Theorie eines „höheren Demonstrationstypus" verdunkelte.

Es ist hier nicht der Ort, bei der Quelle dieses taktischen Irrtums der „Iskra" zu verweilen; wir verweisen alle, die sich dafür interessieren, auf die Broschüre N. Lenins: „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution." Wichtiger ist hier, darauf hinzuweisen, wieso die neu-iskristische Losung auf die Losung der Oswoboschdjenije-Leute hinausläuft. In der Praxis werden die Versuche, vor dem Sieg des Aufstandes die Wahl von Volksbeauftragten zu organisieren, ganz und gar den Oswoboschdjenije-Leuten gelegen kommen und dahin ausarten, dass die Sozialdemokraten ins Schlepptau dieser Leute geraten. Solange der Absolutismus nicht durch eine provisorische revolutionäre Regierung ersetzt ist, wird er die Arbeiter und das Volk keine Wahl vornehmen lassen, die irgendwie die Bezeichnung Volkswahl verdienen würde (und auf die Komödie von „Volks"wahlen unter dem Absolutismus wird sich die Sozialdemokratie nicht einlassen); aber die Oswoboschdjenije-Leute, die Semstwo-Männer und die Mitglieder der Stadtverwaltungen werden die Wahlen vornehmen und sie ohne weiteres für „Volks"wahlen, für die Wahl einer „revolutionären Selbstverwaltung" ausgeben. Die ganze Position der liberal-monarchistischen Bourgeoisie besteht jetzt in den Versuchen, den Aufstand zu vermeiden, den Absolutismus zu zwingen, die Semstwo-Wahlen ohne den Sieg des Volkes über den Zarismus als Volkswahlen anzuerkennen und die Selbstverwaltung der Städte und der Semstwos ohne wirkliche Revolution für eine „revolutionäre Selbstverwaltung" (im Sinne von Petrunkjewitsch) auszugeben. In Nr. 74 des „Oswoboschdjenije" wird diese Position ausgezeichnet zum Ausdruck gebracht. Man kann sich kaum etwas Widerwärtigeres vorstellen als diesen Ideologen einer feigen Bourgeoisie, der beteuert, dass die Propaganda des Aufstandes sowohl die Armee als auch das Volk „demoralisiere"! Das wird zu einer Zeit gesagt, wo selbst ein Blinder sieht, dass der Kleinbürger und der Soldat in Russland sich einzig und allein durch den Aufstand vor der endgültigen Demoralisierung retten und ihr Recht behaupten können, Staatsbürger zu sein! Der bürgerliche Manilow malt sich eine arkadische Idylle aus, wo unter dem Druck der „öffentlichen Meinung" allein „die Regierung gezwungen sein wird, immer neue und neue Zugeständnisse zu machen, bis sie schließlich nicht mehr weitergehen können und gezwungen sein wird, die Macht an die konstituierende Versammlung abzutreten, die auf Grund des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Stimmrechtes gewählt sein wird, wie das die Gesellschaft fordert" (! mit einem Oberhaus?). „In diesem friedlichen (!!) Übergang der Macht von der jetzigen Regierung an die gesamtnationale konstituierende Versammlung, die die Staats- und Regierungsgewalt auf neuer Grundlage organisiert, liegt absolut nichts Unwahrscheinliches." Und diese geniale Philosophie der kriecherischen Bourgeoisie wird durch den Ratschlag ergänzt, die Armee, insbesondere die Offiziere, für sich zu gewinnen, aus eigener Initiative und eigenmächtig eine Volksmiliz zu schaffen, Organe der lokalen Selbstverwaltung (lies: der Gutsbesitzer und Kapitalisten) als „Elemente der künftigen provisorischen Regierung" ins Leben zu rufen.

In diesem Wirrwarr steckt ein Sinn. Die Bourgeoisie möchte nämlich nichts anderes, als dass die Macht „friedlich", ohne Volksaufstand auf sie übergehe; denn der Aufstand könnte am Ende gar siegen, die Republik und eine wirkliche Freiheit erringen, das Proletariat bewaffnen und die Millionen Bauern aufwiegeln. Die Losung des Aufstandes vertuschen, sich von ihm abwenden und den andern davon abraten, die sofortige Organisierung einer Selbstverwaltung (die bloß den Trubezkoi, Petrunkjewitsch, Feodorow und Komp. zugänglich ist) als „Prolog" anraten – das ist es nämlich, was für den bürgerlichen Verrat an der Revolution, für den Pakt mit dem Zaren (Monarchie und Oberhaus) gegen das „gemeine Volk" notwendig ist. Die liberale Manilowerei verrät so die geheimsten Gedanken und die tiefsten Interessen des Geldsacks.

Die sozialdemokratische Manilowerei der „Iskra" offenbart lediglich den Schwachsinn eines Teiles der Sozialdemokraten und ihre Abweichung von der einzigen revolutionären Taktik des Proletariats: erbarmungslos die bürgerlich-opportunistischen Illusionen bloßzulegen, dass friedliche Zugeständnisse des Zarismus möglich, dass eine Selbstverwaltung ohne Sturz des Absolutismus zu verwirklichen und dass Wahlen von Volksbeauftragten als Prolog zum Aufstand möglich seien. O nein, wir müssen klar und entschlossen die Notwendigkeit des Aufstandes angesichts der jetzigen Sachlage beweisen, direkt zum Aufstand aufrufen (ohne natürlich von vornherein seinen Zeitpunkt festzulegen) und zur sofortigen Organisierung einer revolutionären Armee auffordern. Nur die kühnste, breiteste Organisierung einer solchen Armee kann der Prolog zum Aufstand sein. Nur der Aufstand kann wirklich den Sieg der Revolution sichern, wobei natürlich derjenige, der mit den lokalen Verhältnissen vertraut ist, stets vor vorzeitigen Aufstandsversuchen warnen wird. Die wirkliche Organisation einer wirklichen Selbstverwaltung wirklich durch das Volk, kann nur der Epilog des siegreichen Aufstandes sein.

1 Die zitierten Worte sind dem mit „Oswoboschdenjetz" (Oswoboschdjenije-Anhänger) unterzeichneten Artikel „Unsere Stellung zur Frage des bewaffneten Aufstandes. Ein Brief an den Redakteur des .Oswoboschdjenije'" in Nr. 74 des „Oswoboschdjenije" vom 13./26. Juli 1905 entnommen. Hinweise auf diesen Artikel sind auch in den Artikeln „Die Schwarzen Hunderte und die Organisierung des Aufstandes" und „Im Schlepptau der monarchistischen Bourgeoisie oder an der Spitze des revolutionären Proletariats und Bauerntums?" enthalten. Das auf Seite 200 angeführte Zitat aus dem „Oswoboschdjenije", das die sozialdemokratische „Manilowerei" der Neu-Iskristen mit der „liberalen Manilowerei" vergleicht ist ebenfalls diesem Artikel entnommen.

Kommentare